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Die sorgenfreie Wurststulle
zweite Version
Eine Versicherungsagentin hat mich angerufen, um einen Termin mit mir zu vereinbaren. Sie hat gesagt, ich müsse an eine ergänzende Altersversorgung denken.
Da ich aufgrund der letzten Rentenauskunft der BfA weiß, dass mein Mann und ich vom Generationsvertrag nicht viel erwarten können, habe ich einer Vermögensberatung zugesagt. Denn bisher hatte ich nicht das Glück einer Erbschaft, wie man vielen aus meiner Generation vorhält. Meine Eltern sind zwar der Nachkriegsgeneration zugehörig, aber meine Mutter war die meiste Zeit Hausfrau, weil sie ihre drei Kinder, vom ersten bis zum letzten, in einem Gesamtabstand von 13 Jahren geboren hat. Das was meine Eltern sich bis zum frühen Tod meines Vaters erspart haben, wird meine Mutter für sich verbrauchen müssen. Ein gutes Altersheim, indem sie versorgt ist, wenn sie aufgrund voranschreitenden Alters pflegebedürftig wird, hat seinen Preis, den ich auch bereit bin, zu zahlen, damit es ihr gut geht. Daher haben meine Geschwister und ich auf ein Erbe verzichtet, als mein Vater gestorben ist, obwohl meine Eltern ihren sauer verdienten Reichtum, wenn ich ihr kleines Häuschen mal so nennen darf, an uns weitergeben wollten, damit wir es mal besser haben.
Auch meinen Kindern soll es besser gehen. Ich bemühe mich redlich, habe ich doch gegen den Zeitgeist welche bekommen. Obwohl sie kostspielig sind, einerseits, weil ich sie unterhalten muss, bis sie ihre Ausbildung beendet haben, andererseits, weil ich wegen ihrer Erziehung mehrere Jahre nicht voll arbeiten kann, erwarte ich keine Gegenleistung. Natürlich will ich meinen Kindern ebenso wenig finanziell zur Last fallen wie meine Mutter mir. Daher studiere ich die Angebote der Versicherungsagentin genau. Sie bietet mir einen Vertrag an. Maßgeschneidert, sagt sie, damit ich weiterhin sorglos in die Zukunft schauen kann. Leider beschleicht mich angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der desolaten Staatsverschuldung ein ungutes Gefühl. Heimlich rechne ich unter dem Tisch mit den Fingern nach, ob wir uns den Beitrag für die Versicherung noch leisten können. Wir zahlen noch bis zum Rentenalter an unserem Häuschen ab. Mit Glück sind bis dahin meine Kinder mit der Ausbildung fertig und finden einen Arbeitsplatz, der sie ernähren kann. Mein Mann behält bis dahin seine Arbeit, damit wir unsere finanziellen Belastungen tragen können. Leider ist sein Einkommen nicht so stark angestiegen, wie die letzten Erhöhungen der Energieversorger. Auch wenn ich nur beim Discounter einkaufe, die Kinder wachsen schneller aus Schuhen und Klamotten heraus, als man denken kann.
Die eigene Altersvorsorge habe Vorrang vor der Unterhaltspflicht gegenüber den Eltern, sagt, die Versicherungsagentin, der mein Zögern nicht entgangen war. Weil die gesetzliche Rente in Zukunft nicht ausreiche, sei private Vorsorge unabdingbar, damit nicht eines Tages, in der nächsten Generation, die Kinder ihre Eltern als finanzielle Last auf den Schultern tragen müssen. Bis zu fünf Prozent seines Bruttoeinkommens für die eigene Zukunft zurückzulegen, anstatt sie für die Heimpflege seiner Mutter herausrücken zu müssen, sei doch ein Vorteil, nickt sie mir aufmunternd zu. Sie weiß nicht, dass ich bereits schon klaglos auf ein Erbe verzichtet habe. Aber die Kinder, wage ich einzuwenden, seien noch so klein, 5 und 9 Jahre alt. Die Versicherungsagentin versteht mein Dilemma sofort. Wie soll ich für mich sorgen können, wenn ich für Nachwuchs sorgen muss, der nicht nur für mich sondern auch für andere, die Kinderlosen, sorgen muss? Wenn außerdem von unserem Familieneinkommen Rentenbeiträge für die jetzigen Alten, die mit oder ohne Kinder, abgezogen werden, ohne im eigenen Alter ähnlich versorgt zu sein, weil viele aus meiner Generation keine Kinder wegen der Kosten und Mühen wollten?
„Ich zahle für mein Haus, das ist meine Altersversorgung“, antworte ich sogar ein bisschen stolz, weil ich den Spagat schaffe, gesellschaftlich Altersvorsorge durch meine Kinder zu treffen und Eigentum zu schaffen, obwohl wir für die Alten zahlen müssen. Mehr zurücklegen geht eben nicht, denke ich. Wir verzichten schon auf teure Urlaube, fahren weniger mit dem Auto. Oder doch? Die Versicherungsagentin appelliert an meine Verantwortung gegenüber den Kindern.
„Haben Sie schon für ihre Kinder gespart?“, fragt sie, als diese durchs Wohnzimmer toben. Mich packt das schlechte Gewissen, weil ich unserem Sozialstaat zutraue meine Kinder noch mehr zu beuteln, als mich.
Letztendlich habe ich einen Versicherungsvertrag unterschrieben. Für meine Kinder.