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Die unsichtbare Phase
Sie hatte Tom vor drei Monaten beim Spanischkurs kennengelernt.
Ich will mit Dir ficken, stand auf dem Zettel, den er ihr in der zweiten Kursstunde zusteckte. Als sie den Kopf hob, warf er ihr diesen provozierenden Blick zu und eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper. Nach der Stunde schafften sie es kaum in seine Wohnung, noch im Hausflur fielen sie wie ausgehungert übereinander her.
Den Zeitpunkt, ab dem ihr alles scheißegal war, konnte Sabine nicht mehr genau bestimmen. Sie fühlte sich allein. Irgendwann fing sie an, unvorsichtig zu werden. Montagabend traf sie sich mit Tom im Kino. Er fasste ihr im Schutz der Dunkelheit zwischen die Beine und flüsterte ihr Schweinereien ins Ohr. Woody Allen hielt in letzter Zeit auch nicht mehr das, was er versprach, deshalb war es nicht tragisch, dass sie die Hälfte des Films verpassten. Nach der Vorstellung schlenderten sie kichernd wie zwei Teenager Richtung Ausgang, als plötzlich Carola vor ihnen stand.
„Hallo Sabine“, sagte Carola, „na, passt Bernd heute auf die Kinder auf?“
„Ähm, ja. Bernd ist zuhause.“ Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und ärgerte sich, dass sie nicht sitzengeblieben waren, bis der Abspann vorbei war. Carola machte keine Anstalten weiter zu gehen und musterte Tom mit unverhohlener Neugier.
„Also, wir müssen dann auch mal“, sagte Sabine und ging so lässig wie möglich nach draußen.
„Scheiße!“, brach es aus ihr heraus, als sie um die Ecke waren.
„Das musste doch früher oder später passieren. Hey, wir leben in einer Kleinstadt!“, sagte Tom mit breitem Grinsen. „Wer war das überhaupt?“
„Ach, so eine blöde Kollegin von Bernd – und du lachst auch noch!“ Sie gab ihm einen halbherzigen Faustschlag in die Seite.
„Aua! Jetzt komm, sie wird es ihm nicht gleich aufs Brot schmieren. Du warst mit einem Bekannten im Kino, na und?“ Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. „Sehen wir uns Freitag?“
Sie blieb einen Augenblick auf der Bettkante sitzen. Bernd schlief selig, seine Lippen gaben beim Ausatmen ein flatterndes Geräusch von sich. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal abends etwas gemeinsam unternommen hatten. Die roten Leuchtziffern zeigten 23:58 an. In kaum mehr als fünf Stunden würde Bernds Wecker klingeln. Jeden Morgen vor der Arbeit ging er eine Stunde Laufen. Wenn er gegen Viertel vor sieben zurückkam, stand sie gerade unter der Dusche. Er weckte dann die Kinder und half ihnen beim Anziehen. Danach ging er unter die Dusche und Sabine richtete das Frühstück. Gemeinsam aßen sie ihre Getreideflocken mit Mandelmilch und etwas frischem Obst. Sie verließ gegen sieben Uhr dreißig als erste das Haus, Bernd brachte die Zwillinge fünfzehn Minuten später zur Grundschule.
Wenn sie andere Mütter jammern hörte, dass ihre Männer keinen Streich im Haushalt taten, geschweige denn, sich um die Kinder kümmerten, konnte sie nur mit dem Kopf schütteln. Bernd war ein verantwortungsbewusster, fürsorglicher Ehemann und Vater. Sie hatten seit sieben Monaten nicht mehr miteinander geschlafen.
Leise kroch sie unter die Decke und schloss die Augen. Bernd lag auf der anderen Seite des Bettes, doch es hätte genauso gut die andere Seite der Erdkugel sein können. Ihre Gedanken kreisten um Carola und ob sie Bernd morgen früh bei der Arbeit brühwarm von ihrer Begegnung im Kino erzählen würde. Am meisten erschreckte sie die Erleichterung, die sie bei dem Gedanken verspürte, dass es endlich heraus wäre.
Seit fünf Minuten ließ sie brühend heißes Wasser auf sich herunterprasseln.
Die Haut an ihrem Dekolleté war bereits knallrot. Mit dem Einwegrasierer entfernte sie die störrischen Härchen unter ihren Achseln. Danach waren die Beine dran. Sie hörte, wie Bernd die Haustür aufschloss. In letzter Zeit fühlte sie ihm gegenüber eine nie da gewesene Aggressivität. Seine Kaugeräusche beim Essen konnten sie zur Weißglut treiben. Abends um neun schlief er auf der Couch ein, knirschte laut mit den Zähnen und wenn er in Gegenwart von Bekannten sein aufgesetztes Lachen anstimmte, würde sie ihm am liebsten ins Gesicht schlagen.
Sabine zögerte einen kurzen Moment, dann fuhr sie mit dem rosa Plastikrasierer entschlossen über den schmalen Schamhaarstreifen, den sie normalerweise stehenließ.
„Morgen Schatz“, Bernd kam ins Badezimmer und fing an, sich aus seinen durchgeschwitzen Laufklamotten zu schälen, „boah, heute war ich echt topfit, hab die große Runde ganze vier Minuten schneller geschafft.“
„Mhh“, murmelte sie und verteilte provozierend Bodylotion auf ihren Brüsten. Falls er ihre neue Intimfrisur, oder besser gesagt, das Fehlen derselbigen, registriert hatte, ließ er sich nichts anmerken. Sein Schwanz baumelte schlaff zwischen den drahtigen Beinen herum, während er die feuchten Socken auszog. Jetzt wäre der Moment, es ihm zu sagen.
„Kannst du mir demnächst nochmal ein paar Sportsocken kaufen? Die hier sind schon ganz schön durchgescheuert.“ Einen Augenblick starrte sie ihn sprachlos an, dann stieg sie in ihren Slip und verließ das Badezimmer.
Den ganzen Vormittag saß sie wie auf Kohlen an ihrem Schreibtisch. Alle fünf Minuten kontrollierte sie ihr Handy. Was hatte Carola überhaupt gesehen? Würde sie Bernd etwas sagen? Und wann würde sie es ihm sagen? Gegen zwölf hielt Sabine es nicht mehr aus und wählte Bernds Nummer.
„Hallo, was gibt’s?“ Seine Stimme klang wie immer.
„Äh, ich wollte dich daran erinnern, dass du die Kinder heute Abend vom Turnen abholst.“
„Ja klar, wie jeden Dienstag.“
„Ja, wollte es nur nochmal sagen.“
„Aha. Sag mal, ist irgendwas? Du warst heute früh schon so komisch …“ Jetzt könnte sie etwas sagen. „Nö, alles okay, hab nur ein bisschen Kopfschmerzen.“
„Na gut, also dann, hab noch viel zu tun, bis später.“
„Ja, bis heute Abend.“ Langsam ließ sie den Hörer sinken. Sabine wusste nicht, was sie davon abhielt, das Unabwendbare auszusprechen. Es war so lächerlich einfach, eine heimliche Affäre zu haben. Sie musste nicht einmal lügen. Vor einem Monat hatte sie mit Tom ein Wochenende in München verbracht. Sorgfältig hatte sie sich ein Alibi mit einer alten Schulfreundin zurechtgelegt. Aber Bernd hatte keine Fragen gestellt. Heute Abend würde sie es ihm sagen.
„Bitte Mama, nur noch eine Geschichte!“ Felix sah sie treuherzig an. Paul lag in seinem Bett und las alleine in einem dicken Fünf Freunde-Schmöker. Es war unglaublich, wie unterschiedlich Zwillinge sein konnten. Schon bei der Geburt hatte Paul ein halbes Kilo mehr gewogen, jetzt war er einen Kopf größer als sein Bruder. Felix schlang die Arme um ihren Hals. „Bitte, bitte, nur noch die nächste Geschichte.“ Sie strich ihrem Sohn übers Haar und spürte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie wüsste nicht, was sie ohne die Kinder tun würde. „Also gut, noch diese eine. Dann ist aber Schluss.“
Bernd saß auf dem Sofa. Im Fernseher flimmerte irgendeine Sportsendung. „Willst du auch ein Glas Rotwein?“, rief sie ihm aus der Küche zu, wohlwissend, dass er keinen Tropfen Alkohol mehr anrührte, seit er wie ein Bekloppter für den Marathon trainierte. „Nein danke!“ Sabine machte ihr Glas randvoll und nahm einen kräftigen Schluck.
„Wir müssen reden.“ Sie setzte sich neben ihn auf die Couch.
„Mhh, gleich“, murmelte Bernd, ohne seinen Blick vom Fernseher abzuwenden. Sie nippte vom Wein und sah ihn abwartend an.
„Hallo? Kannst du den Mist bitte kurz ausschalten?“
„Herrgott Sabine, darf ich vielleicht noch kurz die Zusammenfassung sehen? Wenn du deine Serien guckst, nerve ich dich doch auch nicht!“ Sie hielt einen Moment inne, dann knallte sie ihr Weinglas auf den Couchtisch, dass die Hälfte überschwappte, stand auf und schaltete den Fernseher aus.
„Sag mal spinnst du?“ Entgeistert sah er sie an. „Was ist denn heute mit dir los?“
„Verdammte Scheiße!“, brüllte sie, „was mit mir los ist? Vielleicht solltest du eher mal fragen, was mit uns los ist! Seit Monaten ficken wir nicht mehr miteinander, wir reden nur noch über irgendwelchen Müll und ich habe das Gefühl ich bin unsichtbar!“
„Jetzt komm mal ein bisschen runter und sei nicht so laut. Willst du, dass die Kinder aufwachen?“ Ungerührt sah er sie an. „Ja, ich gebe zu, dass es im Moment nicht so zwischen uns läuft. Aber was heißt hier unsichtbar, das ist halt so eine Phase. Nach vierzehn Jahren kann das schon mal passieren.“
„Eine Phase!“, schnaubte sie verächtlich, „und wann soll diese Phase beendet sein? Du nimmst mich doch überhaupt nicht mehr wahr! Wann waren wir zum Beispiel das letzte Mal zusammen im Kino?“
„Sabine, du weißt genau, dass ich dieses Jahr in Frankfurt mitlaufen will. Wenn der Marathon vorbei ist, wird es auch wieder anders, das verspreche ich dir. Wenn man so hart trainiert, hat man einfach nicht so viel Bock auf Sex.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Als sie aufblickte, standen Tränen in ihren Augen.
„Soll ich dir was sagen? Ich habe aber Bock auf Sex! Und ich hab auch jemanden gefunden, dem es genauso geht. Verstehst du Bernd? Ich habe eine Affäre! Seit drei beschissenen Monaten vögle ich mit einem anderen Kerl und soll ich dir noch was sagen? Es ist geil!“ Sie schluchzte laut auf. Bernds Gesicht blieb völlig emotionslos.
„Und willst du nichts dazu sagen, ist dir das alles scheißegal?“ Ihre Stimme überschlug sich. Er blickte schweigend auf seine Hände.
„Gott! Jetzt sag doch was!“ Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
„Es ist mir nicht egal, Sabine. Glaubst du etwa, ich habe nicht bemerkt, dass da was läuft? Seit Wochen streifst du hier herum wie eine rollige Katze, kaufst dir neue Dessous. Gehst duschen, wenn du spät abends nachhause kommst. Und heute Morgen hat mir Carola erzählt, dass sie dich im Kino gesehen hat, mit diesem – Typ.“ Ungläubig starrte sie ihn an.
„Du weißt davon und sagst nichts? Oh Mann, das wird ja immer schlimmer! Was bist du nur für ein Schlappschwanz!“
„Jetzt hör mir mal gut zu“, er packte sie am Handgelenk, sein Blick bohrte sich in sie hinein, „ich bin kein Schlappschwanz. Ich bin nur realistisch. So eine Fickgeschichte geht auch wieder vorbei. Du willst doch nicht ernsthaft mit diesem Typen ein neues Leben anfangen?“ Er beugte sich ganz nah zu ihr hin, seine Stimme wurde gefährlich leise: „In guten, wie in schlechten Zeiten, Sabine. Das haben wir uns versprochen. Wir haben beide zu viel investiert und ich werde nicht zulassen, dass du diese Familie zerstörst.“ Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Sie riss sich los. „Willst du mir etwa drohen? Das ist doch lächerlich.“
„Nenn es wie du willst“, sagte er und stand auf, „wenn du gehen möchtest, halte ich dich nicht auf. Aber die Kinder bleiben bei mir.“ Er ging zwei Schritte zum Fernseher und schaltete wieder ein. „Du solltest den Rotwein aufwischen, es gibt sonst Flecken auf dem Tisch.“