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Die vergessene Himbeere
Peter sitzt auf einer Böschung, zieht sich fröstelnd den Rollkragen über das Kinn. Er beobachtet die ersten Möwen und die Schiffe welche den Strom durchpflügen. Anders als bei aufgegrabenem Ackerland vermag die Geschmeidigkeit des Wassers, sich selbst wieder zu einen. Die aufgeschäumten Wellen werden flacher bis der Wasserspiegel wieder glatt und unverletzt vor ihm liegt. Wie das wohl mit einer Menschenseele ist? Ob sie verkrustet, aus immer wieder aufbrechenden Wunden blutet? Oder wird sie eines Tages neu umspült von Lebensfreude bis die innere See sich glättet?
Er lässt sich zurückfallen in die immer wieder neuen Wahrheiten seines Lebens und liegt einfach eine Weile da, blickt den Wolken nach. Nicht weit entfernt, versucht ein kleiner Hund kläffend seine Leine zu durchbeißen. In zwei, vielleicht drei Stunden werden hier Kinder lachend spielen. Jetzt am frühen Morgen ist es noch recht still am Fluss. Peters Hände umfassen feuchtes Gras und Erdklumpen. Seine Sinne sind wach und jeder Atemzug bedeutet Lebendigkeit.
Eine Weile durchstreift er die Auenlandschaft. Manchmal tropft es von den Bäumen zwischen denen sich in Bodennähe noch vereinzelt Nebel hält. Das warme Orange der Sonne des Sommers ist einem kühlen Gelb gewichen. Dennoch verändert sich die Umgebung zusehends, während sich ihr Licht Stück um Stück weiter über die Landschaft ausbreitet. Das satte Braun der Erde sieht nicht mehr trostlos aus, sondern verspricht neues Leben, Früchte und Nahrung. Kleine Lebewesen drängen aus Spalten, Erdlöchern und unter dem Laub hervor, in den aufbrechenden Tag hinein. Auch Peter verspürt ein geistiges und körperliches Erwachen. Mit fast animalischer Sturheit hatte er immer gegen gesellschaftliche Zwänge gekämpft und sich dabei immer tiefer in den Schnüren des einengenden Alltagskorsetts verheddert. Jetzt ist die Zeit des Loslassens gekommen.
Er verlässt einen kleinen Birkenwald der im Sonnenlicht sein düsteres Gesicht verloren hat. Er nimmt die Bewegung der Blätter als ein in Wellen immer wiederkehrendes Rauschen wahr. Liebe durchflutet ihn, zu sich und allem was da ist. Liebe die keinen Ankerplatz braucht, frei ist. Sein Blick folgt dem verspielten Tanz eines einzelnen Blattes, welches in intensiven Herbstfarben leuchtend, geräuschlos zu Boden gleitet. Er pflückt von einem verwilderten Strauch eine vom Sommer vergessene Himbeere und zerdrückt sie genussvoll und mit geschlossenen Augen auf der Zunge. Kleinste Kernchen verteilen sich in seinem Mund. Der köstliche Saft der winzigen Frucht ist säuerlich und süß zugleich.
Vor ihm gurgelt leise ein Bach. Kindheitserinnerungen werden wach. Er spürt sich wieder unbeschwert, ohne die vielen Lasten denen er sich immer verpflichtet fühlt. Es riecht angenehm modrig nach feuchtem Moos und nasser Rinde. Die Steine im Bachbett liegen zu weit auseinander um sie als Trittbrett nützen zu können. Unschlüssig setzt Peter einen vorsichtigen Schritt in den Bach und erwartet, dass kalte Nässe seine Beine schwer machen würde.
Aber das Wasser erscheint ihm nicht als kalte Berührung, sondern es durchfließt ihn warm und pulsierend. Während er den zweiten Fuß am Grund des Baches aufsetzt sieht er wie seine Beine die wellige Bewegung des Wassers annehmen. Der Stoff seiner Hose weicht dem blaugrünen Farbenspiel des Baches und seine Beine werden ein Teil von ihm.
Verwirrt streicht Peter mit der Hand durch sein windzerzaustes Haar und streift damit den herabhängenden Ast einer Birke. Schon verflechten sich mit seinen Haaren zarte Triebe und es wird durchwoben mit orangefarbenen, roten und gelben Blättern, glänzend im Sonnenlicht. Ein eigenartiges Gefühl durchströmt seinen Körper. Die Anspannungen des Alltags, welche seinen Körper steif werden ließen, weichen geschmeidigen Bewegungen.
Wieviel Muskelkraft und Energie hatte er eingesetzt um seinen eigenen Weg zu gehen. Gegen wie viele Ströme ist er geschwommen und hat sich allem und jedem widersetzt von dem er seine Autonomie verletzt sah. In diesem Moment wird alles leicht, wirft er alle Last von sich. Indem er sich einlässt auf die Natur, sich mit ihr verbunden fühlt, lösen sich die inneren Widerstände beinahe augenblicklich auf.
Er berührt sacht die Blattspitzen eines Efeus der sich an einem kleinen Holzzaun hochschlängelt. Die Stiele der Blätter dehnen sich aus, streicheln sanft um seinen Arm und wachsen an seinem Mantel empor. Er fühlt sich in der Natur geborgen und erkennt sich als einen Teil von ihr. Der Stoff verfärbt sich in einem fort, wird den Farben und Bildern der umgebenden Landschaft gleich.
Ein leiser Windhauch lässt Peter frösteln. Muss er hier verwurzeln, endgültig am Weiterschreiten gehindert? Zögerlich hebt er ein Bein aus dem Wasser und fast schwerelos tritt er aus dem Bach heraus. Er geht über die feuchte Wiese und fühlt, wie das Leben ihm die Achtung zurückgibt die er ihm zukommen lässt. Herbstblumen klettern an seinen Schuhriemen entlang, verändern bei jeden Schritt die Farben und Muster seiner Hose, seiner Schuhe. Kurz hebt er das rechte Hosenbein und schaut verwundert auf die blumengetränkte grünlich gelbe Haut seiner Füße. Wohin er sich wendet, wie er sich dreht, er nimmt umgehend die Farben und harmonischen Schwingungen der Natur in sich auf, verwandelt sich vom umgegrabenen Ackerland in blühende Kleewiesen. In der Akzeptanz dessen was ist, findet er seine Freiheit. Er selbst entscheidet wo er bleiben will, wann und wohin er gehen möchte, erlaubt sich treiben zu lassen. Wenn er die Hand ausstreckt, über den Rand des vor ihm liegenden Tals hinaus, werden seine Finger zu einem Spiel der Wolken die mit dem Blau des Himmels über seine Handflächen ziehen.
Langsam lässt er die Hand sinken. Weit draußen erblickt er eine Gestalt. Halb ist sie Himmel, halb Erde. Das Davonfliegen in sonnendurchflutete Grenzenlosigkeit scheint ihr ebenso möglich, wie das Eintauchen in das Meer zu ihren Füßen. Ihr weiter Umhang spielt mit den Schmetterlingen, verschmilzt mit dem sandigen Hügelland, während ihr langes Kleid im Ozean versinkt. Peter kennt nicht den Weg zu ihr und weiß doch, er wird ihr begegnen, indem er sich dem Rhythmus der Gezeiten anvertraut und sie dadurch überwindet.