Die Werkirche
Sepp Hammerschmidts Blick wanderte immer wieder hinaus zu seinen Gartenzwergen. Es dämmerte bereits. Jede Minute würde der Mond aufgehen. Dieses vermaledeite Drecksding, dachte er. Dabei stieß er seine Gabel mit Gewalt in die Kartoffel, und stellte sich vor, es wäre der Mond, den er da zerstückelte. Gabi sah ihn verstohlen aus den Augenwinkeln an. Auf keinen Fall wollte sie über das Thema sprechen, das wusste er. Am liebsten hätte sie sich wohl die Augen und Ohren zugehalten, bis die Nacht vorüber war. "Lischen, setz dich ordentlich hin", fuhr Gabi stattdessen die kleine Lisa an, die aus Unachtsamkeit fast ihre blonden Zöpfe in den Grünkohl getunkt hätte. Lisa setzte sich erschrocken auf. Die gespannte Spannung am Esstisch irritierte sie. "Werden heute Nacht die anderen Gartenzwerge auch sterben?", fragte sie leise, da sie den Blick ihres Vaters bemerkt hatte. Hammerschmidt reichte es. Er ließ die Gabel einfach in den Grünkohl fallen, sodass dieser über den ganzen Tisch spritzte und ging ohne ein Wort hinunter in den Keller. Er meinte, Gabi erleichtert aufseufzen zu hören.
Heute Abend würde der Spuk ein Ende haben, beschloss Hammerschmidt. Wo käme man denn da hin, dachte er, während er seine Schrotflinte lud. Wo käme man denn da hin, wenn ein Mann nicht mehr sein Eigentum beschützen kann. Und wenn seine kleine Tochter glaubte, da könne jeder kommen und seine Gartenzwerge zertrümmern. In der letzten Vollmondnacht, da hatte sie es zu weit getrieben. Ja, auch seine Geduld hatte ein Ende. Uli, Gustav, Hartmut, Friedolin und Horst dauernd umzuwerfen und durcheinandergewürfelt liegen zu lassen, das war schon eine bodenlose Frechheit. Aber dann beim letzten Vollmond, da hatte sie Friedolin in tausend Scherben zerdeppert. Hammerschmidt hatte versucht, die Scherben zu kitten, doch ohne Erfolg. Nie wieder würde der Zwerg so makellos, so perfekt sein wie vorher. Nie wieder würde er ihn am Eingang mit seiner Hacke über der Schulter begrüßen, wenn Hammerschmidt von der Arbeit kam.
Als Gabi schlafen gegangen war, bezog er seinen Posten. Auf der Bank im Vorgarten, umgeben von seinen Kameraden, den Zwergen. Er schaute sich in seiner Straße um. Ruhig war es hier, im ganzen Ort war es ruhig. Zu ruhig. Er blickte hinauf auf den Hügel. Dort thronte sie - die Werkirche. Niemand konnte mehr sagen, wer sie erbaut hatte. Es schien so, als wäre sie einfach immer dagewesen. Er betrachtete sie. Ihn beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Fast hätte er seinen Plan aufgegeben, um wie alle anderen im Dorf einfach zu ignorieren, was nicht sein durfte.
Da sah er, wie es begann. Langsam und majestätisch erhob sich die Kirche. Dann gingen die Lichter hinter den Fenstern an. Hammerschmidt war nicht der Typ, dem etwas so schnell Angst machte. Der Tod gehörte halt zum Leben dazu. Und er war nicht einer dieser Menschen, die mehr aus dem Leben machen wollten, als es eben war. Die sich über den größeren Sinn Gedanken machten. Man lebte halt, und dann später musste man sterben. So einfach war das. Doch jetzt, da fühlte er starkes Herzklopfen und aufkommende Panik.
Die Kirche kam den Hügel hinunter und hinterließ eine Spur der Verwüstung in den Vorgärten. Sie schien Ordnung zu hassen, denn die ungepflegten wilden Gärten ließ sie in Ruhe, stellte Hammerschmidt verärgert fet. Die Wut gab ihm Kraft, aufzustehen. Seine Knie zitterten unter der braunen Cordhose. Die Hände umklammerten das Gewehr. Das Gefühl des kalten Eisens gab ihm Kraft. Wie ein Sheriff in einem schlechten Western stand er auf der Straße und stellte sich der Kirche in den Weg. Sie kam immer näher. Näher. Aus voller Seele machte er seiner Empörung Luft: "Bleib stehen du verfluchtes Haus!” Doch statt zu schreien, war nur ein Flüstern aus seinem Mund gekommen. Dann lud er seine Flinte durch. Die Kirche blieb abrupt stehen. Dann schien sie ihre Augen auf ihn zu richten, oder besser gesagt, ihre Fenster.
Er verlor sich in der Mischung aus Licht und Glas, sah Reflexionen, eine aus Mosaiken zusammengesetzte Seele, ungezähmt wie die Gischt des Meeres oder ein alles verzehrendes Feuer. So voller Lebenskraft und gleichzeitig todesbringend. Der Sturm entwurzelte ihn, versetzte seine apathische Seele in Aufruhr. Und schließlich dann konnte er es nicht mehr ertragen.
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Gabi schrie. Es war Morgen. Ihr Mann stand bewegungslos auf der Straße - ihm gegenüber die Kirche. Die war nicht wie sonst auf den Hügel zurückgekehrt. Die Söhne der Nachbarn halfen Gabi, ihren paralysierten Mann ins Haus zurückzubringen. Das Ganze war Gabi äußerst unangenehm. Ihre Nachbarn und Bekannten sagten zwar nichts, schauten sie aber grimmig an. Schließlich war es äußerst unpraktisch, dass die Kirche mitten auf der Straße stand. Und zu ignorieren, dass hier etwas Seltsames vor sich gegangen war, erforderte doch einige Anstrengung.
Da war zum Beispiel der Gottesdienst. Die Kirche stand nun auf einer Straße, die bergauf führte. Und der Altar befand sich ausgerechnet am unteren Ende, sodass der Pfarrer zu seiner Gemeinde aufschauen musste. Ständig rutschte die Bibel vom Altar, der Kerzenwachs tropfte auf das Gewand des Pfarrers. „Und ihr, die ihr Vergebung sucht, werdet sie finden", schrie er in seiner ersten Predigt unter diesen widrigen Umständen, was seine Friedensbotschaft etwas unglaubwürdig klingen ließ. Die Augen der Kirchengemeinde wanderten zum Bauern Hammerschmid, der teilnahmslos zwischen seiner Frau und Lischen saß.
Während des Gottesdienstes liefen heiße Tränen die Wangen des kleinen Mädchens hinab. Hilflos schaute sie zu ihrem Vater. "Was ist denn mit dir?”, fragte sie leise und zupfte am Ärmel seines Pullovers. Doch Hammerschmidt wischte die kleine Hand weg. Er hatte sich unter Deck zurückgezogen, um dem Sturm nicht mehr länger ausgeliefert zu sein.
Oft spielte Lischen jetzt auf der Straße und malte mit Kreide Hüpfmuster auf das Pflaster. Schließlich konnten hier nun keine Autos mehr fahren. Das war praktisch. Mit ihr spielen wollte niemand. Manchmal setzte sie sich auf die Stufen der Kirche und sprach mit ihr. Seit jener Nacht war das Gebäude nicht mehr von der Stelle gewichen. "Was ist denn passiert mit dem Papa?”, fragte sie oft. Die Erwachsenen konnte sie das nicht fragen, dann wurde sie nur ausgeschimpft. Die Kirche antwortete zwar nicht, aber sie schimpfte auch nicht. Das fand Lisa sehr angenehm.
Diese einseitigen Gespräche endeten, als der Pfarrer sie belauschte. Er berichtete ihrer Mutter davon und die gab ihr einen Monat Hausarrest. Danach wusste Lischen nicht mehr, wohin mit ihren Gefühlen und Gedanken. Und so begann sie, mit Kreide Dinge auf die Wände der Kirche zu schreiben. Möglichst dort, wo man es nicht sehen konnte, hinter dem Efeu. Doch auch das beobachtete der Pfarrer und Lischen musste sich nun endgültig von der Kirche fernhalten - außer am Sonntag natürlich.
So zogen die Jahre vorbei, zäh wie Pech. Lischen wurde erwachsen und ihre Erinnerungen daran, was in jener Nacht passiert war, verblassten. Immer, wenn sie davon sprach, dass die Kirche doch einmal woanders gestanden hatte, sagt ihr Mutter, sie würde sich das nur einbilden. Bald glaubte Lischen ihr.
Doch da waren diese schrecklichen Albträume. Sie sah ihren Vater und die Kirche darin und ihr Vater schrie und dann verstummt er. Dann schreckte sie auf und ihr Herz raste. Als dann ihr Vater starb, wurden die Träume so unerträglich, dass die Mutter Lischen zu einem Arzt schickte. Der schüttelte nur den Kopf und verschrieb ihr starke Medikamente, um die Träume endlich loszuwerden. Lischen sah ihre Mutter an: "Bin ich wirklich verrückt Mama?”, fragte sie. Ihr Mutter schaute zu Boden. "Ja.” Da verlor Lischen einen Teil ihrer selbst.
Als sie an diesem Tag wieder nach Hause kamen, blickte Lischen lange aus dem Fenster auf die Gartenzwerge. Sie waren vernachlässigt worden. Mit den Jahren war die Farbe verblichen und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die verblassen Stellen nachzulackieren. Auch als es dann dunkel und ganz still im Haus wurde, saß sie immer noch am Tisch.
Plötzlich bemerkte sie, wie der Mond auf die Kirche schien. Irgendwie wurde sie von dem Licht angezogen. Sie stand auf und ging langsam auf Werkirche zu. Sie berührte das Mauerwerk. Strich über den rauen Untergrund, die Ritzen und Unebenheiten. Wie früher, als sie noch draußen spielen durfte. Dann bemerkte sie, wie Licht aus dem Fenster schien. Sie ging instinktiv in die Hocke, um nicht bemerkt zu werden.
Da sah sie die Kreideschrift unter der Fensterbank. Was dort einmal gestanden hatte, konnte sie nicht mehr entziffern. Dann durchfuhr sie ein elektrischer Schlag. Die Erinnerung überflutete sie warm und unaufhaltsam. Das hatte sie geschrieben, als kleines Mädchen von 8 Jahren.
Sie blickte auf, direkt in das bunte Glas des Kirchenfensters.