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Die Stadt
Ein sanfter Wind fährt über seine Haut – seine Gänsehaut. Dort oben auf der Dachterrasse steht er und blickt und lauscht in die Ferne, in die Stadt, ins Nachtdunkel, ganz allein. Er verschränkt seine Arme hinter seinem Rücken, schnauft tief ein, dann aus, und starrt ekstatisch dem Atemnebel hinterher, wie er wandert und schwindet und sich im Nichts auftut.
Ja, die Städte und die Menschen, das war schon ein Verhältnis besonderer Art. Die Menschen flüchteten aus den Städten, suchten Ruhe, suchten Ursprung. Es schien so, als würde kein Einziger die Städte wahrlich lieben. Und doch lebten sie weiter, und wuchsen weiter, immer und immer weiter. Wieso? Vielleicht war es eine Unabdinglichkeit.
Es ist ruhig, dort auf der Dachterrasse. Aber ist Ruhe wohl als relativer Begriff zu begreifen. Die unzähligen Lichter aus den Hochhäusern und Komplexen und Einkaufsstraßen überziehen den schwarzen Himmeln mit Akzenten des Violetten, des Roten und des Blauen. Und wenn er lauscht, dann hört er: er hört einzelne Frequenzen aus Musik in einer Entfernung, die es nicht zulässt, das ganze Lied zu ergreifen. Er hört den Fahrtlärm von Automobilen auf den Straßen, wenn er sich bemüht. Und er hört, wie sich diese Sammlung aus Geräuschen unterschiedlichster Natur zusammenfindet und summiert und als Ergebnis eine Symphonie erschafft, die unvergleichbar ist, eine solche, wie sie der Künstler nur in der Stadt begreifen kann.
Die Nacht war wahrlich die Zeit des Menschlichen. Wenn die Sonne unter dem Horizont abtauchte und die tagaktive Welt naturgemäß in ihren großen, alltäglichen Schlummer eintauchte und sich ganz selbstverständlich dem Primat eben dieser Sonne unterwarf, rebellierten der Mensch und seine Werke. Der Mensch – der ewige Agitator – konnte Unterwerfung auf den Tode nicht leiden, selbst wenn man nur von ihm verlangen würde, sich genau wie seine tierischen Genossen dem Natürlichen zu unterwerfen. Die Stadtflüchter würden dies sicherlich als Arroganz unserer Rasse abtun, wohl eine gerechtfertigte Analyse. Verkennen durfte man dem Menschen, dem arroganten Übertier, aber nicht, was er durch seinen Unwillen zur Konformität geschaffen hatte. Die Ästhetik des menschlichen Widerstands gegen die Dunkelheit, die Ästhetik der Stadt, die Symphonie der Großstadt.
Er schließt seine Augen, sieht das Nichts, das wahre Nichts, und genießt es. Im Geiste war er nicht mehr hier, auf der Dachterrasse, im kalten Wind, und doch lief die Musik weiter, und doch fuhren weiter Reifen über den Asphalt auf den vielen Straßen. Und dann kommt es ihm:
Er war der Stadt egal, die Stadt hatte sich losgelöst von den Individuen, die Stadt, die Masse, ist ein eigener Organismus. Vielleicht, ja, wahrscheinlich sogar, hat der Mensch – der kleine Gott der Welt – in seinem Schaffenswahn mit der Stadt seine erste, seine wohl ambivalenteste Kreatur geschaffen. Sie war ein erbarmungsloses Wesen, das den Menschen am Tag belastet und überlädt mit den vielen vermeintlichen Freiheiten und Möglichkeiten, die sie zeigt, und den Schranken der Realität, die die Wahl beschränkten und den Menschen wie einen Affen im Zoo hinter Gitter einsperrten, sehend auf das, was möglich wäre, ihm aber verwehrt bleibt. Und dann, wenn die Dunkelheit aufsteigt und versucht, den Menschen durch ihre verführerische Einfachheit zum Frieden zu führen, für wenige Stunden, erlaubte es die Stadt der Nacht nicht, ersetzte die Nacht vielmehr durch den synthetischen Tag. Vielleicht war man Gott nirgends so nahe wie in der Stadt, ist doch auch sie eine Kreation, die Unabhängigkeit erlangte und sich von ihrem Schaffer löste – ohne sein Wissen, gegen seinen Willen. Nur triumphierte in unserer Welt ganz offensichtlich das Geschöpf über den Schöpfer.
Es donnerte. Er öffnete seine Augen und er spürte, wie der Regen herabtropfte, seine dünne Kleidung langsam durchnässte und seine ordentlichen Haare zerzauste. Ein Aspekt der Natur, den auch die Stadt noch nicht gänzlich zu überwinden vermag. Auch morgen würde er wieder in der Stadt aufwachen, ganz unwillkürlich, würde leisten und würde sie erweitern, als wäre sie ein Geschwür. War es ein Geschenk oder eine Strafe, die Zweifaltigkeit der Stadt, dieses wunderschöne Monstrum der Menschenhand, miterleben zu dürfen? Er wusste es nicht. Es war allerdings auch egal, denn die Stadt kümmerte sich nicht um seinen Willen.