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Die Tochter des Kerzenanzünders
Auf einem Hügel inmitten eines stillen Waldes erhob sich ein Schloss. Seine Türme ragten weit über die dunkelgrünen Wipfel der Tannen. Die Mauern des Schlosses waren schwarz wie das Innere eines Ofens. Jeden Morgen entzündete der königliche Kerzenanzünder, ein Mann, dürr wie eine Vogelscheuche, hunderte Kerzen im Schloss. Durch die Flammen erschienen die Mauern golden, und eine wohltuende Wärme breitete sich in den kühlen Gängen des Schlosses aus.
Die Familie des Kerzenanzünders war nicht reich. Seine Frau war vor einigen Jahren nach langem Fieber gestorben. Der Kerzenanzünder und seine vier Töchter hatten damals geweint, bis sie keine Tränen mehr hatten. Was der Vater verdiente, reichte kaum zum Leben, deshalb mussten die Töchter mithelfen. Die erste war Bettenmacherin, die zweite Herdfeuerhüterin und die dritte Gänsehüterin. Die vierte Tochter jedoch, ein Kind mit blonden Locken namens Sunja, war zu klein, um zu arbeiten. Da ihre ganze Familie tagsüber keine Zeit für sie hatte, wanderte sie alleine durch die verwinkelten Gänge des Schlosses.
Am liebsten leistete sie dem königlichen Kerzendreher Gesellschaft. Er war ein kleiner Mann, der Tag für Tag flink und fröhlich durch seine verwinkelte Werkstatt eilte. Sein Name war Ando. Er sprach viel mit Sunja und nannte sie seine beste Freundin. Stundenlang konnte sie dabei zusehen, wie er das Wachs zu Kerzen drehte. Seine Werkstatt war erfüllt von den wunderbarsten Gerüchen – es roch nach verschiedenen Blumen, Kräutern, Honig und Zitrone und vielen anderen Düften, die Sunja nicht benennen konnte. Ando jedoch konnte es. Jeden Tag lernte Sunja einen anderen Duft kennen – Lavendel, Apfel, Zimt.
Es gab dicke und dünne, große und kleine, runde und eckige Kerzen. Einige hatten die Form von Blüten, andere die von Tieren. Am liebsten mochte Sunja die Kerzen, die aussahen wie Tannenbäume und aus dunkelgrünem Wachs gemacht waren.
Jede Form, jeder Duft erfüllte seine Aufgabe. Nachdem ein Zimmer gereinigt war, erfrischten die kleinen, flachen Kerzen die Luft mit ihrem Zitronenduft. Die großen, dünnen Kerzen mit dem Sandelholzduft verströmten ein besonders helles Licht, das die Schatten aus den Korridoren vertrieb. Die dicken, gedrungenen Honigkerzen mit der geriffelten Haut sollten den Appetit beim Essen anregen.
Sunja wünschte sich, einmal wie Ando zu sein. Seine Tätigkeit erschien ihr die spannendste und nützlichste im ganzen Schloss. Denn was wären die Gemäuer ohne das wohl ausgewählte Leuchten, Schimmern, Strahlen und Glühen der Kerzen?
Eines Tages schenkte Ando Sunja eine kleine, hellgrüne Kerze, von der ein frischer Duft nach Morgentau ausging.
„Das ist eine Wunschkerze“, erklärte er. „Vor dem Schlafengehen zündest du sie an und wünschst dir etwas. Denk ganz fest an deinen Wunsch, wenn du die Kerze auspustest.“
Es war ein wunderschönes Geschenk. Von diesem Tag an entzündete Sunja jeden Abend vor dem Schlafengehen die Wunschkerze. Sie wünschte sich immer das gleiche: Eines Tages wollte sie Kerzendreherin werden. Ihre Schwestern lachten über diesen Wunsch. Sie erklärten Sunja, dass sie lernen müsse, um eine Kerzendreherin zu werden. Es war jedoch bereits entschieden worden, dass sie, sobald sie das richtige Alter erreichte, der Näherin helfen sollte. Knopfannäherin sollte Sunja werden. Es war eine Arbeit, vor der Sunja sich fürchtete. Die Näherin war eine strenge Frau mit lauter Stimme, und Sunja hatte große Angst vor ihr.
Eines Tages fertigte Ando eine schlanke Kerze, von der ein Duft nach Vanille und Flieder ausging. Sie wurde zur Spitze hin schmaler und hatte eine hellrosa Farbe mit lilafarbenen Mustern darauf. Etwas Derartiges hatte Sunja nie zuvor gesehen.
„Was macht diese Kerze?“, fragte sie staunend.
„Das“, sagte Ando, während er behutsam mit den Händen über das glatte Wachs strich, „ist eine Hochzeitskerze.“
Sunja nickte. Sie hatte davon gehört, dass morgen der älteste Sohn des Königs heiraten sollte. Alle Diener waren seit einigen Tagen, einige schon seit Wochen, mit den Vorbereitungen beschäftigt. „Und was macht die Kerze?“, fragte sie noch einmal ungeduldig. Für Hochzeiten interessierte sie sich nicht. Sie wollte wissen, welche Aufgabe die Kerze erfüllte.
„Sie duftet nach Sommer, und ihr Licht ist rosa“, antwortete Ando lächelnd. „Der Duft und das Licht halten böse Geister vom Brautpaar fern.“
Als die Hochzeitskerze nach einem ganzen Tag harter Arbeit fertiggestellt war, kamen plötzlich zwei Kammerdiener in die Werkstatt gestürmt. Die Kammerdiener mit ihren schicken Uniformen versetzten Sunja in Angst. Sie sprachen selten mit der einfachen Dienerschaft, und wenn sie es doch taten, dann hatten sie schlechte Nachrichten. So war es auch dieses Mal.
„Ando!“, bellte der ältere der beiden Männer ohne Gruß.
Sunja verbarg sich unter dem Tisch, weil sie Angst hatte, dass sein strenger Blick sie treffen könnte.
Ando verbeugte sich und hüstelte. „Guten Tag, Karl“, sagte er höflich.
„Es gab einen Brand am Esstisch der königlichen Familie“, berichtete der Kammerdiener Karl.
Ando wurde blass, und auch Sunja schauderte.
„Die Flammen der Tischkerzen wurden zu einer einzigen riesigen Flamme“, fuhr Karl fort. „Wir konnten gerade noch ein Unglück verhindern.“ Er blickte Ando wütend an, bevor er befahl: „Bring neue Kerzen und bitte die Königin um Vergebung. Sofort!“
„Sofort“, wiederholte Ando und verbeugte sich noch einmal. Sunja konnte Angst in seinen Augen sehen, während er hastig einige der Honigkerzen aus einem Regal griff. Als er sich umdrehte, um den Kammerdienern nachzulaufen, wurde die Hochzeitskerze von seinem wehenden Rockzipfel getroffen. Vor Sunjas Augen fiel die Kerze vom Tisch. Sie wollte danach greifen, war jedoch zu langsam. Die rosafarbene Schönheit rollte unter einen Schrank. Als Sunja sich aufrichtete, waren Ando und die Kammerdiener schon fort.
Sie kniete sich vor dem Schrank auf den Boden und schob ihren Arm darunter. Sie hätte beinahe aufgeschrien, als ihre Fingerspitzen tatsächlich auf das glatte Wachs trafen. Doch sie bekam die Kerze nicht zu fassen, und sie rollte aus ihrer Reichweite. Verzweifelt versuchte Sunja, ihren Arm noch weiter unter den Schrank zu schieben. Sie machte ihr Kleid dreckig, weil sie ausgestreckt auf dem Fußboden lag, aber es war vergebens. Ihr Arm war zu kurz. Sie stand auf und wandte all ihre Kraft auf, um den Schrank wegzuschieben. Er war jedoch viel zu schwer.
Sunja war erschöpft und hatte fürchterliche Angst um ihren Freund. Nicht nur, dass die königliche Familie wütend auf ihn war, jetzt war auch noch die Hochzeitskerze unter den Schrank gerollt. Sie überlegte, was sie tun könnte, um ihm zu helfen.
Da kam ihr eine Idee. Sie lief aus der Werkstatt in das Zimmer ihrer Familie. Dort entzündete sie die Wunschkerze neben ihrem Bettchen und faltete die Hände.
Sie kniff die Augen zusammen, während sie ihren Wunsch aussprach: „Bitte mach, dass Ando keinen allzu großen Ärger bekommt. Bitte mach, dass die Hochzeitskerze wieder unter dem Schrank hervorkommt.“
Vor lauter Erschöpfung schlief sie auf ihrem Bettchen ein. Am Abend kam ihr Vater ins Zimmer und löschte die Wunschkerze, die bis auf einen kleinen Stummel heruntergebrannt war. Er deckte seine Tochter zu und strich über ihre Locken.
Am nächsten Morgen fand Sunja das ganze Schloss in heller Aufregung. Dies war für einen königlichen Hochzeitstag nichts Ungewöhnliches, doch an diesem Tag war die Aufregung anders. Die Diener wirkten nicht bloß gehetzt, weil sie noch unzählige Dinge erledigen mussten. Sie schienen panisch. Auch die Familie des Kerzenanzünders ging heute nicht ihrer gewöhnlichen Arbeit nach – obwohl mit dem Anzünden der Kerzen genug zu tun gewesen wäre. Alle suchten im dunklen, kalten Schloss nach der verschwundenen Hochzeitskerze.
Als Sunja erfuhr, was die Ursache für den Aufruhr war, lief sie sofort zu Ando. Sie war froh, ihn zu sehen. Wenigstens einer ihrer Wünsche hatte sich erfüllt. Ando hatte die ganze Nacht gearbeitet, um eine neue Hochzeitskerze fertigzustellen, doch das Drehen einer solch besonderen Lichtquelle war sehr zeitaufwendig. Er war verzweifelt und müde, weil er nicht wusste, ob die Arbeit noch rechtzeitig fertig würde.
Ohne ihn zu grüßen, lief Sunja zu dem Schrank. „Hilf mir, Ando!“, rief sie.
„Sunja“, winkte er ab. „Ich habe jetzt keine Zeit.“
„Es ist sehr wichtig.“ Sie versuchte noch einmal, den Schrank zu bewegen. „Bitte, Ando. Die Kerze ist hinter den Schrank gerollt. Ich habe es gesehen.“
Endlich blickte Ando von seiner Arbeit auf. Für einen Moment schien er gar nicht glauben zu können, was Sunja gesagt hatte. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. „Das gibt es ja nicht! Ich habe sie überall gesucht!“
Mit diesen Worten eilte er Sunja zur Hilfe, und mit vereinten Kräften schoben sie den Schrank beiseite. Unter ihm kam die Hochzeitskerze zum Vorschein. Ando strahlte bis über beide Ohren. Sunja lachte mehr über sein Gesicht als über den Fund der Kerze.
„Na los, heb sie auf!“, forderte Ando sie auf. „Du hast sie immerhin gefunden.“
Sunja hob die rosafarbene Kerze vom Boden auf. Sie hielt sie in den Händen wie einen Schatz und strich sacht mit dem Daumen über die glatte Oberfläche. Sie blickte zu Ando auf und lächelte.
„Na, komm, wir haben keine Zeit zu verlieren“, forderte er sie plötzlich auf. Er nahm ihre Hand, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie aus der Werkstatt gezogen.
Sunja hielt die Kerze fest in der Faust, während Ando mit ihr durch das Schloss rannte. Jedem, dem sie auf dem Weg begegneten, rief Ando freudestrahlend entgegen: „Ihr müsst nicht mehr suchen! Die Tochter des Kerzenanzünders hat die Hochzeitskerze gefunden!“
Und alle, denen er dies zurief, jubelten, bevor sie sich hastig an die Arbeit machten, die über den Vormittag liegen geblieben war. Es gab vor der Hochzeit noch viel vorzubereiten.
Sunja wusste nicht, wie ihr geschah, als sie auf einmal in der prächtigen Eingangshalle des Schlosses stand, wo sie sich sonst nie hinwagte auf ihren Wanderungen durchs Schloss. Es war ein riesiger Saal. Die hohe Decke verschwand heute in den Schatten, die das Schloss ohne das Kerzenlicht erfüllten. Der Kronleuchter war unbeleuchtet, seine Kerzen mit dem Apfelduft blieben an diesem Tage kalt. Lediglich neben der Tür zum Thronsaal waren die Flurkerzen in den Kerzenständern entzündet worden, sodass die Halle sich nicht in vollkommener Dunkelheit befand. Ohne das vielfältige Kerzenlicht sah der Raum trostlos aus.
Als Ando und Sunja die Eingangshalle betraten, verschwand ein Diener in roter Uniform durch eine Seitentür wie eine Maus in ihrem Loch.
„Wir müssen warten“, flüsterte Ando Sunja zu und legte einen Finger an die Lippen.
Sunja gehorchte und blieb stumm und starr. Mit großen Augen betrachtete sie all die Schönheit um sich herum, die trotz des mangelnden Kerzenlichts zu sehen war: der blank geputzte Holzboden, die an die Decke gemalten Engel, das bunte Glas in den Fenstern.
Doch es dauerte nicht lange, bis durch die Tür die Braut des Prinzen trat. Sie trug noch nicht einmal ihr Brautkleid. Ihre Hände zitterten und Tränen der Erleichterung glitzerten in ihren Augen, als sie die Kerze von Sunja entgegennahm.
„Die Tochter des Kerzenanzünders hat Eure Hochzeitskerze gefunden“, erklärte Ando.
„Vielen, vielen Dank“, sagte die Braut zu Sunja. „Wie heißt du?“
„Sunja“, antwortete Sunja schüchtern, flüsterte fast, weil ihr in Gegenwart der schönen Frau die Stimme beinahe wegblieb.
„Ich möchte dir einen Wunsch erfüllen, Sunja“, versprach die Braut. „Was immer du möchtest, du sollst es bekommen.“
Obwohl Sunja sich fürchtete in Gegenwart der Braut, wusste sie sofort, was sie sich wünschen sollte. Sie tastete mit den Fingern nach dem Stummel der grünen Wunschkerze, den sie in ihrer Rocktasche trug. Sie holte tief Luft und sprach ihren größten Wunsch aus: „Ich wünsche mir, dass ich nicht Knopfannäherin werden muss. Ich möchte Kerzendreherin werden.“ Sie holte tief Luft, ehe sie höflich hinzufügte: „Bitte!“
Die Braut blickte verwirrt, sodass Sunja befürchtete, etwas Falsches gesagt zu haben. Da lachte sie jedoch und nickte. „Das ist ein schöner Wunsch. Ich werde ihn erfüllen. Jetzt lauf zu deinem Vater und sag ihm, er soll schnell alle Kerzen entzünden. Bald kommen die Hochzeitsgäste.“
So wurde Sunja einige Jahre später königliche Kerzendreherin. Zur Geburt eines jeden Kindes im Schloss fertigte sie eine Wunschkerze an, die sie dem Kind überreichte.