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Die Stille der Provinz

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04.04.2008
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Die Stille der Provinz

Die Stille der Provinz

Deine Pelztierchenzunge macht mich noch verrückt, hatte er damals gesagt und seine breite Hand fordernd um ihre Taille gelegt. Es gab kein Entkommen, nur diese willige Schwäche. Sie wusste vom ersten Augenblick an, dass sie ihn wollte.
Karl schmeckte nach bitterem Rauch, nach salziger Luft, und für Mia war er die Verheißung. Sie wünschte mit jeder Faser ihres Körpers, dass es auf ewig so bliebe.

Vor fast drei Jahren war er plötzlich da gewesen. Ein großer, auf verwegene Art gut aussehender Mann mit halblangem blondem Haar und Dreitagebart. Er trug ausgeblichene Jeans, abgewetzte Cowboystiefel und auf seinem muskulösen Oberarm war ein Skorpion tätowiert.
Mia weiß bis heute nicht genau, woher er kam. Er war einfach da, über die welligen Berge hinuntergekommen in das beschauliche Provinznest, das allerhöchstens an ein paar versprengte Touristen gewöhnt war, die sich die obligatorischen Urlaubsorte nicht leisten konnten.
Mia saß damals gerade an der Kasse des kleinen Supermarktes, als der verdreckte Käfer gegenüber auf dem Parkplatz eine Staubfontäne hoch wirbelte. Warum, zum Teufel, klopfte ihr Herz auf einmal wie verrückt?
Dann war er ausgestiegen, hatte sich gestreckt und Mia dachte, dass er viel zu groß war für den winzigen Wagen. Plötzlich sah er sie an. Starrte ihr mitten ins Gesicht und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Mein Gott, was für Zähne, dachte Mia und vergaß, die Einkäufe über den Scanner zu ziehen. Die Kundin folgte ihrem Blick.
„Kennst du den?“, fragte sie gedehnt und Mia entging der skeptische Unterton nicht. Sie schüttelte heftig den Kopf und kriegte ihre pappigen Kiefer nicht auseinander.
Da stand er auch schon im Eingang, grüßte stumm, indem er zwei Finger kurz an die Schläfe legte, und schnappte sich einen Einkaufskorb. Seine Augen waren umwerfend blau.
„Vielleicht drehen sie hier einen Film“, flüsterte die ältere Dame und Mia dachte, ja, genau so sieht er aus. Wie einer, der kurz herkommt, um irgendwas zu tun, und dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Doch er war geblieben. Mia hatte ihm den ‚Postillon’ empfohlen, als er mit kehliger Stimme nach einer Pension fragte, und ihre zitternden Hände unter dem Laufband versteckt.
Der folgende Tag war ein Sonntag und sie sah ihn abends in der ‚Laterne’, der einzigen Disco am Ort. Bianca und Lore himmelten ihn schamlos an, die Jungs aus der Clique standen in Grüppchen zusammen und lachten eine Spur zu laut, knallten ihr Bier auf die Theke und lehnten sich betont lässig an den Tresen.
Karl hatte ihr zugeprostet, dann war er zu ihr gekommen und lenkte sie, ohne zu fragen, zur Tanzfläche. Zum ersten Mal fühlte sie diese warme Hand in ihrem Rücken und dachte, sie würde einen Brandfleck hinterlassen. Sein Mund streifte ihre Wange, als er einen Dank in ihr Ohr raunte. Die Pension sei prima, er wolle sich hier eine Weile niederlassen und sich am Montag einen Job suchen. Später küsste er sie, berührte mit den Fingerspitzen wie zufällig ihre Brüste und verschwand noch vor Mitternacht.

Drei Tage später war er als Getränkefahrer angestellt und lieferte Mineralwasser und Limonaden in die Touristenorte hinter den grünschimmernden Bergen. Keine Fahrt war ihm zu weit, kein Kasten zu schwer, er machte Überstunden und war freundlich zu Kollegen und Kunden.
Mias Eltern trauten Karl nicht über den Weg, doch sie konnten nichts Ernsthaftes gegen ihn vorbringen, im Gegenteil, ihr Misstrauen wurde eher durch seine altmodische Höflichkeit genährt. Er warb um Mia mit Blumen und im Anzug. So was gab es doch heutzutage gar nicht mehr!
Bianca, immer noch neidisch, sagte damals, dass Karl einfach beschlossen hätte, Mia zu kriegen, und zwar vom ersten Tag an.
Für Mia begann eine neue Zeitrechnung.
Nach vier Monaten gab Karl seine möblierte Bude auf und zog in Mias Einliegerwohnung im Haus ihrer Eltern. Die bösen Stimmen waren verstummt, Karl erwies sich als zuverlässig und hilfsbereit und sein Chef war des Lobes voll. Zwei Monate später feierte der ganze Ort Hochzeit.
Mias Mutter wollte Karls Eltern einladen. Niemand hatte bisher direkt nach seiner Familie gefragt. Man wusste, dass er aus dem Norden kam, das war aber auch schon alles. Die Heirat war also eine gute Gelegenheit, seine Familie kennen zu lernen.
Er blieb zunächst stumm, lächelte, und nahm dann Mias Mutter in den Arm. Sie stolperte fast, so kräftig drückte er sie an sich.
„Jetzt habe ich eine Mutter, wie ich noch nie eine hatte, damit soll es gut sein. Meine Vergangenheit ist zu schmerzhaft, bitte, rührt nicht mehr daran.“ In seine Augen war ein feuchter Glanz getreten und Mias Mutter drückte stumm seinen Arm.
Der kleine Ort feierte drei Tage lang und Karl bezahlte ohne zu zögern die Musiker, das Zelt, die Getränke und das Büfett. Er habe Zeit genug gehabt zu sparen, erklärte er den verwunderten Schwiegereltern, die angesichts solcher Freizügigkeit ihre letzten Zweifel, mitsamt der Neugier auf seine Vergangenheit, begruben.
Mias Vater reparierte in seiner Werkstatt die Traktoren der Bauern und allerlei landwirtschaftliches Gerät und trank abends mit seinem Schwiegersohn ein Schnäpschen auf der Bank vor dem Haus. Selbst wenn Karl erst im Dunkeln von seiner Tour zurückkam, wartete Mias Vater auf ihn.
Mia war glücklich. Mit gerade mal zwanzig hatte sie den tollsten Mann der Welt ergattert, und obwohl alles kein Traum war, fühlte es sich doch so an, und manchmal beschlich sie das seltsame Gefühl, in einer Fantasie gefangen zu sein, die irgendwann der Wirklichkeit nicht mehr standhalten würde. Dann musste sie wieder um sieben Uhr aufstehen und jeden Tag in den Supermarkt gehen.
Doch sobald sie in Karls Armen lag, seinen harten, fordernden Körper spürte und ihre Schwäche wie ein Welle heranrollen ließ, bebte sie vor Verlangen und Wolllust.
In den Supermarkt ging sie nur noch dienstags und freitags.
Die jungen Leute des Ortes kamen oft und gerne zu Besuch, Karl spielte mit den Männern sonntags Fußball, stellte an Sommerabenden gerne seine Kochkünste unter Beweis und erzählte Geschichten von seinen Reisen durch das Land, die immer mit einem verliebten Blick in Mias Richtung endeten. Der kleine Ort schien das aufregende Flair ferner Städte und unbekannter Menschen aufzusaugen und alle waren sich einig: Mit Karl war ein frischer Wind in die Provinz gekommen.

Zehn Monate nach Karls Ankunft wurde in der Kurgemeinde hinter dem Hügel die erste Frauenleiche gefunden. Die fünfundfünfzigjährige, alleinstehende Inhaberin der Pension ‚Sonnenhof’ war ausgeraubt und in ihrem Keller erwürgt aufgefunden worden. Eine langjährige Bedienung sagte aus, die Chefin habe seit zwei Tagen an Kopfschmerzen gelitten und das Bett gehütet, sie selbst habe ihr tags zuvor Aspirin besorgt. Als sie nun nach ihr sehen wollte und ein leeres, verwüstetes Schlafzimmer vorfand, habe sie sich auf die Suche gemacht und die arme Frau schließlich im Keller gefunden.
Den anwesenden sechs Pensionsgästen war nichts aufgefallen, da der Privatbereich der Wirtin und die Gaststätte in einem von der Pension abgetrennten Trakt des Gebäudes lagen.
Karl kam abends nach Hause und erzählte Mia mit bebender Stimme davon. Sie hatte ihn noch nie so fassungslos gesehen. Karl hatte die Frau am Tag des Mordes noch beliefert, war in dem Keller gewesen, in dem sie am nächsten Morgen gefunden wurde, und hatte sich gleich bei der Polizei gemeldet. Er trug alle Auslieferungen in ein Fahrtenbuch ein und konnte also einen exakten Zeitpunkt benennen. Um sechzehn Uhr zwanzig hatte die Frau zweifelsfrei noch gelebt. Allerdings hatte sie ihm gesagt, dass sie schon seit zwei Tagen starke Kopfschmerzen habe und sich wieder ins Bett legen wolle, sobald er fertig sei.
Karls Angaben wurden von der Bedienung bestätigt.
Die Tote lag an der Kellertreppe, deutliche Würgemale am Hals und Druckstellen im Nacken, vermutlich von den Daumen des Täters. Ihr Schlafzimmer war verwüstet worden und es fehlten offensichtlich Schmuck und Bargeld aus zwei aufgebrochenen Kassetten, deren Schlösser von jedem Kind hätten geknackt werden können. Nirgendwo hatte man fremde Fingerabdrücke gefunden, niemand hatte etwas gehört oder gesehen. Der Täter war leise und umsichtig vorgegangen und hatte Handschuhe getragen.
Karls Aufzeichnungen besagten, dass er um sechzehn Uhr fünfundvierzig die Tankstelle im fünf Kilometer entfernten Nachbarort beliefert hatte, danach trank er mit dem Tankwart einen Kaffee.
Als die Obduktion ergab, dass die Frau zwischen sechzehn und siebzehn Uhr gestorben war, war Karl außer sich. Er fuhr zur Polizei und bot an, seinen Truck durchsuchen zu lassen, seine Wohnung und seinen Bastelschuppen, denn er wollte auf keinen Fall des Mordes verdächtigt werden. Der Kommissar lehnte verlegen ab und dankte Karl für seine Mithilfe. Die Spurensicherung fand nichts von Bedeutung. Recherchen ergaben, dass die Wirtin tatsächlich nur eine geringe Summe Geld auf ihrem Bankkonto hatte, sie gehörte wohl zu den misstrauischen Menschen, die eher an die Sicherheit der eigenen Schlafzimmerkommode glaubten. Die Polizei suchte nun nach etwaigen Verwandten.
Mia umsorgte ihren Mann, saß neben ihm auf der Couch, und ihr Herz lief über von Liebe, während sie seine Hand streichelte. Karl quälte sich selbst mit der Vorstellung, den Mörder vielleicht gesehen zu haben, und ging immer wieder die Zeitspanne durch, in der das hätte geschehen können. Er schien besessen von dieser Idee und kam einfach nicht zur Ruhe.
Nach ein paar Tagen spürte Mia eine aufkommende Ungeduld, sie fand Karls Reaktion überzogen und schämte sich sofort für diese Gedanken.
Mia räumte die Wäsche aus der Waschmaschine und überlegte, ob sie Karl am Wochenende mit Kinokarten überraschen sollte. Sie könnten in die Stadt fahren und vielleicht sogar schick essen gehen. Die Idee gefiel ihr und sie lächelte zufrieden, als sie seine baumwollenen Arbeitshandschuhe an die Wäscheleine klammerte.

Karl küsste sie leidenschaftlich.
„Meine Pelztierchenzunge“, raunte er in Mias Ohr, fuhr mit dem Zeigefinger an ihrer Wirbelsäule entlang und spürte, wie sie in seinen Armen erschlaffte. Plötzlich schob er sie von sich weg und hielt sie mit den Händen an ihren Schultern auf Distanz. Mia blinzelte benommen. Karls Blick war freundlich, als er mit Bestimmtheit sagte: „Dein Vorschlag ist wunderbar, Liebling. Doch an diesem Wochenende muss ich einfach mal allein sein, verstehst du das?“ Er sah sie forschend an, Mia war verunsichert.
„Warum denn?“
Leise Ungeduld schwang in seiner Antwort.
„Ich will einfach raus in die Natur, irgendwo übernachten und mit dieser Geschichte abschließen. Mein ewiges Grübeln geht mir selber auf die Nerven, so will ich nicht weiter machen.“ Mia nickte, konnte ihn aber nicht ansehen. Warum nicht? Sie fühlte kein Mitleid, kein Verständnis, nur Enttäuschung. War sie nicht ungerecht? Alles, was er sagte, klang einleuchtend, und doch…
„Fahr doch mit deiner Mutter in die Stadt, sie freut sich sicher mal rauszukommen. Hol dir Geld vom Konto und macht euch einen netten Abend. Am Sonntagabend bin ich zurück und dann vergessen wir das Ganze.“ Mia nickte mechanisch. Sie wunderte sich, dass er so selbstverständlich von ihrem Konto sprach. Noch nie hatte sie Geld abgehoben, es lag einfach immer genug in der Küchenschublade. Verdattert fragte sie ihn nach der Kontokarte und der Geheimzahl. Karl brach in Gelächter aus und zog sie wieder an sich. Er strich ihr übers Haar und zog seine Brieftasche aus der Jeans, blätterte vier Fünfzig-Euro-Scheine auf den Tisch und sagte:
„Das reicht wohl für einen schönen Abend, oder?“ Mia riss erstaunt die Augen auf.
„Das ist doch viel zu viel, Karl.“ Er streichelte ihre Wange.
„Nun nimm es schon. Du weißt doch, dass ich Jahre lang gespart habe.“

Als er Sonntag zurück kam, wirkte er heiter und unverkrampft. Er sei Richtung Norden gefahren und wandern gegangen. Ortsnamen habe er sich gar nicht gemerkt. Jetzt sei ihm klar, dass er der Polizei alles gesagt habe was er wisse, und er hielte sich auch in keiner Weise mehr für schuldig.
Mia war froh, alles nahm wieder seinen gewohnten Gang und an den folgenden Wochenenden spielte Karl sonntags regelmäßig Fußball mit den Jungs und renovierte mit ihnen zusammen das Vereinsheim. Er fuhr mit Mia in die Stadt, sie gingen ins Kino und danach zum Tanzen in einen Club. Mia war aufgeregt wie ein junges Mädchen und stolz, denn Karl küsste sie verliebt mitten auf der Tanzfläche und ihr gefiel der Gedanke, dass die anderen Leute sie sicher für ein frisch verliebtes Paar hielten.

Sechs Monate später, an einem stürmischen, nassen Novembermorgen, fand ein Waldarbeiter die Leiche der fünfundsiebzigjährigen Adele Busch im Flur ihres Häuschens. Er ging sonntags gegen sechs Uhr mit seinem Hund auf der schmalen Strasse, die aus dem Dorf in Richtung Wald führte. Adeles Haus war das letzte auf der rechten Seite, kurz bevor die Strasse in einen erdigen, ansteigenden Waldweg überging. Der Mann sah Licht im Haus und die weit geöffnete Haustür. Der Hund zog unruhig an der Leine und begann zu winseln.
Die Tote lag kalt und steif im Flur, inmitten einer riesigen Blutlache. Die trüben Augen weit aufgerissen, der Schädel zertrümmert.
Die Polizei fand ein durchwühltes Schlafzimmer vor, eine aufgebrochene Kirschholzkommode in der Diele und uralte, aufgeklappte Zigarrenkisten. In einer lag ein sorgsam geführtes Ausgabenheftchen, von dessen Vorsatzblatt eine Ecke fehlte, doch Adeles säuberlich geschriebener Name war noch teilweise zu entziffern. Der letzte Eintrag war zwei Tage alt und gab Auskunft über den Kauf von fünf Flaschen Orangenlimonade. Die Obduktion ergab, dass sie am Samstagabend zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr von hinten mit einem Holzklotz erschlagen worden war. Fingerabdrücke gab es keine. Adele Busch war alleinstehend gewesen, hatte bis zu ihrer Pensionierung als Gemeindeschwester gearbeitet und wohl ein ganze Menge Geld gespart, das nach ihrem Tod der Caritas zufallen sollte, so war es allgemein bekannt.

Als die Nachricht in Windeseile die Runde im Ort machte, saßen Karl und Mia gerade beim Frühstück. Mias Mutter klopfte wie verrückt an die Tür und überbrachte die Neuigkeit.
Karl legte den Arm um seine erschütterte Frau und sagte kopfschüttelnd:
„Wann soll das passiert sein? Gestern Abend? Da war ich doch mit den Jungs im Vereinsheim. Das ist doch schräg gegenüber, hinter dem Sportplatz.“ Seine Schwiegermutter starrte ihn an.
„Da werden die euch sicher alle befragen, Karl. Habt ihr denn was bemerkt?“ Karl schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht. Es war ja stockdunkel, da oben Richtung Wald sind keine Laternen mehr. Der Sportplatz ist zwar fast gegenüber von Adeles Haus, doch wir müssen ihn ja überqueren, um zum Vereinsheim zu kommen; nein, ich glaube nicht, dass einer von uns was bemerkt hat, wir wären ja dann auch hingegangen, nicht wahr?“ Mias Mutter nickte beklommen.
„Ja sicher, ihr wisst doch alle, dass Adele da alleine wohnt.“
Mia erstarrte in Karls Umarmung. Sie hörte die Stimmen wie aus weiter Ferne an ihr Ohr dringen und ein Bild tauchte vor ihr auf. Karl war gestern um kurz nach elf nach Hause gekommen, völlig erschöpft und wortkarg. Mia war wütend, doch wie immer traute sie sich nicht, es zu zeigen, aus Angst vor seinem abschätzend-distanzierten Blick, der sofort Schuldgefühle in ihr wachrief und sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln ließ. Er hatte gegen zehn zurück sein wollen, die Jungs wollten im Vereinsheim ein paar Bierchen trinken und die anstehende Adventfeier planen. Er sei übrig geblieben, hatte Karl erklärt, und da er fast nichts getrunken hatte, bot er sich an, die Gläser zu spülen und aufzuräumen. Die Kollegen hätten ganz ordentlich getankt und sein Angebot dankend angenommen. Deshalb sei es halt später geworden. Mia hörte die Worte, doch sie passten nicht zu seiner Art von Erschöpfung. Karls Stimme war dünn vor Müdigkeit, er wirkte ausgelaugt und…irgendwie hoffnungslos. Er war wie ein Stein ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.

Die polizeilichen Untersuchungen verliefen im Sande. Die jungen Männer machten ihre Aussage, Karl versuchte wieder verzweifelt, sich zu erinnern, ob er irgendetwas bemerkt hatte, doch ihm fiel auch nach mehreren Tagen des Grübelns nichts ein. Das Wetter war zu schlecht, er musste gegen den Sturm ankämpfen, genau wie die Jungs eine knappe Stunde zuvor. Niemand hatte auf Adeles Häuschen geachtet.
„Die Leute vertrauen den Banken offensichtlich immer weniger“, sagte der Kommissar aus der Kreisstadt, denn auch Adele hatte fast kein Geld auf ihrem Girokonto und ein Sparbuch gab es nicht.
„Es wird sich gelohnt haben, so sparsam, wie sie gelebt hat“, sagte Mias Mutter eines Abends zu ihrer Tochter und wunderte sich über Mias erschreckten Blick.
Karl blieb still und bedrückt. Eine Woche nach der Tat nahm er abends Mias Hand und sagte: „Weißt du, was mich verrückt macht? Der Gedanke daran, dass ich beide Frauen gekannt habe, mit beiden habe ich geredet, beide habe ich beliefert. Adele war immer so dankbar, dass ich ihr den Sprudel und ihre Orangenlimo ins Haus brachte. Freitag war ich noch bei ihr. Es ist, als wäre ich ein Bote des Unheils.“ Mia brachte keinen Ton heraus. Sie dachte an die fünf Paar neuen Arbeitshandschuhe, die Karl ihr zum Vorwaschen gegeben hatte, Dienstag oder Mittwoch, und an seine Worte:
„Die alten werfe ich alle weg, die sind schon durchgescheuert.“ Was ist, wenn er doch nicht alle weggeworfen hatte, nicht bis Samstagabend?

Weihnachten und Sylvester gingen vorüber, die Menschen im Ort waren bedrückt und feierten still in ihren Häusern. Als die Tage wieder länger wurden und der spärliche Schnee geschmolzen war, wusste Mia, dass sie ein Kind erwartete. Karl blühte auf, er war außer sich vor Freude.
Seit dem zweiten Mord lebte Mia wie in einer Watteschicht. Sie dachte nichts Besonderes, grübelte kaum, meist war ihr Kopf luftig-leer und ihre Tage reihten sich in monotoner Gewohnheit aneinander. Karl beobachtete sie immer häufiger mit Besorgnis.
Im Frühsommer saß Karl abends in seinem Bastelschuppen hinter dem Haus und schnitzte Holzfiguren. Mia wunderte sich, wie geschickt er darin war. Sie hatte es vorher noch nie gesehen.
„Ich werde Märchenfiguren schnitzen, das geht gut mit dem Kaminholz“, sagte er lächelnd, während Mia an der Tür lehnte, die Hände über ihren leicht gewölbten Bauch gelegt, und staunte, wie leicht er mit dem dicken Holzklotz hantierte.
„Komm rein, Mia“, sagte Karl plötzlich und legte den Klotz zur Seite. Er wischte seine Hände an der Arbeitsschürze ab und stellte ihr einen Klappstuhl hin. Mia atmete den Kiefernduft ein und setzte sich vorsichtig neben ihren Mann, den Blick auf ihre Hände gerichtet.
„Misstraust du mir, Liebling?“ Seine Stimme klang traurig. Mia rührte sich nicht, Tränen lösten sich wie von selbst aus ihren Augenwinkeln. Karl seufzte und nahm ihre Hand.
„Mia, ich verstehe dich doch. Du weißt so wenig über mich und ich sehe, wie du dich mit Zweifeln quälst. Du hast dich verändert, bist nicht mehr fröhlich, seitdem diese scheußlichen Verbrechen passiert sind.“
Mia weinte lautlos. Karl rückte an sie heran.
„Ich sage dir jetzt etwas, dass dich hoffentlich beruhigen wird. Die Polizei hat mich gründlich überprüft.“ Jetzt sah Mia ihn kurz von der Seite an, erschrocken, mit verquollenen Augen. Karl tätschelte ihre Hand.
„Das ist okay, ich bin froh darum, schließlich war ich bei beiden Morden in der Nähe. Sie haben unser Konto überprüft, festgestellt, dass ich keine anderen Konten habe, sie haben meine Vergangenheit durchleuchtet, sie haben sogar unser Haus durchsucht, als du nicht hier warst, aber sie haben nichts gefunden.“ Er holte Luft und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
„Mir war klar, dass es so kommen würde, es gehört zur Routine der Polizei, verstehst du?“ Mia hörte auf zu weinen und hob langsam den Kopf. In Karls Blick lag eine verzweifelte Bitte.
„Mia, ich schäme mich mein Leben lang wegen meiner Familie. Meine Eltern sind beide Alkoholiker, Säufer, um es genau zu sagen, und ich weiß nicht wo sie sind und ob sie noch leben. Ich bin mit fünf Jahren, bunt und blau geprügelt, in ein Kinderheim gekommen. Zwei Jahre später hat es noch mal einen Versuch gegeben, mich den Eltern zu überlassen, der endete mit mehreren Knochenbrüchen. Ich habe sie nie wieder gesehen. Mit achtzehn bin ich aus dem Heim weg, durch die ganze Republik gezogen, bis nach Holland und Belgien, hatte überall Jobs, bin nie lange geblieben, habe immer mein Geld gespart, denn die Angst, wieder arm und abhängig zu sein, war riesig. Verstehst du, dass ich darüber nicht gerne rede? Ich habe auch nie einen Beruf erlernt, aber ich kann anpacken und hatte nie Probleme, Arbeit zu finden.“ Seine Stimme schwankte, er schluckte und Mia begann, seine Hand zu streicheln. Jetzt flüsterte er eindringlich.
„Mia, es war immer mein Wunsch, eine eigene Familie zu haben. Du und unser Baby, das ist alles, wovon ich träume. Weißt du noch, wie du mich mal gefragt hast, ob mir die Ruhe hier in der Provinz nicht auf die Nerven geht?“ Mia nickte lächelnd. Er küsste ihre verquollenen Augenlider und sie ließ den Kopf gegen seine Schulter sinken.
„Hier ist alles, was mir wichtig ist. Hier habe ich ein Zuhause gefunden. Um nichts in der Welt würde ich das gefährden. Und glaube mir, Mia: Für dich und unser Baby werde ich immer gut sorgen.“ Er hob ihr Gesicht mit beiden Händen an. „Glaubst du mir das?“ Sie nickte und küsste ihn leidenschaftlich.
Sie blieben noch lange so sitzen, zwischen den Holzspänen im Schuppen, durch dessen Tür das Sonnenlicht auf Mia fiel, und Karl dachte für einen Moment an Maria und Josef auf Herbergssuche.

Kurz vor Weihnachten wurde ihre Tochter geboren und im Januar verunglückte Karl auf einer vereisten Landstrasse tödlich mit seinem PKW. Er geriet auf die Gegenfahrbahn und prallte frontal gegen einen Laster.
Der Schock lähmte Mia wochenlang. Ihre Mutter versorgte das Baby, Mias Vater, hilflos vor Sorge um seine Tochter, organisierte die Beerdigung und hielt Mia am Grab fest im Arm.
Man bewunderte ihre Tapferkeit. Während der Sarg in der Grube verschwand, gab sich Mia den Bildern hin, die wie Träume an ihr vorbei zogen, und erinnerte sich an das Gefühl zu Beginn ihrer Liebe, alles könne eine Fantasie sein, eine Illusion, die mit dem nüchternen Aufwachen enden würde.
Nun war es so gekommen. Die Traumzeit war abgelaufen und Mia fand es irgendwie logisch.

Ein paar Wochen später baten die Jungs vom Fußballclub sie verlegen, Karls Spind auszuräumen. Mia suchte nach dem Schlüssel und fand ihn an der silbernen Halskette mit dem Kreuz, die man Karl im Leichenschauhaus abgenommen hatte. Nachdenklich wog sie die Kette in ihrer Hand. Karl war eines Abends damit heimgekommen und hatte lachend gesagt: „Vielleicht kann ich ein bisschen höheren Beistand ja gut brauchen, jetzt, wo ich jeden Tag mit dem Laster unterwegs bin.“
Als sie Karls Trikots, seine Schuhe, die Trinkflasche und sein Duschgel in ihre Tasche räumte, sog sie noch einmal seinen Duft ein und der Schmerz fraß sich bis in ihre Knochen.

Mia saß weinend auf ihrem Bett und starrte auf das Hochzeitsfoto an der Wand. Karl schaute sie lächelnd von der Seite an, während sie direkt in die Kamera strahlte. Sie stand auf und nahm das Bild von der Wand, dabei ertasteten ihre Finger einen angeklebten Umschlag auf der Rückseite. Erstaunt drehte Mia das Bild um. ‚Mia’ stand dort, eindeutig Karls Handschrift.
Mit zitternden Fingern riss sie die Klebestreifen ab und öffnete das Kuvert. Zuerst fiel ein abgerissenes Stück Papier heraus und Mia erkannte den Rest eines Namens: „...e Busch…“, dann die abgetrennte Seite eines Prospektes der Pension ‚Sonnenhof’, und ein kleiner Zettel mit einer Handynummer, zweifellos von Karl geschrieben. Sie drehte den Umschlag auf den Kopf, schüttelte ihn, doch außer den drei Zetteln war nichts darin. Warum auch? Karl hatte ihr alles gesagt, was wichtig war. Und sie selbst? Sie hatte es doch immer gewusst.
Sie fühlte sich, als sei sie in einem Eisblock gefangen, doch ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Karl musste gewusst haben, dass sie das Bild von der Wand nehmen würde.
Minutenlang hielt sie den Zettel in ihren bebenden Händen und starrte auf die Telefonnummer. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer und holte ihr Handy.
Die Männerstimme am anderen Ende klang humorvoll und freundlich, der Mann schien auf ihren Anruf gewartet zu haben.
„Tach Mia, min Deern! Karl hat gesacht, dass es schon `n büschen dauern kann…Wir beide müssen mal in Ruhe miteinander schnacken, aber nich am Telefon. Hamburch is ne schöne
S-tadt, weißt du? Hier kann man sein Glück finden…!“ Er lachte.
Mia nickte und versuchte, ihre trockenen Lippen zu bewegen.
„Ich werde kommen“, flüsterte sie.

 

Hallo Jutta,

deine Geschichte hat mir gefallen.

Ich hatte nur zum Schluss das Problem, die Zusammenhänge zu verstehen, weil die Hinweise Pension "Sonnenhof" und Adele Busch soweit oben im Text auftauchten, die hatte ich unten wieder vergessen und hab deshalb gegrübelt und rum gesucht. Aber das ist ja mein Problem. Letzendlich ist auch bei mir der Groschen gefallen, hoffe ich zumindest. Denn so richtig weiß ich nicht was es mit dem letzten Telefongespräch auf sich hatte?

Gruß Freygut

 

Hallo,

lenkte sie ohne zu fragen zur Tanzfläche
er machte ohne zu murren
Mit „ohne … zu“ werden Modalsätze eingeleitet, keine erweiterten Infinitivsätze. Hier ist das Komma weiter Pflicht.

Die jungen Leute des Ortes kamen oft und gerne zu Besuch, Karl spielte mit den Männern sonntags Fußball, stellte an Sommerabenden gerne seine Kochkünste unter Beweis und erzählte Geschichten von seinen Reisen durch das Land, die immer mit einem verliebten Blick in Mias Richtung endeten. Der kleine Ort schien das aufregende Flair ferner Städte und unbekannter Menschen aufzusaugen und alle waren sich einig: Mit Karl war ein frischer Wind in die Provinz gekommen.
Ich weiß nicht, ob sich der Text mit diesen starken Raffungen einen Gefallen tut, zu Beginn ist man im Text drin, bis zu der Disco-Szene noch, dann kommt der schnelle Vorlauf. Die Kurzgeschichte, ganz eng gefasst, fordert eigentlich einen engen Zeitrahmen, das ist sicher überholt und heute hat die Kurzgeschichte mehr Platz zum Atmen, aber mit diesem Wechsel im Tempo und der Erzählnähe, kriegt es etwas Berichtsartiges, die Geschichte verliert auch einen Großteil der Atmosphäre und Individualität. In diesem schnellen Vorlauf verwischen die Bilder und es wird undeutlich. Was kocht er denn? Wie lieben sie sich? Wie geht er mit dem Vater um? Wie spricht er? Wie behandelt er sie? Wie zeigt sich die Rivalität zwischen ihm und den jungen Männern dort? Wie wird Mia um ihn von ihren Freundinnen beneidet?
Es ist da erzähltechnisch nicht gut gelöst, dieser schnelle Vorlauf ist ganz diffizil, man müsste dort immer wieder auf Pause drücken, es eine Szene laufen lassen und dann weiter.

Der Text wirkt auf mich irgendwie nicht zeitgemäß. Ich hab „Tannöd“ nicht gelesen, hatte aber aus den Rezensionen so ein Bild von dem Buch, dass ich bei deinem Text nun daran denken musste. Ich glaube das Problem ist wirklich der schnelle Vorlauf und dass dadurch die Proportionen des Textes durcheinandergeraten.

Gruß
Quinn

 

Hallo Jutta!

Sehr schön der langsam ansteigende Spannungsbogen, der bis zum Schluss an Kraft gewinnt.
Karl mit seiner Offensiv-Verteidigung, die zunächst glaubwürdig, dann aber immer seltsamer erscheint.
Die Auflösung ist nicht einfach, jedenfalls bin ich mir da nicht sicher. Meine Fragen dazu:
Warum hinterlässt er die Hinweise?
Was hat es mit dem Telefongespräch auf sich?
Geht es darum, dass Mia und seine Tochter an ihre "Erbschaft" kommen?

Gruß

Asterix

 

hallo Jutta,

die Fragen von Asterix habe ich mir so beantwortet: ein Raubmörder, der für eine nette "heile" Familie sorgt, sein Geld nicht verpraßt (untypisch!) und den Schlüssel zum Nachlaß hinter einem Bild verbirgt - der hat sich selbst umgebracht. Wenn ich damit richtig liege, frage ich mich, warum ich es mir rational erschließe und nicht fühle.- Interessant der Weg, auf dem Mia seine Komplizin wird, letztendlich.

Zehn Monate nach Karls Ankunft wurde in der Kurgemeinde hinter dem Hügel die erste Frauenleiche gefunden.

Dieser Satz ist ein richtiger Spannungstöter; Du stellst gleich klar, daß zwischen Karls´Erscheinen und dem Mord ein Zusammenhang besteht. Damit verabschiedest Du Dich vom Spannungsgebot der Krimisparte und stellst fest, daß es Dir hier um etwas anderes geht: eine irreale Beziehung, der Umgang mit der gefühlten Wahrheit, die Ausweglosigkeit der Lebenslage des Täters...

Die Anmerkungen von Quinn möchte ich bestätigen; der Berichtsstil hat mich gleich gestört. Daß es hier formal eigentlich keine Kurzgeschichte ist, ist ohnehin klar, aber das gilt für viele Geschichten. Die Brüche in der Nähe zur Handlung, mal berichtend, mal nah dran, lassen sich sicher leicht heilen.

Gruß Set

 

Hallo Freygut,
danke für Deinen Kommentar und es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Deine Frage am Schluß wird von den anderen Kommentatoren ja auch aufgegriffen und es ergebn sich etliche Punkte zur Veränderung der Geschichte. Das werde ich bearbeiten.
LG, Jutta

Hallo Quinn,
wie immer Dank! Ich dachte mir schon, dass der Berichtteil einen Bruch darstellt, hatte beim Schrieben plötzlich das Gefühl, die Geschichte wird viel zu lang und habe dann so gerafft, doch das passt nicht, Du hast recht. Das werde ich mir überlegen und verändern. Das die Geschichte nicht zeitgemäß wirkt, war allerdings Absicht. Ich finde es ganz schön, so einen Kontrast reinzubringen, um zu illustrieren, wie gegensätzlich und doch ähnlich menschliche Sehnsüchte in verschiedenen Lebenswelten sind. Damit komme ich gleich zu einer weiteren Absicht: Karl hat durchaus Sehnsucht nach einer normalen Welt mit Familie, Mia möchte ein Stück Glamour und das besondere Prickeln, das es in ihrer Welt nicht gibt. Tannöd habe ich auch nicht gelesen, es war mir zu viel Hype um das Buch. Inspiration war mir ein alter Film mit Billy Bob Thornton, dessen Titel ich leider vergessen habe, er hat einen gerechtigkeitsversessenen, aber einsamen Sheriff gespielt und seine Kleinstadt war der reine Anachronismus.
LG,
Jutta

Hallo Asterix!
Das Ende ist schon so gedacht, wie Du vermutest. Für den Fall seines Todes hat Karl die Beweise seiner Taten und die Telefonnummer hinterlegt. Ja, Mia soll an das Geld kommen, das war mein Gedanke, doch ich habe schon einkalkuliert, dass ein Leser dem Ende andere Bedeutungen geben kann. Danke Dir fürs Lesen und die Anregungen.
LG,
Jutta

Hallo Set,
ja, so ist es auch gedacht. Ob karl sich wirklich umbringt, weiß ich gar nicht, mir ging es darum, dass er immer damit gerechnet hat, seinen Traum von der heilen Familie aufgeben zu müssen und letzlich konnte er den Sprung in das andere Leben nicht schaffen, velleicht ist es deshalb so schwierig, das zu fühlen. Karl konnte das auch nicht.
Heikel wird es für mich mit Deiner Bemerkung zum spannungstötenden Satz, denn es gibt ja genug Krimis, bei denen von Anfang an klar ist, wer der Täter ist, dann gibt es Krimis, bei denen man immer wieder in die Irre geführt wird mit einer person, die es sein kann oder auch nicht. Meine Absicht war, diese zweite Möglichkeit anzubieten und jetzt denke ich, dass der Berichtstil im Vorfeld ganz viel von der Spannung genommen hat, ( siehe Quinn). Danke für die Anregungen.
LG,
Jutta

 

Hallo noch mal!

Heikel wird es für mich mit Deiner Bemerkung zum spannungstötenden Satz,
Dieser Satz stellt für mich eher die zentrale Frage vor. Ist Karl der Täter oder nicht?
Ich denke nicht, dass sich am Spannungsbogen etwas ändert, wenn du den raus nimmst.

Gruß

Asterix

 

Huhu,
also ich mochte die Geschichte, ABER

Kurz vor Weihnachten wurde ihre Tochter geboren und im Januar verunglückte Karl auf einer vereisten Landstrasse tödlich mit seinem PKW
das find ich etwas zu schnell. Ich denke es wär besser, wenn du Karls Tod etwas langsamer einbringst.

Mit dem Ende war ich auch überfordert, wer ist der Mann am Telefon und was will er? Ein offenes Ende ist ja nett, aber da habe ich den Eindruck das es nicht fertig ist. Ich denke, wenn du einfach nur die beiden Zettel zu den Morden gibst und es damit enden lässt wäre es schlüssiger.
Danke für deine Geschichte.
Gabriel

 

Hallo Asterix,
ich werde alles noch einmal überdenken, doch ich hänge irgendwie an diesem Satz...
LG,
Jutta

Hallo Gabriel55,
willkommen auf kg.de und danke für Deine Rückmeldung. In den vorhergehenden Antworten bin ich auf Deine Anmerkungen schon eingegangen und werde mir noch etwas dazu überlegen. das rasche Tempo ist aber durchaus auch Absicht, Karl ist eben sehr schnell verunglückt!!
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

"spannungstötend" ist vielleicht zu hart ausgedrückt, ich habe es ja nur einordnend, nicht negativ kritisierend erwähnt, wie meine Ausführungen sagen sollten:

Damit verabschiedest Du Dich vom Spannungsgebot der Krimisparte und stellst fest, daß es Dir hier um etwas anderes geht: eine irreale Beziehung, der Umgang mit der gefühlten Wahrheit,....

Ich finde es vielmehr gut, daß durch die Abkehr von den Krimiregeln die menschliche Dramatik in den Vordergrund rückt. Also nimm ihn bitte nicht raus.

Gruß Set

 

Hallo Jutta!

ich werde alles noch einmal überdenken, doch ich hänge irgendwie an diesem Satz...
Missdeutung!
Ich meinte, lass den Satz stehen. Wenn du ihn rausnimmst wird die Geschichte nicht Spannender.

 

Hallo Jutta,

eine interessante Geschichte, da nicht Mord und seine Auflösung im Mittelpunkt stehen, sondern ein ungewöhnliches Täterprofil (welches man infrage stellen könnte, aber es gibt nun mal die seltsamsten menschlichen Verhaltensweisen). Gut auch, dass du offen läßt, ob sich Karl umbringt oder ob es ein Unfall war.
Bezüglich deiner Erzählweise bin ich nicht zufrieden, der Text will offensichtlich schnell zum Schluss kommen und berichtet recht distanziert. Ich denke, es würde sich lohnen das Ganze zu überarbeiten.
(Wenn es eine Psychologierubrik gäbe, würde der Text gut dazu passen).

Änderungsvorschläge:

„er wirkte ausgelaugt und…irgendwie hoffnungslos“

und … irgendwie

„Nun war es so gekommen. Die Traumzeit war abgelaufen und Mia fand es irgendwie logisch.“

Die Zeit zu Träumen (Zeit der Träume/Träumereien). „Traumzeit“ erinnert an den Mythos der Aborigines, das passt hier nicht dazu.


Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,
ja, ich bin schon dabei, die Geschichte zu überarbeiten, merke gerade, dass sie sich dabei erheblich veröändert...mal sehen. Vielen Dank fürs Lesen und die Vorschläge.
LG,
Jutta

 

>„Vielleicht drehen sie hier einen Film“, flüsterte die ältere Dame und Mia dachte, ja, genau so sieht er aus< heißt es einmal in diesem Text, und genau so will ich den Text lesen: als die Verfilmung eines Heimatromans (gibt’s „Heimatkurzgeschichten?“, noch nie von der Gattung gehört.), z. B. aus der Lüneburger Heide – Provinz-Nest, grüne Hügellandschaft – der Wilseder Berg misst immerhin 169 m, da kann der Kaiserberg mit seinen 70 m nicht mithalten, obwohl er doch der nördlichste Ausläufer des Rheinischen Schiefergebirges ist – oder noch besser, ja so les ich’s jetzt: als Western in einem Prairie-Nest.
Um nicht selbst eine eigene Geschichte zu erfinden, werde ich Fragen einstreuen, die das Ganze – also meinen kommentierend/interpretierenden Text verfremden (quasi episches Theater i. S. Brechts auf kg.de).

Die Geschichte beginnt mindestens drei Jahre, bevor Du sie hier niedergeschrieben hast, oder vor noch längerer Zeit, bevor Du sie von einem andern erfahren hast,

liebe Jutta.

Sie beginnt wie ein Western: da kommt einer über die Hügel ins provinzielle Nest. Außer, dass er >aus dem Norden< komme, weiß man nix von ihm in dem Nest. Eine junge Frau, Maria, kurz Mia genannt, erlebt die Liebe auf dem ersten Blick, und der Fremde erwidert die Zuneigung, beachtet Mia. Beim ersten Zusammentreffen können wir die Lage des Ortes präzisieren: >„Kennst du den?“,< fragt, skeptisch gegen alles Fremde, wie sichs für Provinzler gehört, eine Kundin mit texanischem Akzent. Alle sind zunächst misstrauisch. Auch Mias Eltern sind skeptisch und das konditionell stark mehr als vier Monate lang.

>Seine Augen waren umwerfend blau. / Wie einer, der kurz herkommt, um irgendwas zu tun, und dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet.< (hieß es einmal). Da sind die Filmrollen durcheinandergeraten: wegen der blauen Augen verschwindet m. W. niemand, obwohl es vorkommen mag, dass einer wegen Blauäugigkeit wohin gerät. wie Mia. Hier wäre eine kleine Korrektur notwendig.

Der Fremde quartiert sich zunächst im Postillion ein, bevor man sich am Tag nach der Ankunft in der Disco, wo er von allen jungen Frauen angehimmelt wird. Aber er tanzt mit seiner ersten Begegnung: Mia. So erfährt die bis zum Schwulst reichende ausführliche Beschreibung, bevor sie in nüchternen berichtenden Stil übergeht, ihre Berechtigung, zumindest eine Erklärung: den beiden Verliebten läuft offensichtlich dass Herz über.

Und der Fremde lebt sich gut ein, wird bereits am vierten Tag nach seiner Ankunft Bierkutscher, ‚tschuldigung, Getränkefahrer und erweist sich als zuverlässiger Arbeiter, dass nach vier Monaten die letzten skeptische Stimmen verstummen. Karl, so heißt der Fremde, wirbt um Mia, zieht zu ihr. Für die junge Frau beginnt eine neue Zeitrechnung. Sie heiraten im vierten Monat der Geschichte, Mia ist glücklich und das Nest feiert drei Tage lang mit. Und Karl zahlt. Immer wieder wird man hören: er habe genug gespart, was in dem Nest – außer bei älteren Damen – eher ungewöhnlich zu sein scheint.

Mias Mutter (was ist mit ihrem Vater?) will Karls Eltern kennenlernen. Karls Antwort >„Jetzt habe ich eine Mutter, wie ich noch nie eine hatte, damit soll es gut sein. Meine Vergangenheit ist zu schmerzhaft, bitte, rührt nicht mehr daran.“< Etwa ein Jahr später wird Mia – endlich - ein wenig von seinen alkoholkranken und verhaltensgestörten Eltern erfahren und von seiner Heimkarriere (sag ich’s nicht immer wieder: Eltern sollte man verbieten, incl. zölibitäre Erzieher), hinzu kommt erste Skepsis: > Mit gerade mal zwanzig hatte sie den tollsten Mann der Welt ergattert, und obwohl alles kein Traum war, fühlte es sich doch so an, und manchmal beschlich sie das seltsame Gefühl, in einer Fantasie gefangen zu sein, die irgendwann der Wirklichkeit nicht mehr standhalten würde.
>Doch sobald sie in Karls Armen lag, seinen harten, fordernden Körper spürte und ihre Schwäche wie ein Welle heranrollen ließ, bebte sie vor Verlangen und Wolllust.< Nee, es ist doch kein Lust auf Wolle, wenn ich’s richtig seh. Also an der Emotion sollte ein l gestrichen werden. Und warum zuvor die würde-Konstruktion? Dass unterschwellig Zweifel bestehen, rechtfertigt doch den Konj. irralis der Germanistik und nicht des Denglishen: „ … die irgendwann der Wirklichkeit nicht mehr standhielte“, und komme mir keiner, man könne diese Konstruktion mit dem Präteritum verwechseln!

Gleichwohl: Karl ist integriert und mit ihm weht ein frischer Wind im Nest. Aber im zehnten Monat der Geschichte wird die erste Frauenleiche gefunden, ein weiters halbes Jahr später eine zwote. Die Ermittlungen des Sheriffs (oder des Marshalls aus Lüneburg oder Celle, vielleicht auch Frau Furtwänglers aus Hannover, auf jeden Fall der nächsten größeren Stadt) verlaufen ergebnislos. Die Opfer – ältere Damen, die einen Sparstrumpf zuhause halten, da sie den Banken misstrauen (s. o.).
Da Karl nachweislich in unmittelbarer Nähe der Tatorte zunächst im Haus und im zwoten Falle in der Nachbarschaft gewesen ist, bietet er der Polizei Hilfe an, um zumindest seine Täterschaft ausschließen zu lassen, was angeblich abgelehnt wird. Karl ist aber auffällig nervös, doch Mia versorgt ihn und wäscht die Wäsche. >Deine Pelztierchenzunge macht mich noch verrückt, hatte er damals gesagt und seine breite Hand fordernd um ihre Taille gelegt. Es gab kein Entkommen, nur diese willige Schwäche. Sie wusste vom ersten Augenblick an, dass sie ihn wollte.< So lautet der erste Satz überhaupt. Und nun schließt sich der Kreis, ohne dass die Anfangsszene sich wiederholte, als sie mit ihm am Wochenende ins Kino will: Karl küsste sie leidenschaftlich und raunt ihr ins Ohr: „Meine Pelztierchenzunge“, fährt mit dem Zeigefinger an ihrer Wirbelsäule entlang und spürt, wie sie in seinen Armen erschlafft. Plötzlich schiebt er sie von sich weg und hält sie mit den Händen an ihren Schultern auf Distanz. Er wolle allein sein, müsse mit sich selbst ins Reine kommen. Sie solle doch derweil was mit der Mutter unternehmen. Und wieder ist mehr als genug gespartes Bargeld von ihm da. Hernach wird alles wieder wie gehabt, normal eben.

Auffällig an Karls >abschätzend-distanzierten Blick< und Mias > luftig-leerem Kopf< die find ich die Bindestriche: was soll da Hervorgehoben werden, denn unübersichtliche Zusammensetzungen sind es nicht, wie später in der Woll-Lust (s. o.)?

Nun läuft der showdown, wenn auch ein Jahr lang: Nach dem Jahreswechsel ist Mia schwanger. Während der werdende Vater sich freut, bleibt die Mutter >wie in einer Watteschicht<, wie schon einmal nach dem zwoten Mord, was Karl besorgt wahrnimmt.
Im Frühsommer spricht er sie an: >„Misstraust du mir, Liebling?“ Seine Stimme klang traurig. … „Mia, ich verstehe dich doch. Du weißt so wenig über mich und ich sehe, wie du dich mit Zweifeln quälst. Du hast dich verändert, bist nicht mehr fröhlich, seitdem diese scheußlichen Verbrechen passiert sind. (…) Ich sage dir jetzt etwas, dass dich hoffentlich beruhigen wird. Die Polizei hat mich gründlich überprüft.“< (s. o.)
Kurz vor Weihnachten wird ihre Tochter geboren, im Januar verunglückt Karl auf einer vereisten Landstrasse tödlich. Die Fußballfreunde räumen den Spind aus und übergeben triviale Dinge wie auch einen Couvert an Mia. Wie hat er zuletzt gesagt: „Hier ist alles, was mir wichtig ist. Hier habe ich ein Zuhause gefunden. Um nichts in der Welt würde ich das gefährden. Und glaube mir, Mia: Für dich und unser Baby werde ich immer gut sorgen“<, was zur Lösung des abschließenden Geheimnisses führt.
> Minutenlang hielt sie den Zettel [aus dem Couvert] in ihren bebenden Händen und starrte auf die Telefonnummer. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer und holte ihr Handy. / Die Männerstimme am anderen Ende klang humorvoll und freundlich, der Mann schien auf ihren Anruf gewartet zu haben. / „Tach Mia, min Deern! Karl hat gesacht, dass es schon `n büschen dauern kann…Wir beide müssen mal in Ruhe miteinander schnacken, aber nich am Telefon. Hamburch is ne schöne S-tadt, weißt du? Hier kann man sein Glück finden…!“ Er lachte. / Mia nickte und versuchte, ihre trockenen Lippen zu bewegen. / „Ich werde kommen“, flüsterte sie.<
Mia hat verstanden, wo Karl seine Familie versichert hat und – so hoffe ich – Freygut auch.

Eigentlich stört die "Traumzeit" wenig, denn ich bezweifel, dass sonders viele ihren Dürr gelesen haben oder überhaupt was über die Ureinwohner Australiens wissen (außer vielleicht vom Bumerang). Wer's als Begriff und nicht als beliebigen Ausdruch ansieht, stutzt natürlich erstmal. Da wäre dann "Zeit der Träume" oder etwas Ähnliches angebracht. Aber an sich stört der Ausdruch nicht.

Gut zu lesen bistu allemal, und Vergnügen/Ironie hab ich auch gefunden, doch sag, seit wann arbeitestu mit einer Schweizer Tastatur? Irgendwo taucht eine "Strasse" auf ...

Gruß

Friedel

 

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