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Die Stille der Provinz
Die Stille der Provinz
Deine Pelztierchenzunge macht mich noch verrückt, hatte er damals gesagt und seine breite Hand fordernd um ihre Taille gelegt. Es gab kein Entkommen, nur diese willige Schwäche. Sie wusste vom ersten Augenblick an, dass sie ihn wollte.
Karl schmeckte nach bitterem Rauch, nach salziger Luft, und für Mia war er die Verheißung. Sie wünschte mit jeder Faser ihres Körpers, dass es auf ewig so bliebe.
Vor fast drei Jahren war er plötzlich da gewesen. Ein großer, auf verwegene Art gut aussehender Mann mit halblangem blondem Haar und Dreitagebart. Er trug ausgeblichene Jeans, abgewetzte Cowboystiefel und auf seinem muskulösen Oberarm war ein Skorpion tätowiert.
Mia weiß bis heute nicht genau, woher er kam. Er war einfach da, über die welligen Berge hinuntergekommen in das beschauliche Provinznest, das allerhöchstens an ein paar versprengte Touristen gewöhnt war, die sich die obligatorischen Urlaubsorte nicht leisten konnten.
Mia saß damals gerade an der Kasse des kleinen Supermarktes, als der verdreckte Käfer gegenüber auf dem Parkplatz eine Staubfontäne hoch wirbelte. Warum, zum Teufel, klopfte ihr Herz auf einmal wie verrückt?
Dann war er ausgestiegen, hatte sich gestreckt und Mia dachte, dass er viel zu groß war für den winzigen Wagen. Plötzlich sah er sie an. Starrte ihr mitten ins Gesicht und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Mein Gott, was für Zähne, dachte Mia und vergaß, die Einkäufe über den Scanner zu ziehen. Die Kundin folgte ihrem Blick.
„Kennst du den?“, fragte sie gedehnt und Mia entging der skeptische Unterton nicht. Sie schüttelte heftig den Kopf und kriegte ihre pappigen Kiefer nicht auseinander.
Da stand er auch schon im Eingang, grüßte stumm, indem er zwei Finger kurz an die Schläfe legte, und schnappte sich einen Einkaufskorb. Seine Augen waren umwerfend blau.
„Vielleicht drehen sie hier einen Film“, flüsterte die ältere Dame und Mia dachte, ja, genau so sieht er aus. Wie einer, der kurz herkommt, um irgendwas zu tun, und dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Doch er war geblieben. Mia hatte ihm den ‚Postillon’ empfohlen, als er mit kehliger Stimme nach einer Pension fragte, und ihre zitternden Hände unter dem Laufband versteckt.
Der folgende Tag war ein Sonntag und sie sah ihn abends in der ‚Laterne’, der einzigen Disco am Ort. Bianca und Lore himmelten ihn schamlos an, die Jungs aus der Clique standen in Grüppchen zusammen und lachten eine Spur zu laut, knallten ihr Bier auf die Theke und lehnten sich betont lässig an den Tresen.
Karl hatte ihr zugeprostet, dann war er zu ihr gekommen und lenkte sie, ohne zu fragen, zur Tanzfläche. Zum ersten Mal fühlte sie diese warme Hand in ihrem Rücken und dachte, sie würde einen Brandfleck hinterlassen. Sein Mund streifte ihre Wange, als er einen Dank in ihr Ohr raunte. Die Pension sei prima, er wolle sich hier eine Weile niederlassen und sich am Montag einen Job suchen. Später küsste er sie, berührte mit den Fingerspitzen wie zufällig ihre Brüste und verschwand noch vor Mitternacht.
Drei Tage später war er als Getränkefahrer angestellt und lieferte Mineralwasser und Limonaden in die Touristenorte hinter den grünschimmernden Bergen. Keine Fahrt war ihm zu weit, kein Kasten zu schwer, er machte Überstunden und war freundlich zu Kollegen und Kunden.
Mias Eltern trauten Karl nicht über den Weg, doch sie konnten nichts Ernsthaftes gegen ihn vorbringen, im Gegenteil, ihr Misstrauen wurde eher durch seine altmodische Höflichkeit genährt. Er warb um Mia mit Blumen und im Anzug. So was gab es doch heutzutage gar nicht mehr!
Bianca, immer noch neidisch, sagte damals, dass Karl einfach beschlossen hätte, Mia zu kriegen, und zwar vom ersten Tag an.
Für Mia begann eine neue Zeitrechnung.
Nach vier Monaten gab Karl seine möblierte Bude auf und zog in Mias Einliegerwohnung im Haus ihrer Eltern. Die bösen Stimmen waren verstummt, Karl erwies sich als zuverlässig und hilfsbereit und sein Chef war des Lobes voll. Zwei Monate später feierte der ganze Ort Hochzeit.
Mias Mutter wollte Karls Eltern einladen. Niemand hatte bisher direkt nach seiner Familie gefragt. Man wusste, dass er aus dem Norden kam, das war aber auch schon alles. Die Heirat war also eine gute Gelegenheit, seine Familie kennen zu lernen.
Er blieb zunächst stumm, lächelte, und nahm dann Mias Mutter in den Arm. Sie stolperte fast, so kräftig drückte er sie an sich.
„Jetzt habe ich eine Mutter, wie ich noch nie eine hatte, damit soll es gut sein. Meine Vergangenheit ist zu schmerzhaft, bitte, rührt nicht mehr daran.“ In seine Augen war ein feuchter Glanz getreten und Mias Mutter drückte stumm seinen Arm.
Der kleine Ort feierte drei Tage lang und Karl bezahlte ohne zu zögern die Musiker, das Zelt, die Getränke und das Büfett. Er habe Zeit genug gehabt zu sparen, erklärte er den verwunderten Schwiegereltern, die angesichts solcher Freizügigkeit ihre letzten Zweifel, mitsamt der Neugier auf seine Vergangenheit, begruben.
Mias Vater reparierte in seiner Werkstatt die Traktoren der Bauern und allerlei landwirtschaftliches Gerät und trank abends mit seinem Schwiegersohn ein Schnäpschen auf der Bank vor dem Haus. Selbst wenn Karl erst im Dunkeln von seiner Tour zurückkam, wartete Mias Vater auf ihn.
Mia war glücklich. Mit gerade mal zwanzig hatte sie den tollsten Mann der Welt ergattert, und obwohl alles kein Traum war, fühlte es sich doch so an, und manchmal beschlich sie das seltsame Gefühl, in einer Fantasie gefangen zu sein, die irgendwann der Wirklichkeit nicht mehr standhalten würde. Dann musste sie wieder um sieben Uhr aufstehen und jeden Tag in den Supermarkt gehen.
Doch sobald sie in Karls Armen lag, seinen harten, fordernden Körper spürte und ihre Schwäche wie ein Welle heranrollen ließ, bebte sie vor Verlangen und Wolllust.
In den Supermarkt ging sie nur noch dienstags und freitags.
Die jungen Leute des Ortes kamen oft und gerne zu Besuch, Karl spielte mit den Männern sonntags Fußball, stellte an Sommerabenden gerne seine Kochkünste unter Beweis und erzählte Geschichten von seinen Reisen durch das Land, die immer mit einem verliebten Blick in Mias Richtung endeten. Der kleine Ort schien das aufregende Flair ferner Städte und unbekannter Menschen aufzusaugen und alle waren sich einig: Mit Karl war ein frischer Wind in die Provinz gekommen.
Zehn Monate nach Karls Ankunft wurde in der Kurgemeinde hinter dem Hügel die erste Frauenleiche gefunden. Die fünfundfünfzigjährige, alleinstehende Inhaberin der Pension ‚Sonnenhof’ war ausgeraubt und in ihrem Keller erwürgt aufgefunden worden. Eine langjährige Bedienung sagte aus, die Chefin habe seit zwei Tagen an Kopfschmerzen gelitten und das Bett gehütet, sie selbst habe ihr tags zuvor Aspirin besorgt. Als sie nun nach ihr sehen wollte und ein leeres, verwüstetes Schlafzimmer vorfand, habe sie sich auf die Suche gemacht und die arme Frau schließlich im Keller gefunden.
Den anwesenden sechs Pensionsgästen war nichts aufgefallen, da der Privatbereich der Wirtin und die Gaststätte in einem von der Pension abgetrennten Trakt des Gebäudes lagen.
Karl kam abends nach Hause und erzählte Mia mit bebender Stimme davon. Sie hatte ihn noch nie so fassungslos gesehen. Karl hatte die Frau am Tag des Mordes noch beliefert, war in dem Keller gewesen, in dem sie am nächsten Morgen gefunden wurde, und hatte sich gleich bei der Polizei gemeldet. Er trug alle Auslieferungen in ein Fahrtenbuch ein und konnte also einen exakten Zeitpunkt benennen. Um sechzehn Uhr zwanzig hatte die Frau zweifelsfrei noch gelebt. Allerdings hatte sie ihm gesagt, dass sie schon seit zwei Tagen starke Kopfschmerzen habe und sich wieder ins Bett legen wolle, sobald er fertig sei.
Karls Angaben wurden von der Bedienung bestätigt.
Die Tote lag an der Kellertreppe, deutliche Würgemale am Hals und Druckstellen im Nacken, vermutlich von den Daumen des Täters. Ihr Schlafzimmer war verwüstet worden und es fehlten offensichtlich Schmuck und Bargeld aus zwei aufgebrochenen Kassetten, deren Schlösser von jedem Kind hätten geknackt werden können. Nirgendwo hatte man fremde Fingerabdrücke gefunden, niemand hatte etwas gehört oder gesehen. Der Täter war leise und umsichtig vorgegangen und hatte Handschuhe getragen.
Karls Aufzeichnungen besagten, dass er um sechzehn Uhr fünfundvierzig die Tankstelle im fünf Kilometer entfernten Nachbarort beliefert hatte, danach trank er mit dem Tankwart einen Kaffee.
Als die Obduktion ergab, dass die Frau zwischen sechzehn und siebzehn Uhr gestorben war, war Karl außer sich. Er fuhr zur Polizei und bot an, seinen Truck durchsuchen zu lassen, seine Wohnung und seinen Bastelschuppen, denn er wollte auf keinen Fall des Mordes verdächtigt werden. Der Kommissar lehnte verlegen ab und dankte Karl für seine Mithilfe. Die Spurensicherung fand nichts von Bedeutung. Recherchen ergaben, dass die Wirtin tatsächlich nur eine geringe Summe Geld auf ihrem Bankkonto hatte, sie gehörte wohl zu den misstrauischen Menschen, die eher an die Sicherheit der eigenen Schlafzimmerkommode glaubten. Die Polizei suchte nun nach etwaigen Verwandten.
Mia umsorgte ihren Mann, saß neben ihm auf der Couch, und ihr Herz lief über von Liebe, während sie seine Hand streichelte. Karl quälte sich selbst mit der Vorstellung, den Mörder vielleicht gesehen zu haben, und ging immer wieder die Zeitspanne durch, in der das hätte geschehen können. Er schien besessen von dieser Idee und kam einfach nicht zur Ruhe.
Nach ein paar Tagen spürte Mia eine aufkommende Ungeduld, sie fand Karls Reaktion überzogen und schämte sich sofort für diese Gedanken.
Mia räumte die Wäsche aus der Waschmaschine und überlegte, ob sie Karl am Wochenende mit Kinokarten überraschen sollte. Sie könnten in die Stadt fahren und vielleicht sogar schick essen gehen. Die Idee gefiel ihr und sie lächelte zufrieden, als sie seine baumwollenen Arbeitshandschuhe an die Wäscheleine klammerte.
Karl küsste sie leidenschaftlich.
„Meine Pelztierchenzunge“, raunte er in Mias Ohr, fuhr mit dem Zeigefinger an ihrer Wirbelsäule entlang und spürte, wie sie in seinen Armen erschlaffte. Plötzlich schob er sie von sich weg und hielt sie mit den Händen an ihren Schultern auf Distanz. Mia blinzelte benommen. Karls Blick war freundlich, als er mit Bestimmtheit sagte: „Dein Vorschlag ist wunderbar, Liebling. Doch an diesem Wochenende muss ich einfach mal allein sein, verstehst du das?“ Er sah sie forschend an, Mia war verunsichert.
„Warum denn?“
Leise Ungeduld schwang in seiner Antwort.
„Ich will einfach raus in die Natur, irgendwo übernachten und mit dieser Geschichte abschließen. Mein ewiges Grübeln geht mir selber auf die Nerven, so will ich nicht weiter machen.“ Mia nickte, konnte ihn aber nicht ansehen. Warum nicht? Sie fühlte kein Mitleid, kein Verständnis, nur Enttäuschung. War sie nicht ungerecht? Alles, was er sagte, klang einleuchtend, und doch…
„Fahr doch mit deiner Mutter in die Stadt, sie freut sich sicher mal rauszukommen. Hol dir Geld vom Konto und macht euch einen netten Abend. Am Sonntagabend bin ich zurück und dann vergessen wir das Ganze.“ Mia nickte mechanisch. Sie wunderte sich, dass er so selbstverständlich von ihrem Konto sprach. Noch nie hatte sie Geld abgehoben, es lag einfach immer genug in der Küchenschublade. Verdattert fragte sie ihn nach der Kontokarte und der Geheimzahl. Karl brach in Gelächter aus und zog sie wieder an sich. Er strich ihr übers Haar und zog seine Brieftasche aus der Jeans, blätterte vier Fünfzig-Euro-Scheine auf den Tisch und sagte:
„Das reicht wohl für einen schönen Abend, oder?“ Mia riss erstaunt die Augen auf.
„Das ist doch viel zu viel, Karl.“ Er streichelte ihre Wange.
„Nun nimm es schon. Du weißt doch, dass ich Jahre lang gespart habe.“
Als er Sonntag zurück kam, wirkte er heiter und unverkrampft. Er sei Richtung Norden gefahren und wandern gegangen. Ortsnamen habe er sich gar nicht gemerkt. Jetzt sei ihm klar, dass er der Polizei alles gesagt habe was er wisse, und er hielte sich auch in keiner Weise mehr für schuldig.
Mia war froh, alles nahm wieder seinen gewohnten Gang und an den folgenden Wochenenden spielte Karl sonntags regelmäßig Fußball mit den Jungs und renovierte mit ihnen zusammen das Vereinsheim. Er fuhr mit Mia in die Stadt, sie gingen ins Kino und danach zum Tanzen in einen Club. Mia war aufgeregt wie ein junges Mädchen und stolz, denn Karl küsste sie verliebt mitten auf der Tanzfläche und ihr gefiel der Gedanke, dass die anderen Leute sie sicher für ein frisch verliebtes Paar hielten.
Sechs Monate später, an einem stürmischen, nassen Novembermorgen, fand ein Waldarbeiter die Leiche der fünfundsiebzigjährigen Adele Busch im Flur ihres Häuschens. Er ging sonntags gegen sechs Uhr mit seinem Hund auf der schmalen Strasse, die aus dem Dorf in Richtung Wald führte. Adeles Haus war das letzte auf der rechten Seite, kurz bevor die Strasse in einen erdigen, ansteigenden Waldweg überging. Der Mann sah Licht im Haus und die weit geöffnete Haustür. Der Hund zog unruhig an der Leine und begann zu winseln.
Die Tote lag kalt und steif im Flur, inmitten einer riesigen Blutlache. Die trüben Augen weit aufgerissen, der Schädel zertrümmert.
Die Polizei fand ein durchwühltes Schlafzimmer vor, eine aufgebrochene Kirschholzkommode in der Diele und uralte, aufgeklappte Zigarrenkisten. In einer lag ein sorgsam geführtes Ausgabenheftchen, von dessen Vorsatzblatt eine Ecke fehlte, doch Adeles säuberlich geschriebener Name war noch teilweise zu entziffern. Der letzte Eintrag war zwei Tage alt und gab Auskunft über den Kauf von fünf Flaschen Orangenlimonade. Die Obduktion ergab, dass sie am Samstagabend zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr von hinten mit einem Holzklotz erschlagen worden war. Fingerabdrücke gab es keine. Adele Busch war alleinstehend gewesen, hatte bis zu ihrer Pensionierung als Gemeindeschwester gearbeitet und wohl ein ganze Menge Geld gespart, das nach ihrem Tod der Caritas zufallen sollte, so war es allgemein bekannt.
Als die Nachricht in Windeseile die Runde im Ort machte, saßen Karl und Mia gerade beim Frühstück. Mias Mutter klopfte wie verrückt an die Tür und überbrachte die Neuigkeit.
Karl legte den Arm um seine erschütterte Frau und sagte kopfschüttelnd:
„Wann soll das passiert sein? Gestern Abend? Da war ich doch mit den Jungs im Vereinsheim. Das ist doch schräg gegenüber, hinter dem Sportplatz.“ Seine Schwiegermutter starrte ihn an.
„Da werden die euch sicher alle befragen, Karl. Habt ihr denn was bemerkt?“ Karl schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht. Es war ja stockdunkel, da oben Richtung Wald sind keine Laternen mehr. Der Sportplatz ist zwar fast gegenüber von Adeles Haus, doch wir müssen ihn ja überqueren, um zum Vereinsheim zu kommen; nein, ich glaube nicht, dass einer von uns was bemerkt hat, wir wären ja dann auch hingegangen, nicht wahr?“ Mias Mutter nickte beklommen.
„Ja sicher, ihr wisst doch alle, dass Adele da alleine wohnt.“
Mia erstarrte in Karls Umarmung. Sie hörte die Stimmen wie aus weiter Ferne an ihr Ohr dringen und ein Bild tauchte vor ihr auf. Karl war gestern um kurz nach elf nach Hause gekommen, völlig erschöpft und wortkarg. Mia war wütend, doch wie immer traute sie sich nicht, es zu zeigen, aus Angst vor seinem abschätzend-distanzierten Blick, der sofort Schuldgefühle in ihr wachrief und sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln ließ. Er hatte gegen zehn zurück sein wollen, die Jungs wollten im Vereinsheim ein paar Bierchen trinken und die anstehende Adventfeier planen. Er sei übrig geblieben, hatte Karl erklärt, und da er fast nichts getrunken hatte, bot er sich an, die Gläser zu spülen und aufzuräumen. Die Kollegen hätten ganz ordentlich getankt und sein Angebot dankend angenommen. Deshalb sei es halt später geworden. Mia hörte die Worte, doch sie passten nicht zu seiner Art von Erschöpfung. Karls Stimme war dünn vor Müdigkeit, er wirkte ausgelaugt und…irgendwie hoffnungslos. Er war wie ein Stein ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.
Die polizeilichen Untersuchungen verliefen im Sande. Die jungen Männer machten ihre Aussage, Karl versuchte wieder verzweifelt, sich zu erinnern, ob er irgendetwas bemerkt hatte, doch ihm fiel auch nach mehreren Tagen des Grübelns nichts ein. Das Wetter war zu schlecht, er musste gegen den Sturm ankämpfen, genau wie die Jungs eine knappe Stunde zuvor. Niemand hatte auf Adeles Häuschen geachtet.
„Die Leute vertrauen den Banken offensichtlich immer weniger“, sagte der Kommissar aus der Kreisstadt, denn auch Adele hatte fast kein Geld auf ihrem Girokonto und ein Sparbuch gab es nicht.
„Es wird sich gelohnt haben, so sparsam, wie sie gelebt hat“, sagte Mias Mutter eines Abends zu ihrer Tochter und wunderte sich über Mias erschreckten Blick.
Karl blieb still und bedrückt. Eine Woche nach der Tat nahm er abends Mias Hand und sagte: „Weißt du, was mich verrückt macht? Der Gedanke daran, dass ich beide Frauen gekannt habe, mit beiden habe ich geredet, beide habe ich beliefert. Adele war immer so dankbar, dass ich ihr den Sprudel und ihre Orangenlimo ins Haus brachte. Freitag war ich noch bei ihr. Es ist, als wäre ich ein Bote des Unheils.“ Mia brachte keinen Ton heraus. Sie dachte an die fünf Paar neuen Arbeitshandschuhe, die Karl ihr zum Vorwaschen gegeben hatte, Dienstag oder Mittwoch, und an seine Worte:
„Die alten werfe ich alle weg, die sind schon durchgescheuert.“ Was ist, wenn er doch nicht alle weggeworfen hatte, nicht bis Samstagabend?
Weihnachten und Sylvester gingen vorüber, die Menschen im Ort waren bedrückt und feierten still in ihren Häusern. Als die Tage wieder länger wurden und der spärliche Schnee geschmolzen war, wusste Mia, dass sie ein Kind erwartete. Karl blühte auf, er war außer sich vor Freude.
Seit dem zweiten Mord lebte Mia wie in einer Watteschicht. Sie dachte nichts Besonderes, grübelte kaum, meist war ihr Kopf luftig-leer und ihre Tage reihten sich in monotoner Gewohnheit aneinander. Karl beobachtete sie immer häufiger mit Besorgnis.
Im Frühsommer saß Karl abends in seinem Bastelschuppen hinter dem Haus und schnitzte Holzfiguren. Mia wunderte sich, wie geschickt er darin war. Sie hatte es vorher noch nie gesehen.
„Ich werde Märchenfiguren schnitzen, das geht gut mit dem Kaminholz“, sagte er lächelnd, während Mia an der Tür lehnte, die Hände über ihren leicht gewölbten Bauch gelegt, und staunte, wie leicht er mit dem dicken Holzklotz hantierte.
„Komm rein, Mia“, sagte Karl plötzlich und legte den Klotz zur Seite. Er wischte seine Hände an der Arbeitsschürze ab und stellte ihr einen Klappstuhl hin. Mia atmete den Kiefernduft ein und setzte sich vorsichtig neben ihren Mann, den Blick auf ihre Hände gerichtet.
„Misstraust du mir, Liebling?“ Seine Stimme klang traurig. Mia rührte sich nicht, Tränen lösten sich wie von selbst aus ihren Augenwinkeln. Karl seufzte und nahm ihre Hand.
„Mia, ich verstehe dich doch. Du weißt so wenig über mich und ich sehe, wie du dich mit Zweifeln quälst. Du hast dich verändert, bist nicht mehr fröhlich, seitdem diese scheußlichen Verbrechen passiert sind.“
Mia weinte lautlos. Karl rückte an sie heran.
„Ich sage dir jetzt etwas, dass dich hoffentlich beruhigen wird. Die Polizei hat mich gründlich überprüft.“ Jetzt sah Mia ihn kurz von der Seite an, erschrocken, mit verquollenen Augen. Karl tätschelte ihre Hand.
„Das ist okay, ich bin froh darum, schließlich war ich bei beiden Morden in der Nähe. Sie haben unser Konto überprüft, festgestellt, dass ich keine anderen Konten habe, sie haben meine Vergangenheit durchleuchtet, sie haben sogar unser Haus durchsucht, als du nicht hier warst, aber sie haben nichts gefunden.“ Er holte Luft und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
„Mir war klar, dass es so kommen würde, es gehört zur Routine der Polizei, verstehst du?“ Mia hörte auf zu weinen und hob langsam den Kopf. In Karls Blick lag eine verzweifelte Bitte.
„Mia, ich schäme mich mein Leben lang wegen meiner Familie. Meine Eltern sind beide Alkoholiker, Säufer, um es genau zu sagen, und ich weiß nicht wo sie sind und ob sie noch leben. Ich bin mit fünf Jahren, bunt und blau geprügelt, in ein Kinderheim gekommen. Zwei Jahre später hat es noch mal einen Versuch gegeben, mich den Eltern zu überlassen, der endete mit mehreren Knochenbrüchen. Ich habe sie nie wieder gesehen. Mit achtzehn bin ich aus dem Heim weg, durch die ganze Republik gezogen, bis nach Holland und Belgien, hatte überall Jobs, bin nie lange geblieben, habe immer mein Geld gespart, denn die Angst, wieder arm und abhängig zu sein, war riesig. Verstehst du, dass ich darüber nicht gerne rede? Ich habe auch nie einen Beruf erlernt, aber ich kann anpacken und hatte nie Probleme, Arbeit zu finden.“ Seine Stimme schwankte, er schluckte und Mia begann, seine Hand zu streicheln. Jetzt flüsterte er eindringlich.
„Mia, es war immer mein Wunsch, eine eigene Familie zu haben. Du und unser Baby, das ist alles, wovon ich träume. Weißt du noch, wie du mich mal gefragt hast, ob mir die Ruhe hier in der Provinz nicht auf die Nerven geht?“ Mia nickte lächelnd. Er küsste ihre verquollenen Augenlider und sie ließ den Kopf gegen seine Schulter sinken.
„Hier ist alles, was mir wichtig ist. Hier habe ich ein Zuhause gefunden. Um nichts in der Welt würde ich das gefährden. Und glaube mir, Mia: Für dich und unser Baby werde ich immer gut sorgen.“ Er hob ihr Gesicht mit beiden Händen an. „Glaubst du mir das?“ Sie nickte und küsste ihn leidenschaftlich.
Sie blieben noch lange so sitzen, zwischen den Holzspänen im Schuppen, durch dessen Tür das Sonnenlicht auf Mia fiel, und Karl dachte für einen Moment an Maria und Josef auf Herbergssuche.
Kurz vor Weihnachten wurde ihre Tochter geboren und im Januar verunglückte Karl auf einer vereisten Landstrasse tödlich mit seinem PKW. Er geriet auf die Gegenfahrbahn und prallte frontal gegen einen Laster.
Der Schock lähmte Mia wochenlang. Ihre Mutter versorgte das Baby, Mias Vater, hilflos vor Sorge um seine Tochter, organisierte die Beerdigung und hielt Mia am Grab fest im Arm.
Man bewunderte ihre Tapferkeit. Während der Sarg in der Grube verschwand, gab sich Mia den Bildern hin, die wie Träume an ihr vorbei zogen, und erinnerte sich an das Gefühl zu Beginn ihrer Liebe, alles könne eine Fantasie sein, eine Illusion, die mit dem nüchternen Aufwachen enden würde.
Nun war es so gekommen. Die Traumzeit war abgelaufen und Mia fand es irgendwie logisch.
Ein paar Wochen später baten die Jungs vom Fußballclub sie verlegen, Karls Spind auszuräumen. Mia suchte nach dem Schlüssel und fand ihn an der silbernen Halskette mit dem Kreuz, die man Karl im Leichenschauhaus abgenommen hatte. Nachdenklich wog sie die Kette in ihrer Hand. Karl war eines Abends damit heimgekommen und hatte lachend gesagt: „Vielleicht kann ich ein bisschen höheren Beistand ja gut brauchen, jetzt, wo ich jeden Tag mit dem Laster unterwegs bin.“
Als sie Karls Trikots, seine Schuhe, die Trinkflasche und sein Duschgel in ihre Tasche räumte, sog sie noch einmal seinen Duft ein und der Schmerz fraß sich bis in ihre Knochen.
Mia saß weinend auf ihrem Bett und starrte auf das Hochzeitsfoto an der Wand. Karl schaute sie lächelnd von der Seite an, während sie direkt in die Kamera strahlte. Sie stand auf und nahm das Bild von der Wand, dabei ertasteten ihre Finger einen angeklebten Umschlag auf der Rückseite. Erstaunt drehte Mia das Bild um. ‚Mia’ stand dort, eindeutig Karls Handschrift.
Mit zitternden Fingern riss sie die Klebestreifen ab und öffnete das Kuvert. Zuerst fiel ein abgerissenes Stück Papier heraus und Mia erkannte den Rest eines Namens: „...e Busch…“, dann die abgetrennte Seite eines Prospektes der Pension ‚Sonnenhof’, und ein kleiner Zettel mit einer Handynummer, zweifellos von Karl geschrieben. Sie drehte den Umschlag auf den Kopf, schüttelte ihn, doch außer den drei Zetteln war nichts darin. Warum auch? Karl hatte ihr alles gesagt, was wichtig war. Und sie selbst? Sie hatte es doch immer gewusst.
Sie fühlte sich, als sei sie in einem Eisblock gefangen, doch ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Karl musste gewusst haben, dass sie das Bild von der Wand nehmen würde.
Minutenlang hielt sie den Zettel in ihren bebenden Händen und starrte auf die Telefonnummer. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer und holte ihr Handy.
Die Männerstimme am anderen Ende klang humorvoll und freundlich, der Mann schien auf ihren Anruf gewartet zu haben.
„Tach Mia, min Deern! Karl hat gesacht, dass es schon `n büschen dauern kann…Wir beide müssen mal in Ruhe miteinander schnacken, aber nich am Telefon. Hamburch is ne schöne
S-tadt, weißt du? Hier kann man sein Glück finden…!“ Er lachte.
Mia nickte und versuchte, ihre trockenen Lippen zu bewegen.
„Ich werde kommen“, flüsterte sie.