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Die Türkin in mir
Meine Freundin Leyla ist mir abhanden gekommen. Erst war sie in einem anderen Land, dann in einer fremden Welt, zuletzt im Nirgendwo. Leyla ist nicht nur meine beste Freundin, sondern die einzige. Und auch meine Schwester, weil Leylas Familie mein Zuhause war. Die Wohnung, in der ich mit meiner Mutter bis vor kurzem gelebt habe, war meistens nur eine ganz angenehme Frühstückspension.
Einen Vater habe ich nie kennengelernt. Angeblich ist er vor meiner Geburt gestorben. Später behauptete meine Mutter, er sei ausgewandert. Irgendwann erwähnte sie, er sei ein hohes Tier gewesen.
„Mama, was meinst du damit, ein hohes Tier?“
„Halt so ein Großkopfeter, Wichtigtuer, ach, was weiß ich. Katrin, ich muss jetzt los. Tschüss. Und sag nicht Mama zu mir. Ich bin Anna, Anna! Hörst du?“
„Ja. Lebt der Wichtigtuer noch, Mama, vielleicht in Amerika oder Australien, hat er Geld? Ist er ein berühmter Star oder so was?“
Mit dreizehn liebte ich es, meine Mutter mit solchen Fragen in die Enge zu treiben. Ich glaubte ihr sowieso nicht, egal, was sie erzählte. Mit sechzehn akzeptierte ich Anna, wie sie war, und wir kamen einigermaßen miteinander aus. Aber da kannte ich ja auch schon Leyla.
Leyla saß in der Fotoklasse neben mir an einem Vierertisch. Die Klassenlehrerin hatte mich gefragt, ob ich Leyla ein wenig unterstützen wolle, so ein türkisches Mädchen habe es ja nicht leicht. Ich wollte. Denn es war Leyla, die Schöne mit der schwarzen, langen Haarmähne, der schmalen Taille, den engen Jeans, die ihre leicht gebogene Nase selbstbewusst in die Höhe reckte. Nicht nur die Mädchen glotzten und tuschelten. Leyla strahlte mich an, als sie ihre Glitzertasche an den Stuhl hängte. Da schmolz ich sofort hin.
Heute kann ich nicht sagen, wer wen mehr unterstützt hat. Wenn ich wegen meiner Brille und den mausgrauen Haaren mit Gott und der Welt haderte, legte sie schnell den Arm um meine Schultern und schob mich vor einen Spiegel.
„Guck doch, Katrin, bloß ein bisschen Kajal und Lipgloss. Und die Haare kriegen eine rötliche Tönung, Kastanie oder Honig. Lass mich mal machen.“
Leyla war ganz verrückt nach Kosmetiksachen. Sie hatte immer ein Mäppchen mit Lippenstiften, Lidschatten, Wimperntusche, Make-up und so weiter in der Schulmappe. Lauter Pröbchen von Kusine Hüsnye, die gerade eine Lehre als Friseurin machte. Wir hatten da so ein Ritual: Auf dem Weg zur Schule sprang sie die vier Treppen hoch zu mir, packte den Schminkkram in meinem Zimmer aus und kam, perfekt gestylt, zu mir in die Küche, wo ich gerade das Frühstücksgeschirr in die Spüle stellte.
„Was meinst du, Katrin, ist es zu viel oder kann ich so gehen?“
„Bei dir sieht alles super aus, ehrlich. Für mich wär das nichts.“
„Ach was! Du musst halt mal was riskieren. No risk, no fun.“ Das war ihr Lieblingsspruch.
Anna hatte nichts dagegen, dass Leyla und ich stundenlang in meiner Dachkammer hockten. Sie wunderte sich bloß über ihr perfektes Deutsch. Darüber konnte ich sie aufklären. Leyla war in Böblingen geboren. Ihr Vater, zweite Generation Gastarbeiter, ein gelernter Maschinenbauer, arbeitete bei Daimler in Sindelfingen. Für einen Türken hatte er es weit gebracht, sogar bis in den Betriebsrat.
„Bin ich jetzt deswegen ein deutscher Türke oder ein türkischer Deutscher, was meint ihr?“, scherzte er öfter. "Die Arbeitskollegen grinsen, klopfen mir auf den Rücken und sagen: 'Du bischt halt e Schwob, Gündogan!'“
Ohne sein Einverständnis wäre es nichts mit Leylas Fotolehre geworden. Sein Traum war die deutsche Staatsbürgerschaft, wenigstens für seine Tochter. Kemal Gündogan setzte ganz auf Integration. Oder fast ganz, wie sich später noch zeigen sollte.
Kürzlich bin ich wieder einmal an Leylas früherem Zuhause vorbei geradelt. Griechen oder Menschen vom Balkan leben jetzt hier. Ich schaute zu Leylas Fenster hinauf. Wie gerne hätte ich mich nochmals in ihrem kleinem Zimmer auf das runde orangene Sitzkissen gehockt, ans Bett gelehnt und ihre neuesten Fotos begutachtet. Im kritischen Hinschauen war ich gut. Gruppenaufnahmen von unserer Klasse, Portraits.
„Ein bisschen too much, zu viel Inszenierung, überhaupt zu viel Farbe. Du musst dich entscheiden, Mädchen, worauf der Fokus liegen soll.“
„Aber das Leben ist bunt und vielfältig, und das will ich zeigen.“
„Sicher, es passt zu dir. Wahrscheinlich bin ich nur neidisch. Ich weiß ja, solche Bilder werden von den Kunden verlangt. Und den meisten Lehrern gefällt's auch.“
„Du machst aber auch super Aufnahmen. 'Schattenspiele' hängt ja wohl nicht zufällig im Schaukasten. Schwarz-weiß ist absolut deins."
„Zufallstreffer.“
„Überhaupt nicht. Zieh dich doch nicht immer selber so runter.“
„Tu ich gar nicht.“
„Doch!“
„Rechthaberin!“
Und dann flogen die Kissen.
Unsere Ausbildung erfolgte im Blocksystem. Abwechselnd vierzehn Tage im Geschäft, vierzehn Tage in der Berufsschule. Während der Betriebsphase traf ich mich mit Leyla nur am Wochenende. An das viele Stehen und den späten Feierabend mussten wir uns erst noch gewöhnen. Außerdem sah es Herr Gündogan nicht gerne, wenn Leyla nach acht außer Haus war.
„Aber ich kann sie doch heimbringen, es sind ja nur ein paar Meter von mir aus.“
„Und wie kommst du dann nach Hause, liebe Katrin? Wie könnte ich zulassen, dass ein junges Mädchen wie du allein durch die Nacht irrt? So etwas tut ein Vater nicht.“
Das mit dem Vater freute mich. Ich war solche Sorge um meine Sicherheit von Anna nicht gewohnt. Über diesen Punkt diskutierte Leyla zu Hause nicht, sie wusste, bei diesem Thema würde sie auf Granit beißen.
„Ich bin ja schon froh, dass er mich nicht vom Geschäft abholen kann. Bei Hüsnye ist das ganz anders. Die hat zwei ältere Brüder. Einer steht abends immer vor der Ladentür. Grässlich!“
„Ja, die Bruderrolle hat dein Vater mir zugeschoben. Ich darf dich beschützen.“
„Spinnerin! Obwohl, wenn ich es mir so recht überlege, da ist was dran. Also, was soll's! Dann telefonieren wir halt. Wir haben den ganzen Sonntag. Lass uns lieber überlegen, was wir damit anfangen.“
Sie hatte das Lesen für sich entdeckt. Wir lasen uns auch gegenseitig vor. In Annas Bücherschrank entdeckte ich Dorothy Sayers Gentleman-Detektiv Lord Peter, meine heimliche Liebe. Leyla schwärmte für historische Frauengestalten wie die Kaiserin Theophano. Und natürlich holten wir uns zahlreiche Fotobände aus der Schulbibliothek. Später fand ich beim Stöbern auch 'Das goldene Notizbuch' von Doris Lessing. Darin stand eine längere Widmung für Anna von einer Ruth. Diese Lektüre beschäftigte uns sehr lange. Leyla meinte, da ich ein Jahr älter sei als sie, könne ich sicher was dazu erzählen. Eigene Erfahrungen und so. Aber woher denn? Mein Sternbild ist nun mal Jungfrau. Zum Geburtstag schenkte mir Leyla einen Druck von Botticelli 'Die Geburt der Venus'. Heute weiß ich, Leyla kannte mich besser als jeder andere Mensch in meinem Leben.
In der Klasse waren wir Außenseiter, sie hielten uns für Lesben, die man am besten in Ruhe ließ. Keine offene Anfeindung, höchstens kleine Sticheleien, aber keine direkten Fragen. Die hätte Leyla mit ihrem strahlenden Lächeln einfach weggewischt. An Themen über Sex, so häufig und beliebt sie auch waren, beteiligte sie sich weder im Unterricht, noch in den Pausen. Meine Meinung dazu interessierte ohnehin niemanden.
Schließlich wurden wir ins Berufsleben entlassen. Leylas Abschlusszeugnis war das beste des ganzen Jahrgangs. Dafür gab es reichlich Lob und einen Bildband über die Türkei. Die Klassenlehrerin hielt eine Rede über den Gewinn, den das Miteinander verschiedener Kulturen mit sich brächte.
„Es ist eine Win-Win-Situation. Haben Sie ruhig den Mut, auch mal im Ausland zu arbeiten. Bilder werden viel eher verstanden als Worte. Und heute gibt es so viele Möglichkeiten für gut ausgebildete junge Erwachsene wie Sie.“ Auch wenn wir manches für Geschwafel hielten, so machten wir uns doch hochgestimmt auf den Heimweg. Leyla wusste schon, dass ihr Chef sie übernehmen würde. Ich hatte bereits mehrere Bewerbungsschreiben losgeschickt und wartete auf Einladungen zum Vorstellungsgespräch.
„Dein Vater wird sich freuen, erst recht, wenn er dieses teure Buch sieht. Vielleicht muntert es ihn etwas auf. Ich habe ihn seit dem Tod deiner Mutter nur selten fröhlich gesehen. Es tut mir so leid, dass sie deinen Erfolg nicht mehr mitfeiern kann. Ihre Tochter, eine hochbegabte Fotografin! Das hätte ihr bestimmt gefallen."
„Kann schon sein. Ich weiß nicht recht, seit Mama gestorben ist, hat er sich total verändert. Jetzt spricht er nur noch davon, dass er in die Türkei zurück will.“
„Aber ihr lebt doch schon so lange hier, habt gute Kontakte mit der Nachbarschaft, und dann sein Job. Da ist er richtig stolz drauf.“
Mit Herrn Gündogan unterhielt ich mich gerne, er hatte Spaß am Diskutieren und ich spürte, dass ihm an meiner Freundschaft mit Leyla gelegen war. Leylas Mutter war mir ein Rätsel geblieben. Sie sprach, wenn überhaupt, nur türkisch und verließ das Wohnzimmer, sobald ich auftauchte. Aber im Backofen hatte sie immer etwas Leckeres für uns. Manchmal stand ein Teller mit Lokum oder Baklawa auf der Anrichte.
„Zum Mitnehmen, extra für dich, los, zier dich nicht so, sie ist sonst beleidigt und ich auch.“ Es tat mir Leid, dass ich sie nicht mehr besser kennenlernen konnte. Ich hatte immer wieder das Bild vor Augen, wie sie bei einem der seltenen gemeinsamen Ausflüge ein paar Schritte hinter ihrem Mann herging.
Leyla kickte ein paar Steinchen vor sich her. Sie schien es nicht eilig zu haben.
„Denk dran, dass wir noch packen müssen. Um fünf komm ich dich abholen. Hat er nochmals was gesagt wegen der Hütte?“
„Es passt ihm halt nicht, dass wir dort übernachten. Du weißt ja, die Knaben. Er behauptet, er wisse, wie es auf Abschlussfeten zugeht. Es gäbe bei ihnen ja schließlich auch Betriebsfeiern.“
„Komisch, gegen die Klassenfahrt letztes Jahr hatte er doch auch nichts.“
„Ja, aber da war die Klassenlehrerin dabei.“
Leyla trödelte noch mehr. Ich konnte sehen, wie ihre Hochstimmung schwand.
„Ich glaube, ihn plagt etwas anderes. Gestern hat er Mutters Hochzeitsschmuck auf dem Couchtisch ausgebreitet. Stück für Stück, den ganzen Tisch voll. Er wollte, dass ich ihn anprobiere. Irgendwie gruselig. Ich meine, wer redet denn jetzt von einer Hochzeit? Und dann fegt er nach drei Minuten alles zusammen und schmeißt es in den Schlafzimmerschrank, ins oberste Fach, ganz weit hinten. Meinst du, er hätte mir was erklärt? Manchmal macht er mir richtig Angst.“
„Es ja erst vier Monate her, dass sie gestorben ist.“
„Ja, schon, aber ich spür's, er will mir was sagen und kriegt's nicht über die Lippen.“
Um fünf Uhr war Leyla alles andere als startbereit. Sie hockte im Schneidersitz auf ihrem Nomadenteppich und murmelte mit geschlossenen Augen vor sich hin.
„Was ist los, Leyla? Mike wartet unten. Der wird gleich ein Hupkonzert veranstalten. Wo hast du deinen Schlafsack?“
Keine Antwort. Nur ein unwilliges Kopfschütteln. Ich setzte mich auf Leylas Bett und musterte sie. Was sollte das schwarze Kopftuch über dem neu gestylten Bubikopf und der Fransenumhang ihrer Mutter?
„Vergiss es! Ich kann nicht mit. Ich muss richtiges Türkisch lernen und den Koran lesen. Meine Schwiegereltern erwarten von mir, dass ich meine Kinder zu frommen Moslems erziehe ... Hast du kapiert? Ich werde in der Türkei verheiratet! Schau!" Sie deutete auf einen aufgerissenen Briefumschlag unter ihrem Schreibtisch. Und dann trommelte sie mit beiden Fäusten auf den Boden, dass die Teppichfransen flogen und Staubwölkchen aufwirbelten. Klar, nach dieser Eröffnung war die Abschlussfeier für uns gestorben.
Das war es also. Kemal, der Vater, wollte ein Versprechen einlösen, gegeben am Sterbebett seiner Frau. Fatme hatte immer von einer Heimkehr in die Türkei geträumt, sich nie recht wohlgefühlt in der schwäbischen Industriestadt. Das hatte ich auch mitgekriegt oder zumindest geahnt.
Ich nahm den zerknitterten Umschlag in die Hand. Zwischen eng beschriebenen Blättern rutschte ein leicht vergilbtes Foto heraus. Es zeigte ein schlichtes Haus in einer ländlichen Gegend. Davor eine Familie mit drei Jungen, ungefähr zehn, zwölf und fünfzehn Jahre alt. Der Fünfzehnjährige war durch einen Kreis markiert.
„Reichlich jung, dein Zukünftiger.“
„Quatsch! Das Foto ist uralt und dazu noch miserabel. Der Bursche ist vier Jahre älter als ich.“
„Er sieht nett aus, eigentlich richtig gut. Und wie soll das Ganze ablaufen? Was steht in dem Brief?“
„Sie erwarten, dass Vater mit mir im Sommer nach Antalya kommt. Die Familie lebt ein paar Meilen entfernt im Hinterland. Serdar ist Reiseführer, staatlich geprüft, wie sie schreiben. Es sei Zeit für ihn, eine Familie zu gründen.“
„Woher kennt ihr die Leute? Ihr wart ja schon ewig nicht mehr in der Türkei.“
„Meine Mutter hat das eingefädelt. Bei ihr war es ja auch so. Von sich aus wäre sie niemals nach Deutschland gegangen.“
„Das kann doch nicht sein! Niemand kann von dir verlangen, dass du alles stehen und liegen lässt. Ich glaube es einfach nicht!“
„O doch, du kennst die Menschen in der Türkei nicht. Für die ist es eine Frage der Ehre.“
Ich hatte nicht vor, tatenlos zuzusehen, wie meine Freundin ein ungeliebtes Schicksal übergestülpt bekam. Also eröffnete ich wenige Wochen später Leylas Vater, ich wolle meinen ersten Urlaub als ausgelernte Fotografin in der Türkei verbringen. Und so saßen wir zu dritt im Flieger nach Antalya.
Die Rückreise, zwei Wochen später, traten wir nur noch zu zweit an, ein verzweifelter Vater, der nicht wusste, wohin er gehörte, und ich, Katrin, die sich unsterblich in das anatolische Hochland verliebt hatte. Und in Serdar, den attraktiven, liebenswürdigen, feinfühligen Verlobten Leylas.
In meinem Reisetagebuch habe ich unsere Ankunft und das erste Treffen mit Serdar stichwortartig festgehalten:
Eindrucksvolle Lichterketten beim späten Anflug auf die Millionenstadt an der türkischen Adria.
Lange Taxifahrt durch endlose Viertel mit Hochhäusern.
Ein kleines, einfaches Hotel am Rande der Stadt.
Leyla, die noch mitten in der Nacht ein knalliges T-Shirt und ihre engsten Jeans für das erste Treffen heraus
kramt.
Das Warten am folgenden Abend in der Lounge.
Leylas Vater, der sich unter einem Vorwand davonstiehlt und erst zwei Stunden später nach Anisschnaps riechend zurückkommt.
Leyla und ich, hochmütig die taxierenden Blicke junger Türken am Empfangstresen ignorierend.
Serdar.
Hier habe ich die Szene in meinem Tagebuch genauer skizziert. Ich lese sie immer wieder. Grüble, was schiefgelaufen ist.
Leyla und ich saßen angespannt auf dem abgewetzten Sofa dem Eingang gegenüber und beäugten jeden halbwegs jungen Türken, der hereinkam. Die meisten waren klein und einfach gekleidet. Immer, wenn einer zu uns herüber schaute, was so ziemlich jeder tat, stieß Leyla mich in die Rippen und murmelte: „Genau, wie ich mir gedacht habe.“
Kemal tigerte auf und ab; er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Schließlich packte er sein Jackett. Er war ganz bleich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Ich muss mir mal die Beine vertreten. Ihr rührt euch nicht von der Stelle. Katrin, ich verlass mich auf dich.“
Ich wollte gerade aufstehen, um den Busfahrplan am Empfangstresen zu studieren, als zwei junge, sportliche Großstadttürken, das stylische Hemd lässig aufgeknöpft, die Sonnenbrille ins Haar geschoben, die Eingangstür aufstießen. Sie lachten laut, als hätten sie gerade einen guten Witz gehört. Nach einem kurzen Blick in die Runde kamen sie auf uns zu. Leyla zog die Augenbrauen hoch und fing an, in ihrer Tasche zu kramen. Vielleicht lag etwas in meiner Haltung, das den Älteren der beiden bewog, mich anzusprechen:
„Sorry, Miss, kann es sein, dass Sie aus Germany kommen, aus ...Böbling? Ja? Wunderbar! Ich bin Serdar. Willkommen in Antalya.“
Leyla sprang auf.
„Na dann, grüß Gott, Serdar, oder darf ich das hier nicht sagen?“
„Du musst Leyla sein! Hallo Leyla! Du kannst alles sagen, ich verstehe auch alles. Als Fremdenführer muss man ja schließlich Sprachen können."
„Und der Typ neben dir, ist das dein Bodyguard?“
„Oh Verzeihung, ja, das ist mein bester Freund, Tariq. Ich habe ihn natürlich zu meiner Verstärkung mitgebracht. Er spricht auch sehr gut deutsch. Jetzt müssen wir nur noch den Namen deiner Freundin erfahren.“ Er grinste. „Wie ich sehe, kann das noch ein schöner Abend werden.“
Leylas Vater trug es mit Fassung, dass er die erste Begegnung mit seinem zukünftigen Schwiegersohn verpasst hatte. Ohne größeren Widerstand ließ er sich auf sein Zimmer verabschieden. Einen Raki lehnte er ab. Das war auch besser so.
Serdar ließ sofort durchblicken, dass er an der Heirat nicht interessiert war.
„Weißt du, Leyla, ich liebe meine Eltern, es sind gute Leute, und natürlich meinen sie es gut mit mir. Aber in den Städten hier an der Adria sucht man sich das Mädchen selber aus, so wie bei euch, Katrin. Man geht ein paarmal mit ihm tanzen, macht dies und das ...“, er kicherte, „aber natürlich, da passiert nichts. Und irgendwann geht man zu ihrem Papa und ihrer Mama und sagt: 'Wir möchten heiraten'. Klar, auf dem Lande ist es noch anders. Aber lebe ich hier vielleicht auf dem Lande? Sagt selbst, sehe ich aus wie einer, der auf dem Lande lebt? Kennt ihr Izmir? Das ist die Stadt, in der ich leben möchte. Ah, ich liebe Izmir!“
Leyla taute sichtlich auf. Ihre Augen blitzten vor Übermut. Mit beiden Händen fuhr sie durch ihre Haare, dass sie wild in die Höhe standen. Serdar lächelte. Es schien ihm zu gefallen.
„Wir brauchen einen Plan, Serdar. Schließlich sollen deine Eltern ja nicht gekränkt werden. Einen Win-Win-Plan, bei dem es keine Verlierer gibt. Du weißt doch noch, Katrin.“
Nun mischte sich Tariq ein.
„Leyla und Serdar, ihr müsst auf jeden Fall erst mal als Verlobte auftreten, dann sind die Eltern wahrscheinlich zufrieden. Und dann muss sich Serdar leider, leider in ein anderes Mädchen verlieben. Bei meinem Bruder hat das so geklappt. Katrin, die Rolle ist doch wie für dich gemacht. Wie lange hast du hier Urlaub? Vierzehn Tage? Das müsste reichen.“
Ich hatte meine Zweifel. Es war ein bisschen viel Raki mit im Spiel. Und Leylas Vater hatten wir noch gar nicht auf der Rechnung. Aber war ich nicht mitgekommen, um Leyla zu helfen?
Wir trennten uns erst lange nach Mitternacht. Leyla küsste Serdar links und rechts und nochmals links. Was für ein schönes Paar, dachte ich, die passen perfekt zusammen. Und Leylas Augen strahlten. Ich hatte da schon so eine Ahnung.
In den folgenden Tagen zog ich mit meiner neuen digitalen Kamera los. Wenn ich auf Motivjagd gehe, bin ich gerne allein unterwegs. In meinem Tagebuch habe ich notiert, was mich fasziniert hat. Hinter meinen nüchternen Aufzählungen weiß ich, dass sich berauschende Bilder verbergen, für die ich nur selten die richtigen Worte finde. Wie immer scheute ich mich, Personen ganz nah heranzuzoomen. Distanz und Nähe, mein wunder Punkt. In meinen Fotos offenbart er sich.
Von Leyla hörte ich erst nach drei Tagen wieder etwas. Serdar müsse arbeiten, und sie sei dabei, mit seiner Familie warm zu werden. Es gehe alles nach Plan. Kemal besuche alte Freunde und erkundige sich nach einem Haus und einer kleinen Werkstatt. Jeden Tag habe er einen anderen Einfall, aber alles nicht so recht plausibel. Nächste Woche habe Serdar ein paar Tage frei, für die plane er den einen oder anderen Ausflug an der Küste entlang oder ins Gebirge.
„Natürlich mit uns beiden, wegen dem Plan. Und ich bin froh, ein paar Stunden ausbüchsen zu können. Es ist nicht ganz einfach, das Liebespaar zu mimen. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, ob ... Serdars Mutter löchert mich mit Fragen.“
Wir trafen uns gegen Ende der zweiten Woche vor dem Hotel. Serdar saß allein in seinem roten Flitzer.
„Leyla geht es nicht so gut. Kopfweh oder so. Sie wollte heute ein paar Stunden für sich haben. Da wird wohl nichts draus, Mutter hat ein paar Nachbarinnen und Freundinnen eingeladen. Hochzeitsplanung.“
„Serdar, glaubst du wirklich, ihr könnt das so durchziehen?“
„Wir müssen es. Es geht nicht anders. Aber lass uns das Thema für heute vergessen. Du möchtest doch ins Hochland, hat mir Leyla erzählt. Das sind einige Kilometer.“
Er sah mich prüfend an.
„Hast du eine Jacke oder ein Tuch dabei? Da oben kann manchmal ein kalter Wind blasen. Für Proviant habe ich gesorgt. Wir werden unterwegs kaum ein Restaurant finden.“
„Ach Serdar, ich freu mich riesig. Ich will ganz viele Bilder machen. Mit einem staatlich geprüften Reiseleiter kann mir ja nichts passieren, der ist doch auf alles eingerichtet.“
„Wer weiß, wer weiß.“
Ich lehnte mich zurück und Serdar gab Gas. In lang geschwungenen Kurven ging es steil hinauf ins Taurusgebirge, Richtung Norden. Ziemlich bald verließ Serdar die ausgebaute Fernstraße und holperte über schmale Straßen unterhalb der Dreitausender von einer Bergkuppe zur anderen. Wir sprachen nicht viel. Ich kniete, die Kamera schussbereit, auf der Rückbank. Von Zeit zu Zeit bat ich Serdar anzuhalten, wenn mir ein besonders lohnendes Motiv vor die Linse kam. Ich fotografierte einfach alles: die kleinen Moscheen, die braunen, großäugigen Dorfkinder mit ihren Ziegen und kläffenden Zottelhunden, zerfallene Gehöfte wie aus einem anderen Jahrhundert, tief verschleierte Frauen auf kargen Feldern.
Um die Mittagszeit erreichten wir unser Ziel. Vor uns lag der Salda Gölü, mitten in einer endlosen braungrünen Ebene. In der flirrenden Luft war nicht zu erkennen, wo das Gegenufer begann. Ganz in der Ferne meinte ich, Schneegipfel zu erkennen.
Es gab nicht viel Schatten. Serdar parkte das Auto unter einer verkrüppelten Kermeseiche und holte den Proviantkorb vom Rücksitz.
„Hier ist eine Decke. Mach es dir bequem. Was zu trinken? Zu essen?“
Ich nahm dankbar eine Flasche Mineralwasser entgegen, Hunger hatte ich keinen. Serdar trug schon seine Badeshorts. Sein goldenes Halskettchen hatte sich in seinem Brusthaar verfangen. Ich blinzelte, konnte den Blick nicht abwenden.
„Kommst du mit? Ich werde mal ins Wasser springen. “
Ich zögerte, dann entschloss ich ich mich zu einer Notlüge.
„Kein Badezeug. Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Schade. Dumm von mir. Ich hätte dich daran erinnern sollen. Na dann.“
Ich sah ihm hinterher, wie er ins Wasser tauchte und mit kräftigen Zügen ins Weite schwamm.
Das harte Gras stach mich ein wenig, als ich mich hinlegte. Aber ich wollte es spüren. Das Gras und die Erde darunter. Die Mittagsglut senkte sich herab. Ab und zu streichelte mich eine Brise, geschwängert mit dem Duft von Königskerzen und Thymian. Am Himmel formten Kondensstreifen geometrische Muster. Der pausenlose Lärm der Großstadt war weit weg. Ich schloss die Augen.
Serdars Körper. Makellose Proportionen wie eine Apollonstatue. Die Haut gleichmäßig braun. Hände und Füße sorgfältig gepflegt. Ich hätte sie gerne berührt. Venus fiel mir ein, Leylas Geschenk. Was hatte Serdar am ersten Abend im Hotel angedeutet? Dies und das? ...Brennender Schmerz, süß und bitter zugleich, flutete plötzlich von meinem Bauch in den Brustkorb und nahm mir den Atem. Ich zog die Knie an und legte mich wie ein Embryo auf die Seite. Dies und Das. Dies und Das ... Der Schmerz ebbte ab, so dass ich einschlief.
Als ich erwachte, war die Stunde des Pan vorbei. Serdar hockte fertig angezogen neben mir und kitzelte mich mit einem Eichenblatt am Hals.
„Du siehst hübsch aus, wenn du schläfst, sehr hübsch. Und geträumt hast du auch.“
„Wie lange bist du schon hier? Habe ich ... habe ich etwas gesagt?“
Serdar ließ sich Zeit mit der Antwort.
„Nicht wirklich. Vielleicht ein Name. Ich habe ihn nicht genau verstanden. Aber jetzt müssen wir los. Ich muss heute noch Leute vom Flughafen abholen.“
Er streckte mir seine Hand hin, um mir auf die Füße zu helfen. Hand in Hand, die Finger fest verschlungen, gingen wir langsam zum Auto. Mit der freien Hand fischte er den Autoschlüssel aus seinen Jeans. Dann erst gab er meine Finger frei. Ich stand wie gelähmt, aber in mir tobte ein Kampf: Ist das alles, mehr nicht, nur verschlungene Hände?, fragte mein türkisches Ich wütend. Ja, sagte mein deutsches Ich, wenigstens verschlungene Hände. Jetzt gib endlich Ruhe.
Auf der Rückfahrt redeten wir nicht viel. Serdar ließ eine CD mit türkischer Musik laufen. Kurz vor Antalya stellte er sie leiser. Ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden, sagte er:
„Du bist ein nettes Mädchen, Katrin, ich mag dich sehr gerne. Und ich bin froh, dass Leyla dich zur Freundin hat. Wir werden jetzt doch heiraten, wahrscheinlich schon in zwei Monaten, vielleicht schon früher.“
Ich schwieg, was hätte ich auch sagen können.
Die Türkei-Aufnahmen habe ich erst einmal abgespeichert.l Noch gelingt es mir nicht, sie mit einem professionellen Blick zu betrachten. Außerdem beschäftigt mich meine erste Stelle. Ich habe sie in einem kleinen Unternehmen bekommen. Es ist auf Industriefotografie spezialisiert. Ich arbeite mich gerade in die neueste Version von Photoshop ein. Man lässt mir viel Spielraum für Experimente. An diesem Arbeitsplatz bin ich richtig. Die Erinnerung an die Türkeireise habe ich ganz tief in mir vergraben.
Gestern habe ich im 'Böblinger Boten' ein Bild von Leyla gesehen. Sie hat einen Bildervortrag gehalten bei einer Veranstaltung des Böblinger Integrationsrates. Ich kann es nicht fassen. Warum meldet sie sich nicht bei mir? Sie hat auch eine Internetadresse. Ich schreibe ihr eine Mail, bitte sie um ein Wiedersehen und tatsächlich, sie schlägt mir einen Termin vor. Wir treffen uns in einem Café.
Leyla hat abgenommen. Sie strahlt nicht mehr die unbekümmerte Lebenslust des letzten Jahres aus. Um ihre Augen herum sehe ich Fältchen. Sie kommt gleich zur Sache.
„Ich bin nur für wenige Tage hier, am Sonntag fliege ich zurück. Meinem Vater geht es nicht so gut."
„Ist er nicht bei euch in Antalya? Er hatte doch ganz viel Pläne.“
„Nee, er wohnt jetzt in Sindelfingen, näher am Werk. Dort hat er ja seine engsten Freunde, Kollegen halt.“
„Warum bist du nicht mitgekommen an den Salda Gölü? Und später, kein Brief, kein Bild von der Hochzeit. Wie vom Erdboden verschwunden."
Leyla schaut mich forschend an.
„Ich hab's nicht fertiggebracht. Zuerst war ich so durcheinander. Ich musste erst einmal mit mir ins Reine kommen. Du weißt es wohl nicht, Katrin. Hat Serdar dir bei eurem Ausflug nichts gesagt?“
„Was hat er nicht gesagt? Dass ihr heiraten werdet? Doch, hat er.“
„Sonst nichts?“
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“
Pause. Leyla will nochmals zwei Michkaffee bestellen. Ich schüttle den Kopf, möchte endlich die Gründe dafür wissen, dass sie mir auf keinen Brief geantwortet hat. Der alte Schmerz steigt wieder in meine Magengrube. Ich warte.
„Die Hochzeit war grauenvoll, Katrin, für Serdar noch mehr als für mich.“
„Das klingt furchtbar. Sag' doch endlich, was passiert ist, bitte, Leyla.“
Wieder Pause. Leyla rührt lange in ihrer Tasse.
„Katrin, wir haben geheiratet, weil ich ihm helfen wollte, weil ... Serdar ist schwul. Du ... Du kennst seinen Freund, Tariq. Sie sind schon lange ein Paar. Es würde ihre Eltern ins Grab bringen, wenn sie davon erfahren würden.“
„Aber warum hast du mir nichts erzählt oder geschrieben?“
„Serdar hat mich darum gebeten, eigentlich angefleht. Er wollte es dir selber sagen, bei eurem Ausflug. Deshalb bin ich auch nicht mitgekommen. Ich dachte, du wüsstest Bescheid. Deine Briefe habe ich nicht bekommen."
Ich schüttle den Kopf. Serdar und Tariq ein Paar. Wie hat Leyla das aushalten können?
„Und du, was ist mit dir? So kannst du doch nicht leben!“
„Wir werden uns, sobald es geht, scheiden lassen. Sie werden mir die Schuld geben. Serdar und Tariq können dann nach Izmir oder Istanbul ziehen. Wahrscheinlich komme ich wieder nach Deutschland.“
„Aber warum nimmst du das alles auf dich, ich dachte …, ich dachte, du hättest dich schließlich doch in ihn verliebt.“
Leyla legt ihre zierliche Hand auf meine und drückt sie. Zum ersten Mal lächelt sie, ein erwachsenes Lächen. Jetzt bin ich die Jüngere.
„Ach Katrin, versteht du denn nicht? Das ist es ja gerade. Weil ich ihn liebe. Immer noch.“