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Die verschlossene Kammer
Mama sagt, wir sollen Frau Bienzle lieber nicht mehr besuchen und um Himmels Willen nichts bei ihr essen. Aber wir gehen auf jeden Fall hoch, allein schon weil wir herausfinden wollen, was sie in ihrer Rumpelkammer versteckt. Zwei Tage später ruft Mamas Freundin Inke an und als ich sage, dass wir mal kurz zu Frau Bienzle gehen, wedelt sie vom Sofa nur schlaff mit der Hand.
Neuerdings können wir uns jedes Mal auf eine Überraschung gefasst machen, wenn wir hoch gehen. Einmal stand die Wohnungstür sperrangelweit offen. Das Radio war volle Pulle an und Basti meinte, vielleicht hat jemand die Frau Bienzle geklaut, aber sie hatte nur vergessen die Tür zuzumachen. Backen kann sie auch nicht mehr. Ich hatte am Sonntag Durchfall und Basti hat es voll erwischt, oben und unten kam es raus. Außerdem hat Frau Bienzle eine abgeschlossene Kammer und sie wird pampig, wenn wir wissen wollen, was da drin ist. Aber richtig pampig.
Als sie uns sieht, strahlt sie mit ihren schiefen Zähnen. „Hanna! Basti! Da freu ich mich aber, dass ihr mich besuchen kommt.“ Sie sieht aus wie eine liebe Hexe und ihre Stimme klingt kratzig, weil sie früher geraucht hat. Heute lutscht sie stattdessen Lakritze.
„Kniffel?“, fragt sie und wir nicken. „Es ist auch noch Kuchen da.“ Wir schütteln den Kopf.
„Ich würde eine Nudelsuppe nehmen“, sage ich, denn da kann man nicht viel verkehrt machen, heißes Wasser drauf und fertig. Basti will Lakritze. Frau Bienzle schüttet ihm aus der Tüte welche auf den Küchentisch. Immer, wenn er gewürfelt hat, wirft er einen Lakritz hoch und versucht ihn mit dem Mund zu fangen. Er schafft es nie. Also muss er unter den Tisch kriechen und den Lakritz am Pullover abreiben. Frau Bienzle kichert jedes Mal und deshalb macht er natürlich weiter mit dem Quatsch. Ich schlürfe meine Suppe und schmeiße einen Vierer-Pasch.
„Ach“, sage ich dann, „ich habe eine Idee. Wir können ja machen, dass der Sieger sich was wünschen darf.“
„Soso.“ Frau Bienzle kneift ein Auge zusammen. „Und woran hast du da gedacht?“
Ich tue so, als würde mir das gerade erst einfallen: „Vielleicht könnte ich mal einen Blick in deine Rumpelkammer werfen.“
„Ha, ganz schlechte Idee. Basti du bist dran.“
„Wieso, ist doch ne gute Idee“, sagt Basti.
„Vergiss es. Und jetzt Schluss mit dem Thema. Sonst könnt ihr eine Etage tiefer gehen und euch euer Zimmer angucken. Da habt ihr eure Rumpelkammer.“
Als ich aufs Klo gehe, komme ich an der Kammer vorbei. Ich drücke vorsichtig auf die Klinke, aber die Tür ist wieder abgeschlossen.
Im Bad steht das Fenster offen, es ist saukalt und ich kann mir nicht mal die Hände waschen, weil das Waschbecken voll mit Wasser ist. Da schwimmt was Beiges drin, ich glaube Unterhosen, igitt. Über dem Badewannenrand hängen tropfende Klamotten, man weiß gar nicht, wo man hintreten soll. Frau Bienzle will nämlich ihre Waschmaschine nicht reparieren lassen, weil sie denkt, dass die Handwerker sie betrügen. Deshalb wäscht sie alles mit der Hand. Sie sagt, früher hätten die Leute auch keine Waschmaschine gehabt. Basti hat gestaunt: „Ich dachte, Waschmaschinen gibt es schon, seit es Gott gibt.“
Auf dem Rückweg bleibe ich wieder bei der Kammer stehen. In der Küche knallt der Würfelbecher auf den Tisch. „Straße!“, schreit mein Bruder und Frau Bienzle sagt: „Jetzt müssen wir aber auf die Hanna warten.“ Ich bücke mich schnell und gucke durchs Schlüsselloch. Ein Stück Fenster. Der Vorhang ist zugezogen, das haben wir schon vom Hof aus gesehen. Letzte Woche, als Papa auf Montage war, haben wir heimlich sein Fernglas ausgeliehen und versucht vom Hof aus was zu erkennen, aber nichts zu machen. Dafür haben wir fremde Leute hinter den Fenstern ausspioniert. Die meisten waren langweilig, nur eine Frau mit Lockenwicklern und weißem Zeug im Gesicht hat uns mit dem Finger gedroht.
Durchs Schlüsselloch sieht man nicht viel. Nur noch die Wand neben dem Fenster. Die Tapete hat ein Muster, schwer zu erkennen.
„Hanna!“ Ich zucke zusammen. Frau Bienzle sieht jetzt aus wie eine böse Hexe, ihre Augen funkeln und sie macht einen Schritt auf mich zu. „Was soll das denn?“
Mir wird ganz heiß. Da erscheint hinter ihr Basti. „Du hast ja nasse Socken. Hast du daneben gepullert?“ Manchmal ist mein kleiner Bruder doch zu was nütze.
„Du liebe Güte. Kind!“ Ich muss meinen Fuß hochhalten, damit Frau Bienzle fühlen kann.
Dann hängt sie meine Socken über die Heizung und will mir welche leihen. Sie verschwindet lange im Schlafzimmer. Irgendwann ruft sie: „Was suche ich hier eigentlich?“ Basti und ich schreien im Chor: „Socken!“
„Stell dir mal vor, sie hätte uns vergessen und sich ins Bett gelegt und wäre eingeschlafen“, flüstert Basti.
„Dann könnten wir wenigstens in Ruhe nach dem Schlüssel suchen“, antworte ich leise. Wir entdecken es fast gleichzeitig, das Schlüsselbrett neben der Tür. Über jedem Schlüssel steht etwas geschrieben. „Fahrradk.“, „Dachbd.“, „Ersatzschl.“, lese ich. Nur über einem Schlüssel steht nichts. Auf einmal scheppert es und Frau Bienzle schreit. Es klingt wie „Scheiße“, aber das kann ja wohl nicht sein. Wir rennen zu ihr. Sie steht schwankend vor dem Kleiderschrank. Eine Spieleschachtel liegt neben ihr auf dem Boden und alle Figuren und Würfel kullern durch die Gegend.
„Ich dachte, ich hol euch mal das Spiel vom Schrank und dann ist es mir auf den Kopf gefallen. So was Blödes, ich glaube, ich bin geschrumpft.“ Sie reibt sich die Stirn und zittert. Dann setzt sie sich ganz langsam auf das Bett. Jetzt sieht sie nicht mehr aus wie eine Hexe, sondern wie eine sehr, sehr alte Frau. Immerhin blutet es nicht.
„Soll ich Mama holen?“, frage ich, während Basti sich hinhockt und die Figuren zurück in die Kiste wirft.
„Ach, nee, eure Mutter soll sich keine Sorgen machen. Die tut schon so viel für mich. Lasst mich nur mal einen Moment verschnaufen.“ Wir warten und sie schnauft. Bis sie meine nackigen Füße entdeckt. Sie greift hinter sich.
„Aber guck mal, was ich für dich gefunden habe.“
Ich sehe sofort, dass das die kratzigsten Socken der Welt sind. So was ziehe ich nicht an.
„Sag mal, Frau Bienzle.“ Verzweifelt gucke ich mich um. „Was ist denn das für ein Bild da, neben dem Kleiderschrank?“
Volltreffer. Frau Bienzle strahlt. “Jahaa! Guck dir das mal genau an. Was siehst du da?“
„Ein Auto und eine Frau mit einem dicken Mantel.“
„Jetzt geh mal ran und guck ordentlich!“
Die Frau auf dem Foto lacht. Sie hat dunkle Locken. Und ziemlich schiefe Zähne.
„Das bist du!“, schreit Basti.
„Na bitte, geht doch! Auf diesem Bild seht ihr den ersten weiblichen Taxifahrer von Schönberg!“
„Ich dachte, du hattest einen Kiosk“, rufe ich.
„Das mit dem Kiosk war später. Und, seht ihr, was das für ein Wagen ist?“
„Ferrari?“, fragt Basti.
„Quatsch, ich bin doch keine Rennen gefahren. Das ist ein Mercedes. In der Schublade habe ich noch mehr Fotos. Greif da mal rein, Hanna, und hol den ganzen Packen raus.“
„Ich geh mal aufs Klo.“ Basti hat für alte Fotos keine Geduld.
Wir verteilen die Bilder auf dem Bett. So jung habe ich Frau Bienzle noch nie gesehen. Sie ist ziemlich herumgekommen und sie hat berühmte Leute mit ihrem Taxi mitgenommen, zum Beispiel den Bürgermeister von Schönberg. Die Fotos sind total vermischt, sie hatte ganz verschiedene Frisuren, am schönsten finde ich eine Hochsteckfrisur mit Locken und sie hatte mehrere sehr gute Freunde. Und dann steht sie mit ihrem Mann vor dem Kiosk. „Pfefferkörnchen“ steht auf einem Schild darüber. Ihr Mann ist jetzt schon lange tot. Auf einem Bild ist sie so alt wie ich, hat eine Schleife auf dem Kopf und guckt grimmig, auf dem nächsten ist sie schon eine Braut. Und dann lacht sie wieder aus dem Fenster von ihrem Taxi. Mir ist ganz schwindelig von dem hin und her.
„Wo ist denn dein Auto jetzt?“, frage ich.
„Verschrottet wahrscheinlich. Kind, ich geh auf die neunzig zu, meine Augen tun's nicht mehr so richtig. Ich hab das Fahren schon vor zwanzig Jahren drangegeben. Ich bin froh, wenn ich geradeaus gehen kann, ohne zu fallen.“
„Mama meint, du brauchst jemanden, der dir hilft, mit dem Haushalt und so.“
„Nee, mir kommt kein Fremder in die Wohnung. Am Ende soll ich noch hier raus. Ich geh in kein Heim. Lieber sterbe ich.“
„Ups“, sage ich.
Basti sitzt plötzlich hinter uns. „Ich will nach Hause.“
Eigentlich hätte ich gerne noch weiter Bilder geguckt, aber er sieht so blass aus. Ob ihm schon wieder schlecht ist? Von den paar Lakritzen? Frau Bienzle räumt die Fotos zusammen und sagt, dass sie sich jetzt mal eine Runde hinlegen will. Meine Socken sind zwar noch nicht ganz trocken, aber warm. Basti nimmt meine Hand, das macht er sonst nie.
„Tschüss, Frau Bienzle“, sagt er und zieht mich zur Tür.
„Was hast du denn?“, frage ich im Treppenhaus.
„Psst. Gleich.“ Seine Hand in meiner ist kalt und er hält mich fest, bis wir zurück sind. Zu Hause hängt Mama immer noch am Handy. Wir machen vorsichtshalber die Tür zum Kinderzimmer zu und setzen uns auf mein Bett. Basti flüstert mir ins Ohr.
„Ich war in der Kammer.“
„Ach!“
Einen Moment lang bin ich sauer, weil er ohne mich drin war, aber es sieht nicht so aus, als ob es ihm gut bekommen wäre.
„Und?“
„Da ist was drin. Da wohnt was.“
„Ja was denn?“
„Ein Gespenst.“
„Ein Gespenst!?“ Ich reiße mich zusammen. „Es gibt keine Gespenster.“
„Gibt es doch.“
Automatisch flüstere ich auch.
„Wie sah es aus? Hat es was gesagt?“
„Ja, nix hat es gesagt ... es hockte da in der Ecke und hat auf mich gelauert. Ich hätte fast geschrien!“
„Es heißt: Mir aufgelauert.“
„Kapierst du nicht? Es hat mich gesehen. Und die Arme nach mir ausgestreckt … “
Er reißt die Augen auf, macht die Hände wie Krallen und auf einmal ist mir kalt. Ich schüttle ihn.
„Basti! Guck wieder normal. Bitte!“
„Bestimmt kann es durch Wände gehen und sucht mich.“ Er fängt an zu heulen.
„Das macht keinen Sinn. Dann könnte man es ja wohl nicht einsperren, wenn es durch Wände gehen könnte. Hast du wieder abgeschlossen?“
Basti schnieft. „Klar.“ Doch auf einmal erstarrt er und greift in seine Tasche. Dann hält er den Schlüssel in der Hand.
Basti will auf keinen Fall hochgehen, wegen Frau Bienzle und wegen dem Gespenst. Ich trau mich auch nicht alleine. Mama und Papa können wir nichts sagen. Die wären sauer, dass Basti den Schlüssel genommen hat. Vielleicht hat Frau Bienzle auch schon gemerkt, dass der Schlüssel fehlt und die Polizei verständigt, meint Basti, aber ich denke, dann würde sie uns doch als erstes verdächtigen. Und wenn sie es nicht merkt, brauchen wir es ihr ja gar nicht zu sagen. Aber wohl ist uns nicht dabei. Mama wundert sich, dass Basti jetzt wieder mit Licht schlafen will.
Am dritten Morgen krabbelt Basti in mein Bett. „Ich habe heute Nacht von dem Gespenst geträumt.“
„Oje“, sage ich, aber er schüttelt den Kopf.
„Es war gar nicht böse und es hat gesagt, es gruselt sich in dem Zimmer und Frau Bienzle kann es jetzt gar nicht mehr füttern, weil abgeschlossen ist.“
„Echt?“
„Echt. Es hat Hunger.“ Er zupft an der Bettdecke rum. Dann sagt er: „Wenn du mitkommst, geh ich hoch und geb den Schlüssel zurück.“
Ich bin mir nicht sicher, ob man sich auf Gespenster in Träumen verlassen kann. Außerdem, was fressen Gespenster? Womöglich Nachbarskinder. Und die Frau Bienzle könnte ja trotzdem sauer sein.
In der Schule kann ich gar nicht aufpassen. Ich trödel auf dem Nachhauseweg und wir stochern beide in unserem Mittagessen herum. Aber als Basti die Treppe hochsteigt, geh ich mit.
Die Klingel kommt mir heute schrecklich laut vor. Und dann macht Frau Bienzle gar nicht auf. Wir klingeln nochmal. Nichts. Keine Schritte. Ich flüstere: „Gut wir haben es probiert, mehr können wir nicht machen.“ Basti nickt und trotzdem drücke ich nochmal auf den Knopf. Nichts. Wir wollen schon wieder gehen, da hören wir eine heisere Stimme. „Hanna? Basti?“
„Ja!“ schreien wir und Frau Bienzle ruft, dass wir Mama holen sollen.
Mir war nicht klar, dass ein Oberschenkel einen Hals hat. Den hat Frau Bienzle sich gebrochen, als sie die Fenster putzen wollte und von der Leiter gefallen ist. Der Krankenwagen war da, mit Sirene und hat sie in eine Klinik gefahren. Wir sind Helden, weil wir sie gerettet haben und wir haben sehr viel Eis bekommen.
Aber wir machen uns immer noch Sorgen um das Gespenst. Als Mama für Frau Bienzle Nachthemden aus der Wohnung holt, fragen wir, ob sie was gehört hat, ein Wimmern zum Beispiel. Sie guckt ganz komisch und sagt: „Was soll denn da wimmern?“
Wir besuchen Frau Bienzle im Krankenhaus. Basti hat als geheime Botschaft ein Gespenst gemalt, dass hungrig guckt. Aber weil Papa meinte, das sei so traurig, habe ich ein paar Herzen aus meinem Stickeralbum drumherum geklebt und Basti hat den Gespenstermund an den Seiten ein bisschen nach oben gebogen. Frau Bienzle guckt das Bild lange an, aber sie sagt nur „Ach, liebes Kind!“ Dann schläft sie ein.
Es waren Leute vom Amt da, mit einem Zettel. Mama ist fast umgefallen, als sie ihn gelesen hat, denn darauf hat Frau Bienzle früher mal geschrieben, dass Mama sich notfalls um sie kümmern soll. Und jetzt ist es so weit, weil sie so tüdelig geworden ist, dass sie vom Krankenhaus direkt in ein Heim umziehen muss. Ich sage, dass das nicht geht, weil Frau Bienzle nicht in ein Heim will, aber Mama sagt, zu Hause geht es auch nicht mehr.
Wir dürfen mit, als Mama und Papa einen Gang durch ihre Wohnung machen, um Sachen zu sortieren.
„Nanu“, sagt Mama. „Hier ist ja abgeschlossen.“
Basti kommt aus der Küche und hält den Schlüssel hoch: „Das könnte der richtige sein.“
„Mensch, ihr kennt euch ja hier aus“, sagt Mama. Wir bleiben etwas hinter ihr, als sie aufschließt und ich rufe, „Papa, willst du nicht auch mal gucken?“
Doch da steht Mama schon im Zimmer, macht zwei Schritte zum Fenster und reißt die Vorhänge auf. „Dieser Raum ist ja seit Ewigkeiten nicht betreten worden, guckt euch mal die Staubschicht an.“
Aber wir gucken nur in die Ecke.
Da ist kein Gespenst.
Da ist was mit einem weißen Bettlaken zugedeckt.
Es bewegt sich nicht.
Mama redet weiter, während sie das Fenster aufmacht: „Das ist ja ein Jammer, so ein schöner Raum - den nur als Rumpelkammer zu nutzen. Gut, der Blick in den Innenhof ist so mittelprächtig, aber hier hätte man doch ein gemütliches kleines Zimmer draus machen können.“
„Lauter Äffchen“, sagt Basti und Mama dreht sich um. Sie sind gerade noch zu erkennen, Äffchen, die durch Bäume turnen, mit dem Kopf nach unten hängen, Bananen fressen. Was für eine merkwürdige Tapete. Mama wird ganz still, während sie im Raum umherschaut. Dann geht sie zu dem Gespenst und zieht das Laken herunter. Ein blauer Kinderwagen.
„Oje“, sagt Mama. Wir gehen näher ran und ich erwarte schon, dass da ein kleines verstaubtes Baby drin liegt, aber da ist nur ein Aktenordner drin. Mama öffnet ihn, schaut hinein, liest, blättert, liest, blättert und klappt ihn zu.
„Was ist?“, fragt Basti.
Mama guckt uns so an, als wolle sie sagen, dass das nichts für uns ist. Aber dann seufzt sie.
„Frau Bienzle hat wohl mal ein Baby gehabt. Aber das ist leider gestorben.“
„Frau Bienzle?“, sagt Basti. „Aber Frau Bienzle ist doch keine Mutter. Sie ist doch ganz alt.“
„Kapierst du's nicht?“, sage ich. „Als die Frau Bienzle das Baby hatte, war sie doch noch ganz jung.“
„Das ist über fünfzig Jahre her“, sagt Mama.
„Fünfzig Jahre!“, ruft Basti. „Warum sperrt sie denn dann immer noch das Zimmer ab?“
„Weil sie immer noch traurig ist, wenn sie das hier sieht. Aber trennen kann sie sich auch nicht.“
Basti schüttelt den Kopf.
„Glaub ich nicht. Frau Bienzle war mal Taxifahrerin.“
Mama lächelt. „Ach, Basti.“
Dann kommt Papa. Er sieht sich um und dann zu Mama.
In dieser Nacht dürfen wir ausnahmsweise bei Mama und Papa mit im Bett schlafen. Und Mama verrät uns, dass wir beinahe drei Geschwister gewesen wären. Aber das Baby ist schon in ihrem Bauch gestorben. Ich war noch ganz klein und mein Bruder noch gar nicht da. Und manchmal ist sie auch traurig deswegen. Sie holt eine zugeklebte Tüte aus dem Kleiderschrank, da ist noch ein Mützchen drin, das sie für das Baby gestrickt hat, als sie schwanger war.
Frau Bienzle ist doch nicht gestorben, als sie ins Heim gekommen ist. Sie humpelt da mit ihrem Rollator durch die Gänge und Basti schreit: „Taxi, Taxi!“ Dann darf er sich vorne auf das Brett setzen und sie schiebt ihn zwei Meter, bis sie verschnaufen muss. Sie ist ganz schön tüdelig geworden. Bei Kniffel müssen wir ein bisschen mithelfen.
Ich frage mich, ob es wohl noch mehr Menschen gibt, die ein abgeschlossenes Zimmer haben oder eine zugeklebte Tüte. Das würde mich interessieren. Papa meint, ich kann ja Psychologin werden und den Leuten helfen, ein bisschen Luft an ihre Geheimnisse zu lassen.