Die unspezifische Antwort
Ich bin ein Opfer, so viel kann ich sagen.
Das letzte, woran ich mich erinnere, sind die Anweisungen meines Bruders. Seine Erklärungen, wie wir das Haus einnehmen. Nicht ein einziges Mal die Frage 'Warum?'. Nur eine andere: 'Wie weit würdest du gehen, um hier heraus zu kommen?'. Meine törichte, unspezifische Antwort: 'Sehr weit'.
Wir sprachen nur in Rätseln in diesen Tagen. Das war im vergangenen Jahr, Juni glaube ich. Er ließ mich bei sich wohnen, dafür durfte ich seine Freundin nageln. Sie hatte ein Tattoo unter der Achsel, das seinen Namen zeigte. Und das musste ich mir ansehen. Ich goss auch die Pflanzen.
Die Beziehung zu meinem Bruder war außergewöhnlich, denke ich. Wir verstanden uns, und wir redeten, doch wir schwiegen auch viel. Oft mehrere Tage. Bis jemand das Schweigen brach, mehr aus einem Versehen heraus als aus Absicht. "Hast du den Abwasch gemacht?" oder so.
Die Idee, unseren Eltern dies anzutun, kam selbstredend nicht von mir. Anfangs sprachen wir in diesem Zusammenhang und wenn wir den Begriff 'Enthauptung' verwendeten vom Geschäftlichen. Unser Vater und sein bekiffter Betrieb. So nannten wir das. Dann setzten wir uns öfters zusammen und kifften selbst. Abends, anfangs vor dem Fernseher, später auf der Couch. Und dort sprachen wir über unsere gemeinsame Vergangenheit. Zählten die Dinge auf, die uns in den Kopf kamen, Situationen aus zwei unterschiedlichen Kindheiten. Und je später in der Nacht es wurde, desto emotionaler wurden die Beschreibungen. Ich konnte diesen Vorgang gut beobachten. Mein Bruder war voller Wut, die ich anfangs nicht verstand. Sie richtete sich nicht gegen Vater oder Mutter sondern gegen das Gesamtgefüge. Er warf allem, das ihn in der Kindheit geprägt hatte, vor, es hätte in ihm Vernarbungen hinterlassen, Erinnerungen, die er nicht abschütteln konnte. Und die ihn, so absurd sie auch waren, keine Nacht in Ruhe ließen. Je mehr er erzählte, fühlte ich, wie auch ich mich langsam in diese Situationen einfühlte, die Worte wiederholten sich zwar nach wenigen Tagen, doch mit seinem Erzählen gelang es ihm immer noch geschickt, mich einzulullen, wie in einen Kokon.
Ich liebte ihn wirklich. Zum ersten Mal. Ich liebte ihn nicht mehr nur, weil man mich (als Kind) in seiner Anwesenheit akzeptierte hatte oder weil er das schönere Spielzeug gehabt hatte.
Kurz zuvor hatte er mit seiner Freundin Schluss gemacht. In der Nacht fühlte ich nichts mehr. Ich beobachtete seine sanften Bewegungen, er ging vor mir, schüttelte die Arme, seine Bewegungen waren galant, wie das bezaubernde Wallen eines fallenden Seidentuchs. Ich sah natürlich, was er tat, doch es schien Sinn zu machen im Umfeld. Es schien aufzugehen. Im Gesamtgefüge.
Wir wurden zu Dämonen und ließen so unsere Meister zu Teufeln aufsteigen.