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Die sterbende Alte
In Benares schob ich mich durch die engen Gassen der Märkte. Nicht um etwas zu kaufen, allein aus Behagen. Wenn ich etwas aß, dann allein, um die Speisen zu kosten. Diese seltsamen Geschmäcke, die mich an nichts erinnerten, mit nichts zu vergleichen waren. Dann die vielen verschiedenen Hautfarben von hellgelb über oker, dunkelbraun bis schwarz. Dann die vielen Sprachen und Dialekte, die sich zu einem Stimmengewirr vermischten. Alle die hundert verschiedenen Dialekte, die in Indien gesprochen werden, schienen sich hier in Benares zu vereinigen. Überall waren die Menschen freundlich, zogen mich zu ihren Ständen, präsentierten stolz ihre Ware, wohlwissend, dass ich nichts kaufen konnte. Denn das konnte ich ihnen unmissverständlich klarmachen, darin hatte ich schon Übung. Aber offensichtlich ging es ihnen gar nicht ums Verkaufen. Sie freuten sich über meine anerkennende Gestik. Benares ist auch für sein ganz besonders feines Kunsthandwerk bekannt: so für die Seidenspinnereien, für den Goldbrokat, Feinspitzen. Jede Frau in Indien und Sri Lanka würde sich glücklich schätzen, einen Sari aus Benares zu besitzen. Streunende Kinder zerrten an meinen Armen. Sie wollten meine weiße Haut nicht nur sehen, sondern auch ertasten. Es war ihre Art der Orientierung.
Vom Markt führen alle Straßen hinunter zum Ganges. Je näher ich dem Fluss kam, desto häufiger sah ich sah ich nun alte Menschen am Straßenrand oder Sterbende oder Tote, die hinunter zum Ufer des Ganges getragen werden. Die alten Menschen haben eine lange Reise hinter sich, die sie auch oft zu Fuß zurückgelegt haben. Und das was nach dieser langen Reise an Geld noch übriggeblieben ist, reicht gerade noch, um ein Bündel Holz zu kaufen, auf dem sie sich dann verbrennen lassen. Sie kommen nach Benares, mit der Absicht zu sterben und werden bis dahin mit milden Gaben am Leben erhalten. Ich war oft in diesen Straßen der Sterbenden. Ich setzte mich still und in respektvollem Abstand auf eine Stufe, damit sie es nicht bemerkten, von mir beobachtet zu werden. Einmal wurde ich doch entdeckt: von einer alten Frau, die mir freundlich zuwinkte. Ich empfand es als eine Aufforderung, zu ihr herüberzugehen. Doch es war ein Missverständnis. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich gerne etwas für sie tun würde, ihr etwas zu essen, zu trinken - oder was immer sie wollte - zu bringen. Aber sie lächelte nur vor sich hin und sagte kein einziges Wort. Am nächsten Tag war sie nicht mehr da. Vielleicht brachte man sie auch schon hinunter zum Ganges-Ufer, um ihr dort mit den paar Rupien, die ich ihr gegeben hatte, ein Bündel Holz zu kaufen. Auf das Bündel würde man sie dann legen, ganz so wie sie war, wie sie gefunden wurde. Dann würde ein kahlköpfiger Brahmane kommen, nur bekleidet bis zur Gürtellinie oder einem Lendenschurz mit einer Brahmanen- Kordel, die ihm rechts über der Schulter hängt. Er kippt eine Flasche duftendes Öl über sie und das Holz. Dann entfacht er das Feuer und schiebt mit einer langen Stange die Holzscheite immer wieder in die richtige Lage, damit das Feuer nicht seine Intensität verliert. Dann wird es plötzlich nach verbranntem Haar riechen und die Haut wird sich vom Fleisch lösen und das Fleisch von den Knochen. Und es wird nur noch Asche übrigbleiben. Diese wird in ein Tuch gewickelt und zum Ganges hinuntergebracht, wo die Asche dem Fluss übergeben wird.
Am Ganges angelangt beobachtete ich riesige Fische. Ich sah Rücken von Fischen auftauchen, deren Größe mich an Delfine erinnerte. Vielleicht werden diese Fische besonders dick und groß, weil sie sich von noch nicht gänzlich verbrannten Fleischfetzen ernähren können.
Ich blieb nicht lange an dem Ufer, wo die Feuer Tag und Nacht brennen. Ich wollte noch einmal in die Gasse, wo ich die alte Frau tags zuvor getroffen hatte. Der Platz, auf dem sie saß, war immer noch leer. Ebenso am Tag darauf. Ich setzte mich noch eine Weile und ließ die Erinnerung an sie an mir vorüberziehen. Diese Art, wie sie mir zugewunken hat und ihr leichtes Erstaunen, dass ich dies als Aufforderung interpretierte. Jetzt erschien mir dieses Winken wie die freundliche Geste einer Königin, die einem armen Kerl eine Gunst erweist. Natürlich kannte sie genau ihren Weg. Vielleicht saß sie auch oft unten am Ufer, sah den Verbrennungen zu, wohlwissend, was mit ihr innerhalb der nächsten Tage geschehen wird. Und doch hatte sie die absolute Gelassenheit, ja sogar Überlegenheit. Etwa wie jemand, der zwar mit Verständnis, aber ohne jegliche Zugehörigkeit auf das Treiben der Welt herabblickt. Und als ich ihr dann die paar Rupien in die Hand drückte, nahm sie diese zwar an, aber ohne eine Geste der Dankbarkeit. Sie akzeptierte das Geld wie eine moralische Pflicht, als hätte es nur noch symbolische Bedeutung. Es war kein Geld, sondern eine Gabe, die sie gnädig annahm und von der sie wusste, dass diese Gabe nicht mehr für sie, sondern nur noch für den Geber eine Bedeutung hatte.
Wenn ich an die kurze Begegnung mit der alten Frau zurückdenke, dann wird mir bewusst, wie gut mir dies damals getan hat, nach langer Zeit mal wieder etwas zu geben. Aber dieses Glücksgefühl wurde nicht durch die Gabe dieser paar Rupien erzeugt, sondern kam unmittelbar von dieser bettelarmen Frau, die offensichtlich nichts mehr wollte und doch meine Gabe annahm. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht ahnte sie, dass ich schon lange niemandem mehr etwas gegeben hatte. Und dass sie nun zum letzten Male in ihrem Leben jemandem einen Gefallen tat.