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Die zierliche Nachbarin
Serge Chopard stand vor den Regalen mit Eau de Toilette, überlegend, ob er mal eine andere Marke ausprobieren soll. Links neben ihm war eine Spiegelwand. Als sein Blick diese flüchtig streifte, blieb er an der Spiegelung haften. Er kannte die Frau, welche schräg gegenüber vor den Parfüms stand, ihm seitlich zugewandt. Es war eine Nachbarin. In dem einen Jahr, seit er in Cimiez wohnte, war er ihr nicht oft begegnet. Durch ihre zierliche Erscheinung und die stets modisch-elegante Kleidung, war sie ihm sehr angenehm aufgefallen. Er wagte jedoch nie mehr als einen Gruss auszusprechen. Wie er wusste, lebte sie allein, und Besucher die bei ihr verkehrten, waren ihm keine aufgefallen. Sie wandte sich ab und verschwand aus seinem Blickwinkel. Galeries Lafayette präsentiert auf sechs grossflächigen Etagen ein reichhaltiges Warenhausangebot.
An der Kasse hatte er eben bezahlt, als er wieder auf seine Nachbarin aufmerksam wurde. Ibrahim, einer der Warenhausdetektive, schritt, seine Nachbarin gewaltsam am Arm festhaltend, auf den Personaldurchgang zu. Er wusste, was dies bedeutete, sie musste bei einem Diebstahl ertappt worden sein. Diese Vorstellung erschreckte ihn. Instinktiv, ohne Überlegung, eilte er ihnen nach. Er erreichte die Türe erst, nachdem sie bereits zugeschlagen war, sodass er erst seine Personalkarte an den elektronischen Türöffner halten musste.
«Hallo Liebling, was ist passiert?», rief er ihnen hinterher, knapp, bevor sie den Lift in die Verwaltungsdirektion bestiegen. Ibrahim, der ihn kannte, schaute ihn konsterniert an. «Gehört sie zu Ihnen?», fragte er. «Ja, es ist meine Frau», bemerkte Chopard. Seine Nachbarin sagte kein Wort, verfolgte das kurze Gespräch jedoch aufmerksam.
Im Büro gab er ihren Vornamen mit Geneviève an. Sie schwieg beharrlich. Dabei wusste er, dass sie Claire hiess, Claire Lalive. In den Akten wurde sie unter dem Namen Geneviève Chopard festgehalten. Es war der Name seiner geschiedenen Frau. Wieso er dies tat, war ihm selbst nicht klar, doch ein Zurück gab es nun nicht mehr.
Den Strafbetrag bezahlte er und gab an, seine Frau sei in Behandlung. Damit verhinderte er, dass die Polizei zugezogen wurde, wie es üblich war. Ein Hausverbot wurde trotzdem über sie verhängt. Er entschuldigte sich für seine vorgebliche Frau vielmals. Der Warenhausdetektiv und der Verwaltungsdirektor sahen ihn nur ernst an, es würde einen Vermerk in seiner Personalakte zur Folge haben.
Über den Personalausgang führte er sie hinaus in eine kleine Seitenstrasse. Draussen entfernte sie sich wortlos mit schnellen Schritten in Richtung Place Masséna, ihn einfach stehen lassend.
Nach dem Nachtessen wollte er es sich im Wohnzimmer bequem machen, als es klingelte. Frau Lalive stand vor der Türe. «Haben Sie Zeit für mich?» Ihr Auftreten wirkte, als ob sie gute Bekannte wären. Er führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr einen Platz auf der Couch an. «Da Sie mir vor einigen Tagen so freundlich beistanden», meinte sie charmant lächelnd und überreichte ihm, einer grossen Tasche entnehmend, eine Flasche Wein.
Ihr Lächeln vermittelte ihm ein warmes Gefühl, etwas Engelhaftes schien ihm von ihr auszugehen. Er bedankte sich höflich.
An der Etikette sah er, dass es sich um einen erlesenen Tropfen handelte. Zwei Gläser einschenkend, brachte er zugleich das Gespräch behutsam auf das Geschehen im Warenhaus. «Ich kann mir nicht erklären, wie Sie in eine solche Situation kommen konnten. Es handelte sich doch sicher nur um eine Unachtsamkeit?»
Sie schaute ihn völlig unbefangen an. «Es war tatsächlich ein Missverständnis. Ich hatte die Packung in die Manteltasche geschoben, damit ich die Hände frei habe, um mir noch weitere Parfüms anzusehen. Dies war ein Fehler, ich hätte es erst am Schluss nehmen sollen. Dieser ungehobelte Angestellte wurde jedoch ziemlich ausfallend und akzeptierte meine Erklärung nicht, obwohl ja nichts geschehen war. Hätte ich Widerstand geleistet, wäre er wohl nur noch aggressiver und die Situation noch unwürdiger geworden. So zog ich es vor, die falsche Anschuldigung zu erdulden um es dann mit seinem Vorgesetzten zu klären.»
Wie sie ihn so treuherzig ansah, verschwand der Anflug des Zweifels, welcher ihn nach dem Vorfall beschlich. Er war verunsichert gewesen, ob Ibrahims Ehrgeiz übergeschwappt war oder sie das Haus wirklich diskret ohne Bezahlung verlassen wollte. Doch er konnte es sich nicht vorstellen. Sie ist eine kultivierte Dame, die sich wahrscheinlich noch nicht mal einen Strafzettel wegen unerlaubten Parkierens zuschulden kommen liess. Und dies will in Nizza etwas heissen. «Ich glaube Ihnen», meinte er entschieden. «Nein», verbesserte er sich, «ich bin von Ihrer Unschuld überzeugt».
Sie blickte ihn nur mit grossen Augen an.
«Gleich morgen werde ich mit den zuständigen Leuten nochmals sprechen, dass es sich nicht um einen Diebstahl, sondern um ein Versehen handelte. Es kann nicht sein, dass dieser beleidigende Vorwurf Ihnen gegenüber unwidersprochen und aufrechterhalten bleibt. Es wäre allerdings besser gewesen, wir hätten dies gleich vor Ort geklärt.»
«Aber ich konnte doch nicht. Nachdem Sie mich als Ihre Frau vorstellten, war ich in einer unmöglichen Situation. Wäre diese Lüge aufgedeckt worden, hätten wir beide ernsthafte Schwierigkeiten gehabt. So hatte ich nur noch den Wunsch möglichst rasch wegzukommen.»
Chopard war über ihre Worte erschrocken, die Tragweite seines spontanen Handelns wurde ihm erst jetzt bewusst. Sie hatte Recht, es war sein Verhalten, das sie erst in eine ausweglose Situation brachte. «Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen solche Schwierigkeiten bereitete. Auch, dass ich Sie als meine Frau ausgab.» Er war sichtlich betroffen.
«Ich rechne es Ihrer Gutmütigkeit zu, dass Sie sich zu so etwas hinreissen liessen, als Sie mich in dieser unseligen Situation erblickten. Aber überlegt war es nicht. Ich war schockiert, als Sie erwähnten, ich wäre Ihre Frau. Aber zugleich spürte ich, dass Sie mich beschützen wollten.» Ein kurz tadelnder Ausdruck ihrer Mimik wich wieder einem Lächeln. «Da es glimpflich ausging, verzeihe ich Ihnen. Dennoch ist es unhaltbar, eine Dame in eine solche Lage zu bringen.»
Chopards Schuldgefühl verstärkte sich noch, als sie erwähnte, dass er sie schockiert hatte. Gerade ihr gegenüber, hätte er sich alles andere gewünscht. «Es tut mir wirklich sehr leid, ich wollte Sie in keiner Form beleidigen. Ich würde alles tun, um dies ungeschehen zu machen.»
«Beleidigt, nein das bin ich nicht. Aber eine Frau schätzt es überhaupt nicht, wenn Männer meinen, man könne einfach über sie entscheiden. Aber ich denke, wir vergessen dies einfach.» Auf die Uhr schauend, erhob sie sich. «Ich muss jetzt auch wieder gehen.»
Am nächsten Tag suchte er den Verwaltungsdirektor auf. Es brauchte eine enorme Hartnäckigkeit von ihm, sein Anliegen durchzusetzen, umso mehr er ja erwähnte, seine Frau wäre in Behandlung. Trotzdem beharrte er darauf, es wäre ein Missverständnis gewesen. Er habe sowohl mit seiner Frau als auch mit ihrem Therapeuten gesprochen. Der Verwaltungsdirektor gab schliesslich nach. Die Akte über den Vorfall werde vernichtet und der Eintrag im Personaldossier, welcher noch nicht erfolgt ist, sei damit hinfällig. Ein Hausverbot für Geneviève Chopard wurde ebenso aufgehoben.
Als er am nächsten Abend nach Hause kam, stellte er seine Sachen ab und verliess dann nochmals die Wohnung. Einen Stock höher klingelte er bei Frau Lalive. Sie reagierte erst nach dem zweiten Klingeln, die Tür nur einen Spalt öffnend und herausspähend.
«Ich habe gute Nachrichten», sagte er zur Begrüssung. Erst zögerte sie, doch dann öffnete sie die Türe ganz und liess ihn vorbei. Sie führte ihn in ein modern eingerichtetes Wohnzimmer.
Er berichtete ihr ausführlich von seinem Gespräch mit dem Verwaltungsdirektor. Dass sie dies fröhlich stimmte, gab ihm die Hoffnung, dass sie ihm seinen Fehler endgültig verzeihen könnte. Als sie kurz austrat, um eine Flasche Wein zu holen, schweifte sein Blick durch den Raum. Die Ausstattung ist geschmackvoll, vom Preis her eher eine gehobene Klasse. Es passt zu ihr, dachte er mit wohligem Gefühl. Sie ist wirklich eine Dame aus gutem Haus.
Beim Abschied bemerkte er eine kleine farbige Figur auf einer Anrichte, welche vorher nicht in seinem Blickfeld lag. Es war unverkennbar ein Stück von Niki de Saint Phalle. Er besass selbst ein gleiches Stück, welches er aus zweiter Hand einst günstig erwarb. Claire, sie erlaubte ihm sie so zu nennen, wartete bereits an der offenen Wohnungstür.
In Gedanken an die Statue von Niki de Saint Phalle kehrte er beschwingt in seine Wohnung zurück. Es ist doch schon Vorsehung, dass ich Claire begegnet bin und sie an gleicher Kunst wie ich interessiert ist.
Da wo seine Niki de Saint Phalle stehen sollte, war der Platz verwaist. Unmöglich, dachte er, ich habe sie doch nicht weggeräumt. Vergangene Woche wischte ich dort noch Staub. Natürlich nahm er sie schon lange nicht mehr ständig wahr. In den Jahren ihres Eigentums, war sie längst ins vertraute Inventar übergegangen, dass er nicht mehr detailliert beachtete. Er überlegte, ob er die Figur anderswo platzierte, doch sie blieb verschwunden.
Der einzige Besucher in den letzten Wochen war Claire gewesen. Nein das ist unmöglich. Er weigerte sich einen solchen Gedanken überhaupt in Erwägung zu ziehen. Einen derart gravierenden Fehler werde ich ihr gegenüber nicht noch einmal begehen. Jetzt wo wir uns endlich näher gekommen sind.