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Die zauberkräftige Flöte
ein Märchen von Brigitte Haddy
Es war einmal ein wohlhabender Müller, der hatte einen einzigen Sohn, der eines Tages, wenn er selber alt wäre, die Mühle übernehmen sollte. Schon frühzeitig zeigte er dem Knaben alles, was ein Müller tun und können muß, und dieser schaute und hörte gut zu.
Eines Tages bat der Sohn: „Vater, kaufe mir doch eine Flöte, ich möchte so gern musizieren!“ Der Müller, als er das nächste Mal ins Städtchen ging, kaufte eine Flöte für seinen Sohn, denn er war immer brav gewesen und hatte eine Belohnung verdient.
Aber ach! Von nun an zeigte dieser kein Interesse mehr an der Mühle. Den ganzen Tag saß er auf einer Bank oder auf der Wiese und übte auf seiner Flöte, und schon bald vermochte er die schönsten Melodien zu spielen. Die erfreuten zwar das Ohr des Müllers, aber es machte ihm auch Kummer und Ärger, daß die Mühle nun seinem Sohn nichts mehr bedeutete. Oft mahnte er ihn, doch die Flöte beiseite zu legen und sich ums Müllerhandwerk zu kümmern. Dann arbeitete der Sohn eine Stunde in der Mühle, aber bald zog es ihn wieder zu seiner Flöte, und er ging hinaus und machte Musik.
Als er einmal auf einem umgestürzten Baum am Wege saß und auf seiner Flöte spielte, kam ein alter Mann daher. Er war zerlumpt und mager, und nur mit Mühe konnte er auf einen Stock gestützt voranhumpeln. Gerade bei dem jungen Musikus stürzte er auf die Erde. Der Junge war ganz erschrocken und eilte zu ihm hin. „Was ist dir, alter Mann? Weshalb bist du gestürzt?“ - „Ach,“ entgegnete der Alte mit schwacher Stimme, „ich bin nur schwach, weil ich seit vielen Tagen nichts gegessen habe.“ - „Dem kann abgeholfen werden,“ sagte der Junge. „Komm mit zur Mühle meines Vaters, dort werden wir dir zu essen geben.“ Der Alte war aber so schwach, daß er nicht mehr gehen konnte. So steckte der Junge seine Flöte in die Tasche, nahm den alten Bettler huckepack und trug ihn zur Mühle. „Vater, hier ist ein armer alter Mann, der schon seit Tagen Hunger leidet. Wir müssen ihm zu essen geben.“ Der Müller grummelte ein wenig, befahl aber seiner Frau, für den alten Mann Suppe, Fleisch, Gemüse und Brot auf den Tisch zu stellen. Sie brachte das alles, und auch ein Glas Wein. Nachdem der alte Bettler gegessen hatte, trug ihn der Junge zu einem Strohsack, der mit reinem Leinen bedeckt war, damit er ausruhen konnte, und er schlief sogleich ein.
Am anderen Morgen bekam er ein kräftiges Frühstück und ein Bündel mit Essen. Er bedankte sich und sagte zu dem Müller: „Dein Sohn ist ein guter Junge, so mancher hätte mich einfach am Wege liegen lassen. Du mußt viel Freude an ihm haben.“ Der Müller seufzte: „Ja und nein. Gewiß, er ist gut, und auch tüchtig, aber seit er diese Flöte hat, arbeitet er kaum noch in der Mühle. Alle meine Vorhaltungen nützen nichts, er will nur noch musizieren. Ich weiß nicht, was aus ihm werden wird. Musik ist doch eine brotlose Kunst. „Sag das nicht,“ erwiderte der Alte. „Darf ich die Flöte einmal sehen?“ Der Junge reichte sie ihm. Er drehte sie in den Händen, betrachtete sie lange, und sprach dann: „Dies ist eine besondere Flöte mit besonderen Kräften. Verwahre sie immer gut, und spiele so oft du kannst, aber ohne das Müllerhandwerk zu vernachlässigen, denn dein Vater ist immer gut zu dir gewesen.“
Der Junge versprach das. In den nächsten Jahren bemühte er sich, seinem Vater besser zur Hand zu gehen, und auf der Flöte spielte er nur des Abends und an Feiertagen.
Eines Tages hörten sie, daß ein böser Zauberer die drei Töchter des Königs entführt hatte. Er hatte die älteste heiraten wollen, jedoch der König verweigerte sie ihm, und aus Rache waren die Prinzessinnen nun alle drei in seiner Gewalt. Der König ließ im ganzen Land bekannt geben, daß, wer sie zurückbrächte, eine hohe Belohnung bekäme. Der Müllerssohn fand nun keine Ruhe mehr. Er dachte an die schönen Königstöchter und wie gern er sie sehen würde, aber auch, wie unglücklich sie bei dem Zauberer sein müßten. Er dachte auch an an den Kummer und die Sorge des Königs und der Königin. So sprach er zu Vater und Mutter: „Ich will gehen und versuchen, die Prinzessinnen zu finden und zu befreien.“ Die Eltern waren erschrocken. „Aber wie willst du sie finden? Und wenn du sie findest, wie könntest du sie der Gewalt eines mächtigen Zauberers entreißen? Eher wird er dich vernichten!“ Der junge Mann war jedoch nicht von seinem Entschluß abzubringen. Er packte etwas zu essen und seine Flöte in sein Ränzel, verabschiedete sich von Vater und Mutter und machte sich auf den Weg.
Noch wußte er nicht, wo er die Königstöchter finden könnte. Während er so dahinschritt, dachte er nach. Wo würde ein Zauberer seine Wohnstatt haben? Nicht in einer Stadt oder einem Dorf bei den gewöhnlichen Menschen. Im Wald? Nein, dort versteckten sich Hexen oder Räuber. Ein Zauberer ist großartig und stolz, er versteckt sich nicht. Natürlich! Auf einem Berg mußte er sein Schloß haben! So fragte der junge Mann jeden, dem er begegnete, ob sie nicht von einem Schloß auf einem hohen Berg wüßten. Sie aber schüttelten die Köpfe. Berge gab es viele, aber ein Schloß? Nein, ein Schloß hätten sie nicht droben gesehen. Wieder sann der junge Mann nach. Das Schloß des Zauberers mußte dann wohl auf einem sehr hohen Berg sein, dessen Gipfel noch nie jemand erklommen hatte. Deshalb hieß es, den höchsten Berg finden.
Nachdem er viele Tage gewandert war, kam er endlich an einen Berg, der war so hoch, daß der Gipfel in den Wolken verschwand. Auf diesen begann er nun zu steigen. Zuerst war es leicht. Er kam durch einen Wald. Dann wurde der Weg ein wenig steiler, nichts als noch niedrige Büsche und Heidekraut wuchs dort. Es wurde noch steiler, nur Moose und Flechten bedeckten die Felsen. Schließlich gelangte er vor eine Felswand, die senkrecht in die Höhe strebte. Wie sollte er da hinaufkommen? Er setzte sich nieder, um auszuruhen und etwas zu essen. Als er Brot und Käse aus dem Ränzel holte, bekam er seine Flöte zu fassen. Da war ihm auf einmal, als höre er die Stimme des alten Bettlers: „Dies ist eine besondere Flöte mit besonderen Kräften.“ Was mochte er damit gemeint haben?
Nachdenklich nahm er die Flöte und begann zu spielen. Da wuchs eine Leiter an der Felswand empor, hinauf, hinauf, bis zu den Wolken. Der Müllerssohn sprang auf und rüttelte an der Leiter. Sie war aus starkem Holz und fest im Felsen verankert. Rasch verstaute er Flöte und Vesper im Ränzel, schwang es sich auf den Rücken und begann die Leiter hinaufzusteigen. Lange, lange stieg er empor, bis zu den Wolken, und durch diese hindurch, bis er endlich oben auf dem Gipfel angekommen war. In einiger Entfernung sah er ein Schloß, das von einer Mauer umgeben war. Er ging auf das große eichene Tor zu, um anzuklopfen. Da öffnete es sich plötzlich und drei wütend bellende Hunde sprangen auf ihn zu. Von Furcht ergriffen drehte er sich um und rannte davon, aber dann erinnerte er sich wieder an die Flöte. Rasch zog er sie aus dem Ränzel und begann zu spielen, und, o Wunder, die Hunde hörten auf zu bellen, liefen schwanzwedelnd zu ihm hin und leckten ihm die Hände.
Er schritt durch das Tor in einen blühenden Garten und kam schließlich zum Schloßtor, welches sich ganz leicht öffnen ließ. Vorsichtig um sich blickend und horchend lief er durch alle Gänge und schaute in alle Räume. Diese waren prächtig ausgestattet mit kostbaren Teppichen, kunstvoll gearbeiteten Möbeln und schönen Bildern an den Wänden. Aber nirgends sah er ein lebendes Wesen, bis er ganz oben in den Turm gelangte. Da trat er durch eine Tür, und zu seiner Freude saßen die drei Prinzessinnen im Zimmer. Sie waren die schönsten Mädchen, die er je gesehen hatten, die jüngste jedoch war so lieblich, daß sein Herz heftig zu klopfen begann. Bei seinem Eintritt waren sie alle drei aufgesprungen und klammerten sich furchtsam aneinander. Der Müllerssohn sprach: „Fürchtet euch nicht. Ich bin gekommen, euch zu befreien und euch zu euren Eltern zurückzubringen.“ - „Ach, wenn du das könntest!“ rief die älteste. „Der König, unser Vater, würde dir jede Belohnung geben, die du verlangst. Aber dieser Zauberer ist so mächtig, und er weiß immer, was im Schloß vorgeht. Er wird jeden Augenblick hier sein, und dann bist du in höchster Gefahr! Du mußt dich rasch verstecken.“
Der Müllerssohn glitt hinter ein Ruhebett, und schon trat der Zauberer in das Gemach. „Wer ist hier?“ fragte er mit schrecklicher Stimme. „Ich weiß, daß ihr nicht alleine seid!“ Die Prinzessinnen schauten ihn mit schreckgeweiteten Augen an, aber sie schwiegen. „Sofort sagt ihr mir, wo sich dieser Mensch versteckt, oder es geht euch schlecht!“ rief der Zauberer. Er packte die jüngste am Arm und schüttelte sie heftig, so daß sie zu weinen begann. Die älteste und die mittlere versuchten, den Zauberer festzuhalten, aber sie waren viel zu schwach. Als der Müllerssohn dies sah, wurde er so zornig, daß er vergaß, daß er in Lebensgefahr schwebte. Er kam hinter dem Ruhebett hervor und begann auf seiner Flöte zu spielen. Aber was für Töne waren das! Nicht angenehm schmeichelnd und melodisch, sondern laut, schrill und durchdringend. Da erbleichte der Zauberer, er ließ die Prinzessin los, griff sich ans Herz, sank plötzlich zu Boden, und das Leben wich von ihm. Im selben Augenblick verschwand das Schloß mitsamt dem steilen Felsen, auf dem es gestanden hatte, und die Prinzessinnen und der junge Mann fanden sich auf einer freundlich gerundeten Bergkuppel wieder.
Von da stiegen sie hinab, bis sie zu einem Dorf gelangten, wo ihnen freundliche Menschen Essen und ein Nachtquartier gaben. Am nächsten Tag gingen sie mit frischen Kräften weiter, und bald gelangten sie zur Hauptstadt und zum Schloß des Königs.
Wie groß war die Freude des Königs und der Königin, daß sie ihre lieben Töchter wieder hatten! Aber welche Belohnung der König auch dem Müllerssohn anbot, dieser schüttelte immer bloß den Kopf und schaute unverwandt die jüngste Prinzessin an. Sie errötete, aber auch sie konnte ihre Augen nicht von ihm wenden. Die Königin hatte das beobachtet und flüsterte nun ihrem Gemahl etwas zu. Der nickte, wendete sich an den jungen Mann und fragte: „Und wie wäre es, wenn ich dir zur Belohnung meine jüngste Tochter zur Frau gäbe?“- „Aber – aber – das geht doch nicht – ich bin doch bloß der Sohn eines Müllers, wie kann eine Prinzessin mich zum Manne nehmen?“ - „Nun,“ sagte der König, „dem kann abgeholfen werden. Ich werde dich zu einem Grafen machen und dir eine Grafschaft schenken, dann kann niemand sagen, meine Tochter sei nicht standesgemäß verheiratet.“
Und so geschah es. Der Müller und die Müllerin wurden in einer Kutsche ins Schloß gebracht und sahen staunend, wie ihr Sohn mit der Prinzessin Hochzeit feierte. Was sie am meisten freute, war, daß zur Grafschaft ihres Sohnes auch die Gegend gehörte, in der ihre Mühle stand, so daß sie sich oft besuchen konnten. Manchmal – pssst! - half der junge Graf sogar seinem Vater bei der Arbeit in der Mühle.