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Die sterbende Alte

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07.01.2018
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Die sterbende Alte

In Benares schob ich mich durch die engen Gassen der Märkte. Nicht um etwas zu kaufen, allein aus Behagen. Wenn ich etwas aß, dann allein, um die Speisen zu kosten. Diese seltsamen Geschmäcke, die mich an nichts erinnerten, mit nichts zu vergleichen waren. Dann die vielen verschiedenen Hautfarben von hellgelb über oker, dunkelbraun bis schwarz. Dann die vielen Sprachen und Dialekte, die sich zu einem Stimmengewirr vermischten. Alle die hundert verschiedenen Dialekte, die in Indien gesprochen werden, schienen sich hier in Benares zu vereinigen. Überall waren die Menschen freundlich, zogen mich zu ihren Ständen, präsentierten stolz ihre Ware, wohlwissend, dass ich nichts kaufen konnte. Denn das konnte ich ihnen unmissverständlich klarmachen, darin hatte ich schon Übung. Aber offensichtlich ging es ihnen gar nicht ums Verkaufen. Sie freuten sich über meine anerkennende Gestik. Benares ist auch für sein ganz besonders feines Kunsthandwerk bekannt: so für die Seidenspinnereien, für den Goldbrokat, Feinspitzen. Jede Frau in Indien und Sri Lanka würde sich glücklich schätzen, einen Sari aus Benares zu besitzen. Streunende Kinder zerrten an meinen Armen. Sie wollten meine weiße Haut nicht nur sehen, sondern auch ertasten. Es war ihre Art der Orientierung.
Vom Markt führen alle Straßen hinunter zum Ganges. Je näher ich dem Fluss kam, desto häufiger sah ich sah ich nun alte Menschen am Straßenrand oder Sterbende oder Tote, die hinunter zum Ufer des Ganges getragen werden. Die alten Menschen haben eine lange Reise hinter sich, die sie auch oft zu Fuß zurückgelegt haben. Und das was nach dieser langen Reise an Geld noch übriggeblieben ist, reicht gerade noch, um ein Bündel Holz zu kaufen, auf dem sie sich dann verbrennen lassen. Sie kommen nach Benares, mit der Absicht zu sterben und werden bis dahin mit milden Gaben am Leben erhalten. Ich war oft in diesen Straßen der Sterbenden. Ich setzte mich still und in respektvollem Abstand auf eine Stufe, damit sie es nicht bemerkten, von mir beobachtet zu werden. Einmal wurde ich doch entdeckt: von einer alten Frau, die mir freundlich zuwinkte. Ich empfand es als eine Aufforderung, zu ihr herüberzugehen. Doch es war ein Missverständnis. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich gerne etwas für sie tun würde, ihr etwas zu essen, zu trinken - oder was immer sie wollte - zu bringen. Aber sie lächelte nur vor sich hin und sagte kein einziges Wort. Am nächsten Tag war sie nicht mehr da. Vielleicht brachte man sie auch schon hinunter zum Ganges-Ufer, um ihr dort mit den paar Rupien, die ich ihr gegeben hatte, ein Bündel Holz zu kaufen. Auf das Bündel würde man sie dann legen, ganz so wie sie war, wie sie gefunden wurde. Dann würde ein kahlköpfiger Brahmane kommen, nur bekleidet bis zur Gürtellinie oder einem Lendenschurz mit einer Brahmanen- Kordel, die ihm rechts über der Schulter hängt. Er kippt eine Flasche duftendes Öl über sie und das Holz. Dann entfacht er das Feuer und schiebt mit einer langen Stange die Holzscheite immer wieder in die richtige Lage, damit das Feuer nicht seine Intensität verliert. Dann wird es plötzlich nach verbranntem Haar riechen und die Haut wird sich vom Fleisch lösen und das Fleisch von den Knochen. Und es wird nur noch Asche übrigbleiben. Diese wird in ein Tuch gewickelt und zum Ganges hinuntergebracht, wo die Asche dem Fluss übergeben wird.
Am Ganges angelangt beobachtete ich riesige Fische. Ich sah Rücken von Fischen auftauchen, deren Größe mich an Delfine erinnerte. Vielleicht werden diese Fische besonders dick und groß, weil sie sich von noch nicht gänzlich verbrannten Fleischfetzen ernähren können.
Ich blieb nicht lange an dem Ufer, wo die Feuer Tag und Nacht brennen. Ich wollte noch einmal in die Gasse, wo ich die alte Frau tags zuvor getroffen hatte. Der Platz, auf dem sie saß, war immer noch leer. Ebenso am Tag darauf. Ich setzte mich noch eine Weile und ließ die Erinnerung an sie an mir vorüberziehen. Diese Art, wie sie mir zugewunken hat und ihr leichtes Erstaunen, dass ich dies als Aufforderung interpretierte. Jetzt erschien mir dieses Winken wie die freundliche Geste einer Königin, die einem armen Kerl eine Gunst erweist. Natürlich kannte sie genau ihren Weg. Vielleicht saß sie auch oft unten am Ufer, sah den Verbrennungen zu, wohlwissend, was mit ihr innerhalb der nächsten Tage geschehen wird. Und doch hatte sie die absolute Gelassenheit, ja sogar Überlegenheit. Etwa wie jemand, der zwar mit Verständnis, aber ohne jegliche Zugehörigkeit auf das Treiben der Welt herabblickt. Und als ich ihr dann die paar Rupien in die Hand drückte, nahm sie diese zwar an, aber ohne eine Geste der Dankbarkeit. Sie akzeptierte das Geld wie eine moralische Pflicht, als hätte es nur noch symbolische Bedeutung. Es war kein Geld, sondern eine Gabe, die sie gnädig annahm und von der sie wusste, dass diese Gabe nicht mehr für sie, sondern nur noch für den Geber eine Bedeutung hatte.
Wenn ich an die kurze Begegnung mit der alten Frau zurückdenke, dann wird mir bewusst, wie gut mir dies damals getan hat, nach langer Zeit mal wieder etwas zu geben. Aber dieses Glücksgefühl wurde nicht durch die Gabe dieser paar Rupien erzeugt, sondern kam unmittelbar von dieser bettelarmen Frau, die offensichtlich nichts mehr wollte und doch meine Gabe annahm. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht ahnte sie, dass ich schon lange niemandem mehr etwas gegeben hatte. Und dass sie nun zum letzten Male in ihrem Leben jemandem einen Gefallen tat.

 

Hallo erdbeerfrosch, danke für die vielen neuen Hinweise. Inzwischen habe ich ja mehrere Hinweise zur Problematik Kinderprostitution (ebenso wie zur "Rasse")bekommen, weil das Wort Liebe hier mit Sexualität in Verbindung gebracht wird. Da ist es erst einmal besser, die Stelle herauszunehmen und dann später zu bearbeiten. Jetzt verstehe ich auch den Hinweis von felixreiner besser bezüglich der "unentschlossenen" Beschreibung und der Einordnung.

 

Hi,

ich häng mich nochmal ein, weil ich ja auch darüber mitgeschwafelt habe:

Wie jetzt? Rasse ist nicht okay, wenn wir es in der deutschen Sprache benutzen, aber im Englischen schon, weil die keinen Nationalsozialismus hatten?
Nee, das nicht. "Race" hat von vornherein eine deutlich weniger biologisch gemeinte Konnotation. Da ist de soziale Zuschreibung mitgedacht - es sei denn natürlich, es spricht ein Rassist, der den Begriff biologisch verstehen will. Das würde ihn im englischen Kontext aber eben auch als Rassisten kennzeichnen. Im Deutschen hat sich der Begriff "Rasse" aber noch nicht von einem biologischen Verständnis lösen können. Das hängt sicher damit zusammen, dass eine soziale Lesart im deutschen Sprachraum auch keine ganz sinnvolle Konkurrenz zur biologischen ist, weil man in Deutschland in der Gesellschaft nicht die entsprechenden Abgrenzungen hat wie z.B. in Amerika. Kürzer gesagt: "Race" und "Rasse" sind nicht deckungsgleich.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 
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hallo felixreiner, erdbeerfrosch (s.u.) ging es wohl so ähnlich wie Dir. Und mir wird es deutlicher, worum es Dir geht und wo die Schwächen liegen. Danke.


Siehst du jimmysalaryman, so unterschiedlich sind die Wahrnehmungen.

 
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erdbeerschorsch,

Was du meinst, ist "ethnicity."

Die Amerikaner benutzen das Wort "race" genauso, wie wir es hier auch benutzen würden, "based on combinations of shared physical traits, ancestry, genetics, and social or cultural traits."
Die Konzepte ähnlichen sich zwar, sind aber nicht deckungsgleich. Bei der Ethnicity wird traditionell mehr Wert auf das Kulturalistische gelegt, und "Race" eben ganz klar biologisch klassifiziert wird.

Und nicht jeder, der den Begriff "Rasse" benutzt, muss auch gleich ein "Rassist" sein - zu einem Rassisten wird er dann, wenn er eine Wertung einbringt.

Das hängt sicher damit zusammen, dass eine soziale Lesart im deutschen Sprachraum auch keine ganz sinnvolle Konkurrenz zur biologischen ist, weil man in Deutschland in der Gesellschaft nicht die entsprechenden Abgrenzungen hat wie z.B. in Amerika.

Das hier verstehe ich nicht. Was sollen denn dann die entsprechenden Abgrenzungen sein? Entweder man sagt, das Konzept der Rasse ist wissenschaftlich falsch (wovon ich überzeugt bin) und wir benutzen ein anderes Wort, wie Ethnie und ethnisch (was hier in D zum Beispiel den Gedankenpool um "Rasse", also kultureller und sozialer Hintergrund, ersetzt hat) oder wir lassen es gleich ganz bleiben. In den USA ist der Begriff race einfach nicht so belastet.

Ein guter Artikel: http://www.taz.de/!5034049/

Hier wird, wie mir scheint, quasi ein Strohmannargument angeführt, "wir tun so, als ob, aber eigentlich gibt es keine Rassen", aber eben um genau diese Debatte führen zu können, ohne jetzt permanent den Biologismus zu bemühen.

Noch ein anderer: http://www.faz.net/aktuell/feuillet...und-der-rassismus-in-amerika-14334031-p3.html

Schwierig.

 

Hi jimmysalaryman,

ich finde das ja interessant, aber ich furchte, wie müssen umziehen, wenn wir die Diskussion weiterführen wollen. Aber ganz lassen kann ich es nicht, mich weiter zu erklären.

Ich würde bestreite, dass ein Teil dieser Liste von Eigenschaften:

"based on combinations of shared physical traits, ancestry, genetics, and social or cultural traits."
mit dem Verständnis von "Rasse" im Deutschen zusammengeht. Kling es im Deutschen normal, wenn man von jemandem, der adoptiert worden ist, sagt, er sei nicht wirklich schwarz, weil er adoptiert worden ist? "Obama ist nicht wirklich schwarz" sagen viele, und das hat auch, aber nicht nur damit zu tun, dass er eine hellhäutige Mutter hat. Niemand würde so eine Diskussion über Frederick Douglass führen, der einen weißen Vater hatte.

Was sollen denn dann die entsprechenden Abgrenzungen sein?
Na, eben wo man aufwächst. Wer in einem schwarzen Viertel aufwächst, kann noch viel "gemischter" sein als Obama, und trotzdem würde niemand in Frage stellen, dass er oder sie schwarz sei.

Entweder man sagt, das Konzept der Rasse ist wissenschaftlich falsch (wovon ich überzeugt bin) und wir benutzen ein anderes Wort, wie Ethnie und ethnisch (was hier in D zum Beispiel den Gedankenpool um "Rasse", also kultureller und sozialer Hintergrund, ersetzt hat)
Dagegen gibt es wenig zu sagen. Ich meine aber, dass man zwar "race" und "ethnicity" so definieren kann, wie du sagst, dass sich die Sprecher in der Praxis aber nicht dran halten (s. Obama usw.). Übrigens in Deutschland auch nicht. Oder ist es wirklich allgemeine Praxis, einen adoptierten Schwarzen als "ethnischen Deutschen" zu bezeichnen? Ich glaube nicht. Aber richtig wäre es.

Den Artikel kenne ich, glaube ich, aber jetzt hab ich keine Zeit, ihn zu lesen. Trotzdem Danke, bei Gelegenheit mach ich das noch mal.

Es gibt natürlich Hautfarben und andere körperliche Merkmale, und man kann nach solchen Merkmalen einteilen, wenn man will. Wenn man sagt, es gebe keine Rassen, dann meint man damit nicht, dass es keine sichtbaren Unterschiede gebe, sondern nur, dass eine Einteilung nach Hautfarbe biologisch in etwa so sinnvoll sei, wie z.B. nach der Haarfarbe oder der Dicke der Fingernägel oder was weiß ich.

"Race" ist in den USA natürlich belastet, eben durch die Geschichte der Sklaverei - aber eben deswegen in der Praxis sicherlich auch nicht so leicht ersetzbar. Es erscheint aus historischen Gründen nützlich, einen Begriff für die Nachkommen der früheren Sklaven zu haben (auch wenn das natürlich wiederum keine scharfe Anwendung des Begriffs ist).

Puh, so lang ist das geworden. Ist ja schön, wenn ein Text zu so was anregt. Aber gleich werden wir bestimmt geschimpft.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

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