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Die Wahrheit im Stroh
I.
Anfang Dezember musste Mascha sterben. Zuerst fiel so viel Schnee, dass unter dem Gewicht die Brücke, die von der Landstraße zum Seniorenheim führte, zusammenbrach. Dann setzte Tauwetter ein und die Eisdecke über den Fluss, der letzte noch verbliebene Zugang, wurde dünn und konnte weder betreten noch befahren werden.
Bald schrumpften die Vorräte auf ein paar Konserven, etwas Zucker, Öl und Trockengemüse zusammen. Wassili Bulakov, der Leiter des Seniorenheims, sah sich gezwungen, sein eigenes Schwein zu schlachten, um die Alten über den Winter zu bringen.
Mascha hatte immer nur feinste Abfälle von der Küche zu fressen bekommen. Sie war fett und schwartig geworden. Doch als sich Bulakov (nachdem er sich die über die Halbglatze gekämmten Haare zurechtgestrichen hatte) und der Vorarbeiter, Ippolit Norkin (mit bei jedem Schritt nach vorne wippender Adlernase), an diesem Tag dem Schweinestall näherten, merkte Mascha sofort, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging (obwohl Norkin das Messer hinter dem Rücken versteckt hielt). Mascha quiekte aufgeregt, drängte sich in die hinterste Ecke und ihre Bäckchen wurden noch röter als sie ohnehin schon waren. Ich sah die Angst in ihren kleinen Äuglein, die fast schon unter den Speckschwarten verschwanden. Bulakov warf sich auf den kotigen Boden und riss Mascha die Beine weg. Dann stieß ihr der Adler das lange Messer unterhalb des linken Vorderbeins hinein und zog es sofort wieder mit einem Ruck heraus.
Meine liebe, treue Mascha war tot. Tränen traten mir in die Augen. Ich empfand es als großes Unrecht, als ich den Alten dabei zusah, wie sie an ihren Knochen nagten. Mir wäre lieber gewesen, Mascha wäre noch am Leben und die Alten tot.
Auch den Heimleiter Bulakov sah ich in den nächsten Tagen mit gesenktem Kopf herumgehen. Ich glaube, er hatte alles nur wegen Nastassja getan. Die Pflegerinnen und Pfleger beobachteten das Stubenmädchen, mit den pechschwarzen Haaren und den dunklen, tiefliegenden Augen, immer mit kritischem Blick. Wahrscheinlich wussten sie über Bulakov und Nastassja schon längst Bescheid. Ansonsten hätte ihnen der Heimleiter die vielen Feiern niemals erlaubt.
II.
Wenn ich an Mama zurückdenke, dann sehe ich, wie sie mit schwarzen, glänzenden Halbschuhen im Hausflur steht. Als Mama starb, hörte ich auf zu essen. Mein Vater beugte sich mit seiner großen Hand über mich. Aber selbst diese Hand, nahe und drohend vor meinem Gesicht, konnte mich damals nicht dazu bringen, wieder zu essen.
Sasha, mein Pflegerfreund, meint, dass ich deshalb klein geblieben bin. Er zieht an der Zigarette und fixiert mich mit seinen vom Feiern übernächtigen Augen. Sascha sagt es so, wie er es sich denkt. Das rechne ich ihm hoch an.
Bei den Alten ist das anders:
„Mach dir nichts draus, Kleiner“, sagte Nikolai Myschkin, nachdem er mich wieder einmal bei Dame geschlagen hatte. Er nannte mich Kleiner, das hatte er schon immer getan, doch dieses Mal ließ Nina Kolmino, am Nebentisch, ihr ewiges Strickzeug sinken: „Ach, nenn ihn doch nicht immer so! Er wird schon noch wachsen!“, sagte sie mit entschiedenem Ton und setzte dann ihr falsches Großmutterlächeln auf.
„Ja, ja! Natürlich!“, pflichtete ihr Myschkin sofort bei. Dabei nickte er aufgeregt und ich bemerkte, wie er mit seinem Basedow-Augen verstohlen zu ihr hinübersah.
Bisher hatte ich mich mit meiner Körpergröße nicht beschäftigt. Es gab hier niemanden in meinem Alter, mit dem ich mich vergleichen konnte. Wichtiger war mir im Moment ohnehin die Frage, ob ich Myschkin noch einmal gewinnen lassen sollte, nur um seine Gesundheit zu schonen. (Er konnte sich maßlos aufregen, wenn er verlor.)
Ich zuckte mit den Schultern: „Es macht mir nichts aus,“ sagte ich leichthin. Doch dann bemerkte ich, wie sie wieder Blicke austauschten und schwiegen. Da wurde mir klar, dass sie nicht meinten, was sie sagten.
Mein Pflegerfreund, Sascha, ist da nicht so. Er beschönigt nichts. Doch was Mama betrifft, hat er unrecht. Ich fing schon bald wieder zu essen an, gleich nachdem mich diese Frau mit dem grauen Mantel von Vater weggebracht hatte. Warum man mich, einen kleinen Jungen, in dieses Heim für begüterte Senioren brachte, weiß ich nicht. Auch Sascha kann es nicht erklären. Er meint, dass man einfach auf mich vergessen hat: „Irgendwer hat sicher deinen Akt verlegt“, sagt er und grinst mich mit seinen vom Rauchen verfärbten Zähnen an.
Im Seniorenheim bekam ich sofort Kuchen zum Nachtisch. Doch schon bald nahm ich es mit dem Essen nicht mehr so genau. Mascha tat mir leid. Sie war die Kleinste im Wurf. Ihre Brüder und Schwestern drängten sie von den Zitzen weg, während ihre Mutter nur gleichgültig quiekte. Also brachte ich ihr Braten, Kuchen und Gemüse. (Ich war froh, dass ich das Gemüse nicht selber essen musste.) Weil sie neben den Küchenabfällen auch noch von mir versorgt wurde, wurde sie bald kugelrund und pausbäckig.
Ich glaube, dass ich Mascha damit lange das Leben gerettet habe. Bulakov, mit dem natürlichen Geiz des Verwalters ausgestattet, sah in Mascha, die scheinbar so einfach Gewicht zulegte, eine lohnende Investition. Ihre Brüder und Schwestern, die sie am Anfang von den Zitzen weggedrängt hatten, wurden bald geschlachtet oder verkauft, nur Mascha blieb hier – und wurde immer dicker und dicker.
Nachdem Mascha tot war, vergrub ich mich im Stroh. Es gab Zeiten, da fand ich nur dort meine Ruhe. Maschas Stall war leer, der kleine, umzäunte Auslauf mit der Suhle für immer verwaist. Der Geruch des Todes wehte vom Scheunentor herauf, wo der Vorarbeiter Ippolit Mascha in zwei Hälften geteilt und mit den Hinterbeinen auf einem Holzgerüst aufgehängt hatte. Hier, vergraben im Stroh, drangen die Geräusche zwar an mein Ohr, sie konnten mir jedoch nichts anhaben. Mascha dampfte in der kalten Winterluft ihr Leben aus, doch das alles perlte an mir ab, wie Wasser von einem Stein. Oft war es gut, ein bisschen wie ein Stein zu sein.
III.
Damals, als Mascha noch lebte, bin ich immer zur Mittagszeit zu ihr gegangen. Mit vollgefülltem Teller saß ich neben ihrer Box, warf ihr Essen durch das Holzgitter und labte mich an ihrem Appetit. Ich musste mich nur vor dem Vorarbeiter Ippolit in Acht nehmen. Als ich einmal seine groben Stiefel den Weg zum Schweinestall herunterstapfen sah und bald auch seine bedrohlich wippende Adlernase in Sicht kam, vergrub ich mich rasch hinten in der Scheune im Stroh. Doch ich bemerkte sofort, dass ich nicht alleine war.
Ippolit fand mich an diesem Tag nicht und nachdem er gegangen war, rutschte ich vom Stroh hinunter und wandte mich noch einmal um. Nastassja setzte sich oben am Haufen auf. Ähren hingen ihr im Haar. Das Stubenmädchen sah mich mit ihren dunklen, strengen Augen an, sagte jedoch nichts. Bald glitt mein Blick von ihrem Gesicht hinunter zu ihren schwarzen Halbschuhen, die irgendwie in dem fahlen Scheunenlicht glänzten, und die Erinnerung an ebensolche schwarze, glänzende Halbschuhe, die ich vor langer Zeit gesehen hatte, überkam mich in diesem Moment wie eine unstillbare Sehnsucht.
Doch zwischen ihrem Paar regte sich noch ein zweites; ein braunes Männer-Paar (das nicht glänzte) und von jemandem stammen musste, der sich unter ihr noch tiefer im Stroh vergraben hatte. Diese Schuhe kannte ich nur zu gut. Rasch drehte ich mich um und ging.
Die Begegnung im Stroh blieb unser Geheimnis. Zumindest was Nastassja betraf, wollte ich mir gerne einreden, dass sie aus Liebe zu mir nicht darüber sprach. Bald ertappte ich mich dabei, wie ich sie verträumt anstarrte. Ich fand heraus, dass auch sie keine gute Esserin war und sah darin eine geheime Übereinkunft, die uns beide in Zuneigung verband. Wenn mir in der Scheune das Stroh in die Unterhose rutschte und ich mich zu kratzen begann, dachte ich dabei an Nastassja, wie sie mit den schwarzen, glänzenden Schuhen vor einem vollgefüllten Teller saß - und nichts anrührte.
Der Heimleiter Bulakov bedachte mich nach dieser Begebenheit einige Zeit lang mit einem unbestimmten Blick, der nicht richtig streng war, aber auch nicht mehr gleichgültig, so wie früher, als er mich kaum beachtet hatte. Darauf angesprochen hat er mich nicht.
IV.
Auch Sascha habe ich nie davon erzählt. Von allen Leuten hier in dieser Einrichtung sind die Pflegerinnen und Pfleger, abgesehen von den Senioren, die besten Esser.
Ich begleitete Sascha jeden Morgen, wenn er den Alten die Medikamente brachte. Meist war er vom Vorabend noch verkatert und redete nur davon, mit welcher von den Pflegerinnen er getanzt oder etwas getrunken hatte. Sascha kontrollierte nicht, ob die Senioren die Medikamente auch tatsächlich einnahmen, obwohl das Vorschrift war. Er legte sie ihnen einfach aufs Tablett und ging gleich weiter.
Doch die Alten waren schon vergesslich und da durfte es nicht wundern, wenn dann Pillen übersehen und nicht eingenommen wurden. Auch gab es derer so viele: große blaue, längliche rote oder gesprenkelte runde. Doch wie ich von Sascha wusste, waren es nicht diese auffälligen, sondern die unscheinbaren (die kleinen grauen oder die geviertelten weißen), die so wichtige Dinge wie Blutdruck, Blutzuckerspiegel oder Blutverdünnung regelten. Und bei diesen unscheinbaren Pillen fiel es nicht einmal auf, wenn sie, nachdem Sascha in so sträflicher Weise seine Kontrollpflichten vernachlässigt hatte, gleich wieder vom Tablett verschwanden.
Doch ich bin nicht stolz darauf. Auch, dass ich Myschkin bei Dame bald nicht mehr gewinnen ließ und oft, nach meinen Siegen, so Sachen sagte, wie: Das war jetzt aber einfach! oder: Nah, früher haben Sie viel besser gespielt! Ich hörte damit auch nicht auf, als sich das Gesicht des ehemaligen Generals schon fast violett färbte und seine Augen immer weiter hervorzutreten begannen. Aber wer hätte mir das vorwerfen können? Konnte man nicht auch sagen, dass das der natürliche Lauf der Dinge war?
Als Myschkin im neuen Jahr seine Basedow-Augen für immer schloss und Nina Kolminos falsches Großmutterlächeln einige Tage später zu Stein gefror, hatte jedenfalls niemand Veranlassung dazu, das nicht so zu sehen. Beide waren alt und ihre Herzen (oder was auch immer) waren schon schwach. Und ob ein Pfleger es mit den Vorschriften nicht so genau genommen und nicht kontrolliert hatte, ob gewisse Medikamente eingenommen worden waren und ob danach jemand Pillen einfach wieder vom Tablett weggenommen hatte, konnte nicht mehr festgestellt werden.
„Ihre Zeit ist gekommen“, sagte der Heimleiter Bulakov beim Begräbnis der beiden mit streng über die Halbglatze gekämmtem Haar. (Wegen der zeitlichen Nähe ihres Ablebens hatte man sich für ein gemeinsames Begräbnis entschieden.) Trotzdem muss ich zugeben, dass mein Gewissen dadurch lange schwer belastet war.
V.
Bald danach wurde die Brücke wieder instand gesetzt und sofort rollten Laster vollgefüllt mit Lebensmittel darüber. Zwei Wochen später verließ Nastassja das Seniorenheim für immer. Es hieß, sie habe eine Anstellung weit weg in der Nähe ihres Heimatortes gefunden. Ich bemerkte Bulakovs gerötete Augen. Sein Haar war lange danach noch oft zerrüttet und gab stellenweise den Blick auf die darunterliegende Kopfhaut frei.
Am Abend von Nastassjas Weggang wurden die letzten Reste von Mascha serviert. Wieder beobachtete ich, wie die Alten an ihren Knochen nagten, und ich spürte Wut in mir aufsteigen, so unbändige Wut, dass mir nur mehr das Stroh helfen konnte.
Es war für mich unbegreiflich, wie schon wieder jemand, von einem Tag auf den anderen, einfach so aus meinem Leben verschwinden konnte. Doch so war es bei Mama gewesen und auch bei Mascha; und jetzt wieder bei Nastassja.
An diesem Abend feierten die Pflegerinnen und Pfleger eines ihrer Feste. Es kümmerte sie nicht, ob Myschkin noch lebte oder Kolmino tot war, ob Mascha zufrieden in ihrer Box quiekte oder Nastassja noch da war.
Lange dachte ich darüber nach und spürte, wie das Stroh auf mich zu wirkten begann. Ich erinnerte mich an Myschkin und Kolmino. Ihr Tod hatte mir Mascha nicht zurückgebracht und kein weiterer Toter konnte mir Nastassja oder Mama zurückbringen. Ich lauschte wie die Pflegerinnen und Pfleger feierten, wie sie lärmten, tanzten und tranken. Und je länger ich ihnen zuhörte, umso klarer wurde mir, was sie damit meinten: Ob Leben oder Tod, es war gleichgültig, es entzog sich unserer Kontrolle. Die Pflegerinnen und Pfleger sahen es bei ihrer Arbeit jeden Tag. Trotzdem feierten sie weiter ihre Feste. Sie ließen es nicht zu, dass der Tod die Herrschaft über ihre Gedanken übernahm.
Auch ich nahm mir vor, ihm die Treue in meinem Herzen zu halten, doch nicht mehr.
Als ich später vom Haufen herunterrutschte und mir die Halme von der Kleidung zu zupfen begann, entschied ich, dass ich von nun an Sascha bei der Medikamentenausgabe am Morgen nicht mehr begleiten wollte.