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Die Wolken ziehen weiter

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20.10.2002
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Die Wolken ziehen weiter

Die Wolken ziehen durch Münchens Straßen wie schmutzige Fetzen. Das flackernde Kunstlicht zeichnet dunkle Schatten auf den Beton, Autos fahren mit grell blendenden Lichtern. Es ist mitten in der Nacht. Aus den U-Bahnschächten strömt es warm.
Sie steht vor einem der grauen Gebäude. Klein sieht sie aus, verloren auf dem Bürgersteig. Nur hin und wieder die Autos. Sie friert.

In der schäbigen Wohnung im vierten Stock schaltet er den Fernseher ein. Aus den Lautsprecherboxen kommt ein Kreischen. Berge von Kleidung, schimmelndes Geschirr. Der Fernseher flimmert. Das Bier zischt. Leere Flaschen.

Sie blickt hinauf, zu dem Fenster im Vierten. Ein blauer Schimmer hinter dem Fenster ohne Vorhänge. Sie friert. Was soll sie ihm sagen? Deine Tochter möchte dich sehen.

Er schaltet den Fernseher wieder aus. Ruhe. Wie es ihr geht?

Ein vorbeifahrendes Auto erhellt kurz ihr Gesicht. Die Schrammen sind immer noch geschwollen. Vorsichtig streicht sie über den Flaum des Kindes, das sie in einem Tuch vor der Brust trägt. Es regt sich nicht, schläft trotz der Kälte, die sie langsam zum Zittern bringt.

Er reißt sich ein weiteres Bier auf. Denkt an den Streit vor drei Nächten. Er blickt auf seine Hände, die die Dose halten. Die gleichen Hände, die sie vor ein paar Tagen an die Kanten des Tisches gestoßen und ihr Gesicht geprügelt haben. Das Schreien des Kindes. Ihr tonloses Weinen. Die leere Wohnung danach und die Stille.

Sie blickt erneut hoch zu der schmutzigen Fensterscheibe. Nur noch schwaches Licht dringt aus dem Raum und wirft ein gelbes Rechteck auf den Beton. Sie fühlt ihr Gesicht. Ihre Wangen und die Stirn. Versucht, die Zärtlichkeit seiner Hände zu empfinden, die noch vor wenigen Wochen ihre Haut berührt hat. Die Erinnerung kommt nur langsam. Immer wieder muss sie die Fäuste aus ihren Gedanken schieben.

Die Stille. Und die Angst. Angst wovor, fragt er sich.

Das Kind wimmert. Leise fängt sie an, ein Lied zu summen, schaukelt das kleine Bündel Mensch, erst wenige Wochen alt, vor ihrem Körper.
Seine zarte Stimme an ihrem Ohr, seine Freude, als er seine Tochter zum ersten Mal halten konnte. Sein junges Lachen.

Angst… er sitzt da, den Kopf aufgestützt. Die Bilder vor seinen Augen verschwinden nicht. Ihre verschreckten Augen. Das Kind, mit verschwollenem Gesicht schreiend und nach Luft schnappend. Die Haarbüschel auf dem Dielenboden. Seine Hände… immer wieder seine Hände.
Und das Kind… sein Kind.

Sie beißt sich auf die Lippen. Eine stake Windbö treibt alte Blätter an ihr vorbei und eine zusammengedrückte Dose. Die Luft ist nass. Das Kind beruhigt sich nicht, beginnt zu weinen.
Sie denkt an die gemeinsamen Stunden, die kleinen Ausflüge, an seinen und ihren Stolz auf dieses gemeinsame Kind, als sie einen Namen aussuchten.

Margit hatten sie sie genannt. Seine Tochter. Ihre Tochter.
Er steht auf. Wo war sie hingegangen, als sie die Tür zugeworfen hat, mit dem weinenden Kind im Arm, mit nichts außer der Kleidung am Leib?
Er geht zum Fenster, blickt in die Nacht. Nebel zieht vorbei, die Neonbeleuchtung flackert kalt.

Ein Schatten am Fenster. Das Kind schreit laut, Hunger und Kälte lassen den kleinen Körper zittern.
Wie schlimm ist Hunger, wie schlimm Kälte, wie schlimm sind die Schläge? Unsicher drückt sie auf die Klingel.

Das Summen lässt ihn zusammenzucken. Er wendet sich ab vom Fenster, weg von den dunklen Schatten, den fragenden Gedanken. Öffnet die Türen. Wartet.

Zögernd betritt sie das modrige Stiegenhaus. Steigt die Treppen hinauf, bis in den Vierten. Margit weint.
Sie sieht ihn im hellen Türrahmen stehen. Kann die Erinnerungen an diese Nacht nicht verdrängen. Angst.

Angst. Er sieht ihr geschwollenes Gesicht. Hört das leise Weinen. Möchte auf seine Hände blicken, die alles zerstören konnten, vor ein paar Tagen…

Es fällt kein Wort. Unsichere Blicke. Zögernd schiebt sie sich schließlich an ihm vorbei in die kleine Wohnung. Das Kind schluchzt noch leise, als hinter ihnen die Türe ins Schloss fällt.

 

hi anne,

es ist irgendwie schon lustig, wenn ich die kommentare lese, in denen die kritiker deinen schluss bemängeln. da wunderte ich mich: "wieso? der schluss ist doch perfekt." bis ich dann deinen hinweis am ende fand, dass du den schluss angepasst hast.
gut! dann möchte ich auch gar nicht wissen, wie schlecht dein erster schluss war :D !

zur geschichte; sie ist für eine mausgeschichte solide. die thematik ist nur oberflächlich abgegriffen, tatsächlich, und das finde ich als stärke im schluss, ist die nüchternheit der thematik besonders hinsichtlich des schlusses ein noch gar nicht wirklich ausreichend bearbeitetes thema.
(bor - was fürn satz)
prügelnde ehemänner, die gibt es zu hauf - und noch mehr die geschichten darüber - aber das problem "wie soll es denn weitergehen?" ist hingegen im schatten der geschehnisse. da ist nun mal die frau mit dem kind - und nur die wenigsten - wirklich die wenigsten - frauen haben die stärke, allein weiterzumachen. die wahrheit ist, dass die allermeisten frauen wiederkehren - und das nicht nur nach dem ersten mal! (übrigens - entweder ist der mann ein prügelnder ehemann und vater oder nicht - aber einmalige ausrutscher sind sehr unwahrscheinlich)
diese frau ist in der zwickmühle - da kommt dein satz:

angst wovor?

ja, angst wovor? vor schlägen? vor dem allein sein? vor der zukunft?

also - durch den schluß wird diese geschichte inhaltlich stark. der schreibstil ist angemessen und ...
... ja, ich habe sie gern gelsen *smile*!

baba

barde

 

hallo Barde!

... ja, ich habe sie gern gelsen *smile*!
was? :susp:

:) danke für Dein Lob. Freut mich sehr, wenn Du den Schluss gut findest, das war ein Stück Arbeit. ZUm Thema, da hast Du vermutlich recht - die meisten Frauen kehren zurück, haben nicht die Stärke für eine Entscheidung.

schöne Grüße
Anne

 

hallo!
grosses lob!!! ich hab deine geschichte gleich mehrmals gelesen, weil ich sie so gelungen fand! leider hatte ich noch nicht das vergnügen noch mehr von deinen geschichten zu lesen, aber nach dieser hier hast du mich als fan gewonnen;)
die art, wie du vergangeheit, gegenwart und zukunft ineinander verwickelt hast, sodass es aber immernoch durchsichtig ist, bewundere ich!
mfg onida

 

Hallo onida!

Dein Lob freut mich sehr - ich weiß ja gar nicht, was ich da noch antworten soll... :shy:
Vielen Dank!

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Kristin!

Ich habe mich sehr gefreut über Deine Reaktion und das Lob natürlich...

Das einzige, was mir fehlt, ist der Grund. In der Geschichte wird keiner genannt, und auch die gemeinsamen Erinenrungen scheinen durchweg positiv zu sein. Deshalb würde ich mir einen, wenn auch kleinen, Hinweis auf den Grund, den Auslöser wünschen.
- das stimmt, kein Grund wird angesprochen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir auch keinen überlegt - was auch dran lag, dass ich beim schreiben eigetnlich erstmal auch nur die Ausganssituation und eigentlich keine "Geschichte" im Kopf hatte... vielleicht fällt mir aber noch eine Möglichkeit ein, diesen Aspekt mit reinzubekommen. Es stimmst schon, das fehlt.
Zwei Formulierungen, die ich als sehr ungewöhnlich empfinde. Nicht schlecht, nur eben auffallend. War das Absicht? *neugier*
- das sind so Sätze, die mir halt so einfallen, und daraus entsteht dann manchmal eine komplette Geschcihte :shy:
Wobei Du mit den Wolken leider recht hast, IN der Stadt müsste es ja Neben heißen... *überleg*
Wie? Er hat den Fernseher abgestellt? Dann würde ich das aber auch vorher erwähnen
- habe ich... ;)

Danke auch, dass Du Dich der Zeiten angenommen hast, das habe ich selbst noch garnicht bemerkt... klar hast Du recht, wird sofort korrigiert....

liebe Grüße
Anne

 
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Liebe Maus!

Obwohl ich rechtzeitig dran dachte, ist es mir zeitmäßig nicht gelungen, Dir meine Kritik, oder besser: mein „selbstgemachtes Geburtstagsgeschenk“ :D rechtzeitig zu posten. Aber Du hast ja eh gefeiert und gar keine Zeit dafür gehabt... ;)
Hier also nochmal: Alles Gute zum Geburtstag! :)

Ein paar Dinge muß ich schon kritisieren, aber im Grunde hat mir Deine Geschichte ganz gut gefallen. :)
Mir gefällt, mit welchen Themen Du Dich immer wieder auseinandersetzt – so auch dieses hier. Es gibt viele Gründe, warum geschlagene Frauen wieder zu ihren Misshandlern zurückgehen. Das Nicht-sehen-von-Auswegen ist natürlich einer, und wenn ein Kind mit im Spiel ist, ist es noch viel schwieriger, sich loszulösen. Das hast Du in meinen Augen gut rübergebracht.
Erst habe ich mich gefragt, warum sie denn nicht einfach in ein Frauenhaus bzw. ein Haus für geschlagene Frauen geht, denn ich bin mir sicher, auch in München gibt es sowas. Warum also, dachte ich, kommt sie gar nicht auf diese Idee? – Vielleicht ein Informationsmangel, der gerade in Schichten mit niedrigerem Bildungsniveau nicht selten ist.
Allerdings stellt sich mir da auch die Frage: Wenn der Streit schon drei Tage her ist, wo waren sie und ihr Kind denn bisher?

Seltsam kam mir aber vor, daß sie so gar nichts mitgenommen hat. Das läßt die Protagonistin irgendwie verantwortungslos erscheinen, da sie doch ein so kleines Kind hat und man da eigentlich immer irgendwas mit braucht. Ich fände es besser, wenn sie einen Rucksack mit den notwendigsten Dingen für ihr Baby dabei hätte (den hat man da sowieso immer bereit stehen, wenn man so ein kleines Kind hat) – der würde auch an der Hilflosigkeit nichts ändern, da sie ja trotzdem in der Kälte steht, ohne einen Platz, wo sie hin kann, und Hunger hat.
Aber auch das „schimmelnde Geschirr“ macht auf mich einen eher seltsamen Eindruck. Für meine Begriffe hast Du es da ein bisschen mit der Verwahrlosung übertrieben – sie ist ja nicht wochenlang weg gewesen, sodaß das alles von ihm alleine wäre (innerhalb von drei Tagen schimmelt es nicht) – und wenn sie als Mutter da auch nicht dahinter ist, dann muß ich mir bei der Geschichte schon die Frage stellen, ob das Baby denn überhaupt bei den beiden gut aufgehoben ist. Der „Stolz“ auf das gemeinsame Kind scheint so jedenfalls bei der Namensfindung geendet zu haben…
Übrigens liest sich „schimmelndes Geschirr“ seltsam, finde ich. Das Geschirr selbst schimmelt ja nicht, sondern nur die Essensreste darauf. Eventuell würd ich das zum Beispiel mit „die Essensreste der letzten Wochen führen bereits ein Eigenleben auf dem Geschirr“ oder ähnlichem umschreiben.

Was mir noch aufgefallen ist, ist die Sache mit dem Licht: Erst ist es nur ein „blauer Schimmer hinter dem Fenster“ bzw. schwaches Licht hinter einer schmutzigen Fensterscheibe, dann ist es aber so stark, und dazu muß es immens stark sein, daß es vom vierten Stock aus „ein gelbes Rechteck auf den Beton“ wirft – ich nehme an, daß Du mit Beton die Straße meinst?

»Er reißt sich ein weiters Bier auf.«
- weiteres

Es ist natürlich ein Dilemma, daß geschlagene Frauen immer wieder zu diesen Männern zurückkehren. Früher hab ich das nicht verstanden, wie eine Frau so blöd sein kann. Bis ich selbst derartiges jahrelang ertragen habe. Die Liebe war es nicht, die war mit den ersten Schlägen dahin. Die Angst vorm Alleinsein (vor allem auch mit der finanziellen Verantwortung) war das eine Problem. Die Angst, meinem Sohn den Vater zu nehmen (da er ihm ja nie etwas getan hat), war das größere. Obwohl ich über sämtliche Möglichkeiten bestens informiert war und zuvor Frauen, die bei schlagenden Männern bleiben, nie verstanden habe, hab ich auch nicht anders gehandelt – ich konnte es in der Situation nicht anders. – Auch in Deiner Geschichte finde ich dieses Nicht-anders-Können irgendwie wieder, besonders hier: »Wie schlimm ist Hunger, wie schlimm Kälte, wie schlimm sind die Schläge?« – In dem Moment spürt sie die Schläge (die sicher wieder kommen) nicht, daher erscheinen sie nicht so schlimm, wie die Kälte und der Hunger, die sie im Moment spürt. Ein Teufelskreis…

Liebe Grüße,
Susi :)

 

hallo Susi!

vielen Dank für Deine Mühe und die ausführliche Antwort, hat mich wirklcih sehr gefreut!

Erst habe ich mich gefragt, warum sie denn nicht einfach in ein Frauenhaus bzw. ein Haus für geschlagene Frauen geht, denn ich bin mir sicher, auch in München gibt es sowas. Warum also, dachte ich, kommt sie gar nicht auf diese Idee? – Vielleicht ein Informationsmangel, der gerade in Schichten mit niedrigerem Bildungsniveau nicht selten ist.
Allerdings stellt sich mir da auch die Frage: Wenn der Streit schon drei Tage her ist, wo waren sie und ihr Kind denn bisher?
- ja, sowas gitbs auch in münchen... wo sie war, ist eine gute Frage, die der Text nciht beantwortet, da hst Du recht...
Seltsam kam mir aber vor, daß sie so gar nichts mitgenommen hat. Das läßt die Protagonistin irgendwie verantwortungslos erscheinen, da sie doch ein so kleines Kind hat und man da eigentlich immer irgendwas mit braucht.
- ich wollte darstellen, dass sie ben hals über kopf abgehaun ist, ohne vorher irgendwelche vorkehrungen zu treffen. Allerdings muss ich Dir recht geben, sie erscheint verantwortungslos. Ich werde versuchen in den nächsten Tagen, mir dafür etwas zu überlegen....
Für meine Begriffe hast Du es da ein bisschen mit der Verwahrlosung übertrieben – sie ist ja nicht wochenlang weg gewesen, sodaß das alles von ihm alleine wäre (innerhalb von drei Tagen schimmelt es nicht) – und wenn sie als Mutter da auch nicht dahinter ist, dann muß ich mir bei der Geschichte schon die Frage stellen, ob das Baby denn überhaupt bei den beiden gut aufgehoben ist.
- auch hier hast Du recht, das war mir garnicht bewusst. ICh werde auch die Stelle mit dem Geschirr überarbeiten.
Ob das Kind bei den beiden gut aufgehoben ist, ist fraglich.
Danke auch frs Fehlerfinden :)
Es freut mcih, dass Du mit der Geschichte trotz deisen vielen Stellen, etwas anfangen konntest.

alles Liebe
Anne

 

Hallo Maus,
schön, dass diese Geschichte noch einmal an die Oberfläche gespült wurde, denn in meinen ersten Tagen bei KG.de, in denen du diese Geschichte hier veröffentlicht hast, ist sie bei dem Überangebot an mir vorbeigegangen.

Ich könnte mich Aqualung anschließen, was die Geschichten jenseits der Mäuse betrifft, aber so eine hübsche Mäusegeschichte ist zur Entspannung auch mal notwendig.

In dieser Art von Geschichten, und vor allem in dieser Geschichte allerdings kommt dein Talent, in knappen Geschichten einen kleinen Kosmos der Gewalt zu umreißen, hervoragend zur Geltung.
Das liest sich sehr stimmungsvoll, sehr mitfühlend, und auch für den schlagenden Mann immer noch liebevoll.
Ich persönlich brauche da keinen Hintergrund, im Gegenteil, den dadurch, dass du keinen Grund nennst, wird die Regelmäßigkeit seiner Ausraster deutlich, unter denen er dann danachtatsächlich genauso leidet wie sie. Er wird nicht nur ihr, sondern auch sich bei jedem Mal versprechen, dass es nie wieder vor kommt, und er wird daran glauben. Bis zum nächsten Mal.

Das darzustellen, ist dir wirklich gut gelungen.

Lieben Gruß, sim

 

hallo sim!

"Mäusegeschichte"? :susp: Aqua mag keine Katzengeschichten, du findest Mäuse enstpannend.... na, ok ;)

Danke für Deine nette Antwort und das Lob. Da werd ich ja ganz verlegen.

und vor allem in dieser Geschichte allerdings kommt dein Talent, in knappen Geschichten einen kleinen Kosmos der Gewalt zu umreißen, hervoragend zur Geltung.
- :shy:
Es freut mcih auch, dass Dir die Geschichte stimmig erschien.

alles Liebe
Anne

 

Hallo Maus,

wie konnte ich Jäger und Gejagten verwechseln ;)
Ich meinte natürlich Katzen. :)

Liebe Grüße, sim

 

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