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Die Wanderung des Malers Georges de la Foire
„Selbstverständlich habe ich einen Zweitschlüssel, aber wenn Monsieur seinen Schlüssel von innen stecken lässt, nützt der mir nichts!“, zürnt Madame Brunier und fügt patzig hinzu: „Und Ihnen wohl auch nicht.“
„Ich muss das Schloss ausbauen, anders geht es nicht“, sagt der Mann in der blauen Latzhose und durchsucht seinen Werkzeugkasten.
„Ach, was Sie nicht sagen!“, spielt Madame ihre Rolle vor wachsendem Publikum etwas lauter und bissiger als nötig, denn sie möchte bei dieser Gelegenheit klarstellen, dass mit ihr nicht zu spaßen ist. Mittlerweile steht ein Dutzend Mieter im Treppenhaus. Die Leute sind neugierig, weil die Concierge nach ersten zaghaften Klopfversuchen dann kräftiger, beinahe brutal an die Tür des Künstlers gehämmert hat – ein Sakrileg in dieser geheiligten Zone der obersten Etage.
Der Mann in Blau versteht sein Handwerk und nach wenigen Minuten kann Madame Brunier die Räumlichkeiten betreten. Sie schiebt sich an ihm vorbei und schließt die Tür hinter sich.
Das metallische Schnappen und ihr markerschütternder Schrei fallen in die gleiche Sekunde.
Ein Portraitmaler, der Geld verdienen muss, ist meist verhandlungsbereit. Er weiß, wo die verehrte Kundschaft der Schuh drückt: das Doppel- oder Dreifachkinn verkleinern, die Krähenfüße um die Augen retuschieren, die Schlapplider straffen; mehr Feuer, mehr Esprit in den Blick – schließlich ist man in Frankreich, in Paris! Ginge das?
An manchen Tagen ginge das, an anderen nicht. Da würde Georges lieber die Staffelei zusammenklappen und sich seinem Lieblingsgetränk zuwenden – obwohl es gleichermaßen sein Hassgetränk ist. Dann schnauzt er seine überwiegend weibliche Kundschaft an, dass er mit Farbe male und nicht mit Schminke. Seine Pinsel seien nicht bestechlich und ohnehin könne er nur malen, was er sehe.
Laufkundschaft, Touristen. Morgen wollen andere ihrer Eitelkeit frönen, sind bereit, einen Zehner draufzulegen, in schwierigen Fällen auch einen Zwanziger. Doch trotz einiger künstlerischer Zugeständnisse nimmt die Kundschaft meist ohne ein Wort des Dankes, geschweige denn des Lobes, Georges' Werk entgegen. Insgeheim hofften sie, dass ein geschickter Maler sie vorteilhafter abbilden würde, als es ein Fotograf vermag. Und so geht leider ein Riss durch die Place du Tertre, weil Zufriedenheit auf beiden Seiten Zauberei wäre.
Georges de la Foire ist schlank und hochgewachsen. Starke Augenbrauen und eine schwarz gerahmte Brille markieren sein Gesicht; es wirkt streng, fast herrisch. Über die Jahre ist die Stirn höher geworden, im Nacken kräuselt sich Künstlerhaar und bedeckt den Kragen. Die winzigen weißen Flöckchen werden vom Schleifen der getrockneten Farbe herrühren.
Georges weiß, dass er begnadet ist und die Welt sich noch vor ihm verneigen wird. Das sollte auch die undankbare Kundschaft tun. Denn gleich, wie viel sie zahlt – es wird immer ein lächerlicher Preis sein für ein signiertes Werk von einem der größten Maler dieser Zeit, irgendwann das Hundertfache, gar das Tausendfache wert.
Jetzt im Oktober verlieren die Bäume ihre bunten Blätter - und die Maler ihre Kunden. Portraitmalen ist Saisongeschäft. Der Maler und Stadtmensch Georges ist von der Saison so abhängig wie Winzer, Gärtner, Bauer.
Montmartre kann zu dieser Zeit Le Havre sein, unsympathisch nördlich, mit Klatschregen und Eissplittern – der Tod für jedes Freiluft-Geschäft. An solchen Tagen bleibt die Kundschaft aus, die Staffelei zusammengeklappt und der Maler im Bett. Aber auch herrliche Tage kann es geben, wie im Süden, mit stiller, wärmender Sonne, die hineingeht in den Brustkorb und für großes Wohlbehagen sorgt.
Georges muss auf dieses gute Gefühl verzichten. Die grüne Fee macht ihm das Leben schwer, auch wenn Dichter behaupten, das Leben bekäme vom Absinth eine feierliche Färbung. Poetenschwätzer, ohne Ahnung von den Leiden der Betroffenen. Oder selbst Absinthsäufer, die ihre Krankheit rosa färben wollen.
Von der ‚feierlichen Färbung’ hat Georges noch nie etwas gespürt. Er ist Maler und empfindet eher ein Verbleichen der einst leuchtenden Farben seines Lebens und seiner Werke. Er nimmt nur den steten Druck wahr, mit dem ihm dieser Höllenfusel einen jeden seiner Tage peinigt. Wie lange sein Körper dieses Martyrium ertragen wird, wissen die Götter. Er steht auf, weil er trinken muss, er muss trinken, wenn er schlafen will. Und er trinkt, statt zu essen.
An einem vermeintlich südlichen Tag, der durch abrupten Nordwind zu einem Le-Havre-Tag umschlägt, steuert er durchfroren und unterzuckert - wie Georges das steil anwachsende Bedürfnis nach einem Schuss grünen Alkohols nennt - das „L'Argonaute“ an, diese unsägliche Kneipe mit den skurrilen Gästen.
Das Lokal ist berstend voll; das sieht er schon von außen. Dennoch drängt er sich hinein.
Ein sommersprossiger Feuerkopf erhebt sich, um an der Theke zu zahlen, und Georges lässt sich geschwind auf dessen Stuhl fallen.
„Hat ja gut geklappt“, meint sein Nachbar. Georges macht einen mächtigen Schnaufer: „Ja, kann man sagen. Ehm – ich glaube, wir kennen uns, so vom Ansehen?“
Der Kellner bringt das Übliche, der andere streckt Georges die Hand hin:
„Ich bin Hervé, ein etwas weniger begabter Kollege, wenn ich das so sagen darf. Ich hab dir mal über die Schulter geschaut: Ganz ordentliche Sachen, die du machst ... eigentlich zu gut für diese Idioten.“
„Ach, red’ kein Blech – wir malen doch alle nur Scheiße.“ Georges wischt sich den Mund und sagt etwas leiser: „Aber ich denke, wir könnten mehr. Wenn wir uns nicht jeden Tag aufs Neue verkaufen müssten, um über die Runden zu kommen ... Endlich mal das malen, was einen bewegt, wozu man sich berufen fühlt ...“.
Hervé schaut ihn mit seinen braunen Knopfaugen erstaunt an: „Berufen fühlst du dich? Wozu?“
Georges holt tief Luft und will das ‚Sich-berufen-Fühlen’ erklären, lässt es dann, sucht einfachere Themen und die zwei reden und reden, als ob sie nur darauf gewartet hätten, sich einmal richtig auszusprechen.
Der Kellner bringt die nächste Lage. Hervé wischt mit dem Taschentuch über seinen haarlosen Schädel und fragt: „Hast du Familie?“
Überraschend knapp kommt Georges Antwort: „Nein“.
„Dann wohnst du in einer Pension?“
„Ja, so ähnlich. Hotel Blanche, Rue Blanche. Aber sie wollen mehr Geld; ich werde mir was anderes suchen müssen.“
Hervé reibt sich die Augen: „Soll ich dir mal was sagen? Du brauchst ein neues Dach übern Kopf? Ich hab eins! Also fast. Wenn du `n bisschen mithilfst, ist die Hütte vorm Winter fertig.“
Wie Tiere in der Umtriebigkeit der Wintervorsorge rackern die beiden, trinken nur das Nötigste, um nicht verrückt zu werden. Die nackte Existenz drillt sie und die grüne Fee verliert vorübergehend die Befehlsgewalt.
Die Stammzelle von Hervés Residenz ist eine Mansarde, die er mit einem Anbau erweitert hat. Der gleicht einem Hühnerstall – auf dem flachen Dach eines fünfstöckigen Gebäudes. Statt die Maurer zu bestellen, hat er die Front im Rahmen seiner handwerklichen Fähigkeiten verglast, ganz im Sinne der Malerei, mit viel Licht, Transparenz, Freiheit und Raum. Ein schlimmes Provisorium, doch zum Malen ideal. Zum Wohnen eher schwierig, aber billig.
An einem Dezembertag steigt die Einweihungsparty.
Die beiden Herren haben ihren besten Zwirn angelegt, die Konturen ihrer Bärte geschärft und Georges hat allzu wilde Locken mit etwas Pomade gebändigt. Sie genehmigen sich einen kleinen Grünen; wie Jungens sind sie ein bisschen aufgeregt, weil gleich ihr Ehrengast erscheinen wird – Madame Brunier. Sie ist die Concierge, und ihr haben sie es zu verdanken, dass sie ihr ‚Atelier’ fertigstellen konnten.
Die beiden haben das Gefühl, dass ‚ihre Madame’ auch ein bisschen ihre Mutter ist. Die Baubehörde hat nichts erfahren vom Taubenschlag der Kunst hochdroben.
Eine Freude wollen sie ihr machen, indem sie ein samtenes Band quer gespannt haben, das ihre Gönnerin durchschneiden soll. Das ist bei wichtigen Projekten allgemein üblich – in Paris und anderswo.
Madame hat sich schön gemacht. Das letzte Konzert liegt so weit zurück, und der letzte Opernbesuch, damals mit Emile, ist fast vergessen. Doch heute rauscht Chiffon, sie ist immer noch eine ansehnliche Frau. Die grauen Ansätze ihres vollen Haares gehen in Tizianrot über, sie legt etwas Rouge auf, übermalt die Lippen ein wenig. Ihre Rundungen lassen darauf schließen, dass sie sahnige Ragouts und Süßes mag. Doch sie bringt anderes mit: Kartoffel-Gemüsesalat mit Rindfleisch und selbsteingelegte Anchovis mit harten Eiern und Kapern. Schön altmodisch, doch beinahe exklusiv bei einer Party für drei Personen.
Georges und Hervé nehmen ihr dankend die Schüsseln ab und reichen ihr stattdessen auf einem Damastkissen eine ausgeliehene Riesenschere. Hervé holt seine Kamera, um diesen historischen Moment für immer festzuhalten. Leider spielt das Blitzlicht nicht mit und die drei müssen diesen großen Augenblick in ihrem Gedächtnis bewahren.
Madame Brunier ist verwitwet, bekleidet ihr Amt mit Würde und ist bei allem, was sie tut, ein Beispiel für Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit. Eine Concierge ist Manager, Vertrauensperson, Babysitter, Ehevermittler, Friedensrichter, Sorgentante und Rezeptfundus.
Wenn die beiden Maler ihre Loge passieren, grüßen sie ihre Wohltäterin mit leichter Verbeugung und weit ausholender Armbewegung vom Herzen hin zu ihr: „Bonjour, Madame!“, sagt der eine, und der andere „Bonjour, maman!“ Da muss Madame an ihre beiden Jungen denken und würde am liebsten die ganze Flasche Lillet austrinken. Doch das kann dem Krieg nicht das Gottlose nehmen – auch wenn die Kanonen mit Weihwasser besprengt waren.
Irgendwann jedoch ist es vorbei mit dem Lachen, dem Herumalbern. Hervé baut entsetzlich ab. Der Doktor nuschelt etwas von einem Virus, vielleicht aus Höflichkeit. Georges besucht seinen Freund noch einmal im Krankenhaus – Zirrhose im Endstadium.
Hervés Tod nimmt ihn furchtbar mit. Er weiß, dass es auch ihn hätte treffen können. Georges brütet vor sich hin, verflucht die grünen Teufel und Feen. Würde geloben und schwören, nie mehr dieses Gift anzurühren, doch weiß er, dass er diese Kraft nicht aufbringen könnte.
Er kann an nichts anderes mehr denken als an seine Misere; die Stimmen in ihm werden lauter, drängender.
Georges zieht sich zurück von der Welt, igelt sich ein, lebt von seinen Ersparnissen. Er verbringt seine Zeit nur noch im Glashaus, lässt sich alles bringen und konzentriert sich auf seine Kunst. Er verspürt eine Flut in sich, nach langer Ebbe.
Etwas strömt in ihm, bewegt ihn mit aller Kraft, mit Schub und Sog. Endlich hat er sich befreit von dieser deprimierenden Auftragsmalerei; eine Visage nach der anderen ist einfach furchtbar.
Die Weite seiner normannischen Heimat tritt ihm vor Augen; er malt Meeresbilder – das abweisende Eisgrau von Le Havre, das blaue Traummeer von Cassis, mit all den Pinien und Zypressen. Unzufrieden mit den Ergebnissen, weiß er, dass er an Ort und Stelle den Elementen ins Auge blicken sollte.
Bleibt der Himmel. Und er spürt dessen Nähe, hört Stimmen in einer Sprache, die nur aus Vokalen besteht, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen ...
Georges de la Foire befindet sich schon geraume Zeit auf seiner Wanderung. Das Atelier ist nur Zwischenstation auf seiner langen Reise.
Er lebt in Welten jenseits dieser Erde, hat Visionen mit anderen Maßstäben. Seine Bilder werden größer; vier oder fünf Meter breit und drei in der Höhe. Sternenwelten, kosmische Themen – alles Herkömmliche sprengend.
Was schon gibt ihm dieser Planet? Klein lässt nur klein zu, für Großes ist kein Raum. Zwar ist Georges noch zugegen, doch gedanklich hat er dieses niedere Terrain schon längst verlassen.
Es widert ihn an – der ganze Tand und Schund, das Bornierte, allzu Menschliche. Angeekelt steigt er über all das hinweg: Engstirnigkeit, Geltungssucht, die Beschränktheit und den um sich greifenden Egoismus.
Hier oben, in dieser fast schon in die Stratosphäre ragenden Kanzel der Kunst kommen andere Maße mit anderen Bedeutungen ins Spiel – hier herrscht das Hehre, das Erhabene. Diese lächerlichen Glasscheiben können vor Wind und Regen schützen, doch nicht den Kontakt zwischen Mensch und All verhindern.
Georges' Bilder machen sprachlos. Sichtbar zwar, doch unbegreiflich, der atemnehmenden Tiefe wegen. Mit ihrem ätherischen Licht, nur mit Pinsel, Farbe und Georges' Genius kreiert, könnten sie als Vorlage dienen für Gottvaters Schöpfungen.
Der Zyklus ist vollendet. Das letzte Bild des Georges de la Foire ist die Krönung all seiner vorausgegangenen Werke: Ein geborstener Himmel liegt schwer auf dunklem Land; brutales, unwirkliches Licht zerteilt schwarze Wolkenballen. Der Künstler könnte nicht deutlicher die Schäbigkeit und Zerrissenheit der Erde und ihrer gierigen Bewohner darstellen.
Doch darüber gleißt die Verheißung! Blendend weiß, stärker als alle Sonnen, bändigt sie das Rumoren der Urkräfte. Es ist vollbracht, der kosmische Auftrag erfüllt.
Und tatsächlich, jetzt schreitet er daher – der größte Maler seiner Zeit, im Astrallicht der eigenen Schöpferkraft. Eine gewaltige Hintergrundmusik steigert sich zur Hymne auf die Kunst. Oboen fallen ein, Hornisten und Streicher komprimieren die Atmosphäre. Fanfaren verkünden den Sieg des Edlen und Schönen. Der Hocker kippt, seine Sandalen berühren nun nicht mehr den Boden, den schlüpfrigen, Basis aller irdischen Händel. Er gewinnt an Höhe, seine Konturen werden weich und zerfließen im Großen Licht.