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Die Seeelben
Wie ein Schwertfisch glitt Arnoth durch die scharlachrote Nesselwolke. Mit dem Wasser fanden auch die Härchen den Weg in seinen Mund. Sauer brannte sie im Rachen, juckte an seinen Schwimmhäuten und Kiemenbacken und erzeugte in Arnoth das Gefühl zu ersticken.
Endlich durchbrach er die Wand. Sonnenlicht empfing ihn.
Arnoth tauchte hinab und öffnete seinen Mund. Es kitzelte, als die Nesseln aus den Kiemen und Schwimmhäuten herausgespült wurden. War man der Wolke nur kurz ausgesetzt, war sie nicht mehr als unangenehm. Blieb ein Seeelb aber zu lange in den Nesseln, sammelten sie sich zu kleinen Knoten, die Kiemen und Rachen verstopften und schlussendlich zum Erstickungstod führten.
Traurig blickte Arnoth zurück.
Vor ihm trieb eine gigantische, rote Wolkenwand. Wirbel überrollten einander, zogen sich zusammen und schossen wie eine Harpune in die Höhe, als versuchten sie, ein Tier mit ihren Nesseln zu erstrecken. Tote Fischschwärme trieben bäuchlings an Arnoth vorbei in Richtung Wolke. Die Schuppen waren unberührt, aber ihr weiches, weißes Fleisch war durchzogen von roten Nähten, wie ein Fischernetz, dass sich um ihren Leib gewickelt und fest zugezogen hatte.
Das war das Ende. Arnoth wusste es.
Irgendwo hinter der Wand lag Aegis, letzte und einzige Stadt der Seeelben, erbaut aus einem namenslosen Schiffsfriedhof. Irgendeine vergessene Seeschlacht zwischen vergessenen Parteien hatte hunderte Wracks auf den Grund geschickt, aus denen die Seeelben, damals noch ein Volk von Nomaden, ihre Heimat geformt hatten. Ironisch, dass der Ort seine eigentliche Bestimmung als Grab wiedergefunden hatte.
Arnoth löste sich vom Anblick und schwamm weiter. Die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen und Fingern machten ihn selbst für einen Seeelb schnell, eine Eigenschaft, die ihn für seine Tätigkeit als Kurier qualifiziert hatte. Manchmal fiel der Schatten eines Vogels oder eines Küstendrachens auf seinen Rücken, und dann drehte er sich mit dem Bauch nach oben und sah zu, wie er den kleinen, schwarzen Punkt über dem Wasser überholte.
Als die Wolke außer Sicht war, überließ Arnoth sich dem Strom und schloss die Augen. Hinter seinen Kiemenbacken besaß jeder Seeelb eine zweites Paar Sinnesorgane, die Riechgruben. Da sie sehr anfällig für Verletzungen waren, lagen sie versteckt unter einer zusätzlichen Schicht Schuppen, die Arnoth, ähnlich wie seinen Unterkiefer, auf- und zuklappen konnte. Vorsichtig öffnete er sie.
Reize überfluteten ihn. Fast hätte er geglaubt, dass jemand ihn aus seinem Ozean gegriffen und in ein vollkommen neues Meer gesetzt hätte. Die Bandbreite an Gerüchen erstreckte sich ins Bodenlose, genauso wie ihre Reichweite. Arnoth konnte sogar die Angsthormone andere Seeelben erschnuppern, die in der Wolke qualvoll verendeten.
Bald hatte Arnoth erreicht, was er gesucht hatte. Über ihm trieb die Valadohrn.
Benannt nach dem ersten Jarl von Aegis, war das Schiff die größte Nussschale, die Arnoth je in seinem Leben gesehen hatte. Eine schwimmende, vierdeckige Festung, deren Rumpf tief genug im Wasser lag, dass sich darin Platz für ein zweites Schiff gefunden hätte. Selbst die Hohe Halle des Jarl von Aegis, erbaut aus einem halben Dutzend Schiffwracks, sah gegen die Valadohrn aus wie ein Fischkutter. Eine Breitseite konnte Berge zu Staub zermalmen und Wälder roden. Den fremden Eisenrohren war es zu verdanken, dass das Volk der Seeelben so lange in Frieden gelassen worden war. Mit Kugeln auf Krankheiten zu schießen, war eine andere Sache.
Die Seeelben hatten die Valadohrn von luftatmenden Händlern vom Festland gekauft, gegen Tonnen an Gold und drei Säcke ihrer schönsten Perlen. Arnoth erinnerte sich daran, wie umständlich die Verhandlung gewesen waren. Land zu betreten war einem Seeelb auf das Äußerste verboten. Schon allein den Fuß auf einen Sandstrand zu setzen war Grund genug, für ewig verstoßen zu werden.
Unter dem Rumpf des Linienschiffs klebten mehrere algengrüne Kokons. Ein wandernder Wald aus Seetang. Arnoth öffnete einen der Kokons, schlüpfte mit den Beinen voran hinein und zog das Geflecht hinter sich zu.
Im Gegensatz zu den Meeresraupen, die er sich früher als Haustier gehalten hatte, lösten sich Seeelben während ihrer Metamorphose nicht in ihre organischen Bestandteile auf. Der Kokon schloss sich eng um ihn, passte sich Arnoth Form an. Seine Hautschuppen wurden hart und starr wie ein Chitinpanzer und versiegelten so Kiemen und Riechgruben. Stattdessen erwachte die Lunge zum Leben, ein Organ, das Gelehrten seit jeher als unnütz erachtet hatten. Woher Seeelben überhaupt die Fähigkeit zur Metamorphose hatten, war selbst den klügsten Köpfen Aegis ein Rätsel. Unter der Hand flüsterte man sich, dass es ein Überbleibsel eines früheren, luftatmenden Lebens war.
Ein Schmerz durchzog Arnoths Finger, als sich seine Schwimmhäute verwandelten. Sie wurden starr und unelastisch und zerbrachen schließlich in Unmengen kleiner Hautzellen.
Als die Verwandlung abgeschlossen war, befreite er sich aus dem Kokon. Sein Geruchssinn war verschwunden, genauso wie sein scharfes Auge. Nicht einmal mehr Atmen konnte er hier unten. Ohne seine Fähigkeiten fühlte er sich nackt und hilflos. Er war ein Fremder im eigenen Meer. Schnell ertastete er den Schiffsrumpf und stieß sich ab, Richtung Oberfläche, Richtung Sonnenlicht.
„Pisspott.“ Admiral Korsha reichte Arnoth die goldbeschuppte Hand über die Reling. „Komm an Bord.“
Arnoth ergriff sie und schwang sich auf das Deck, wo er prompt unter seinen Beinen zusammenbrach.
Mühsam kämpfte er sich hoch. Verglichen mit Schwimmen war Stehen eine so anstrengende Tätigkeit.
Admiral Korsha, Kapitän der Valadohrn, war eine monströse Erscheinung. Die Schwerkraft über dem Wasser hatte ihn stark und zäh gemacht und seine goldenen Schuppen waren derart ineinander verwachsen, dass sie die Bezeichnung Panzer mehr als verdienten. Auf seiner Brust präsentierten sich stolz all die Kratzer, an denen gegnerische Klingen abgerutscht waren. Dasselbe galt für seine Mannschaft, ein schiller bunter Haufen Seeelben. Zwölf Mal hatten Piraten versucht, die Valadohrn zu entern, und zwölf Mal hatte Korsha ihre Schiffe auf den Grund geschickt.
Arnoth war noch immer enttäuscht, keinen Platz auf der Valadohrn bekommen zu haben.
„Was bringt dich her?“, fragte der Admiral.
„Der Jarl ist tot. Aegis ist gefallen.“
„Aber …“
„Die Wolke.“
Einige der anwesenden Matrosen hatten seine Worte gehört und kamen schockiert näher.
„Sie ist gewachsen, Admiral. Über Nacht. Die Front reicht bereits bis zum Korallenriff.“ Erschöpft setzte Arnoth sich auf das Deck. „Keiner der Gelehrten weiß, wo sie herkommt. Sie hat die ganze Stadt überrollt, einfach so. Der Jarl ist in seiner eigenen Halle erstickt.“
Admiral Korsha kämpfte sichtlich damit, Miene zu wahren. Als er sprach, klang seine Stimme brüchig und abgehackt.
„Wie viele haben überlebt?“
„Ich weiß es nicht. Die meisten Seeelben haben Aegis verlassen und versuchen, aus der Wolke zu fliehen, aber sie breitet sich aus. Wenn wir ihnen jetzt entgegen segeln, können wir sie vielleicht retten.“
Das war der Funke, den Korsha gebraucht hatte. Er löste sich aus seiner Starre und sprintete zum Steuerruder, während er seiner Mannschaft Befehle zubellte. Jetzt regten auch sie sich und obwohl Arnoth in ihren Gesichtern weiter Kummer sah, flackerte in ihren Augen der Kampfgeist, der die Valadohrn so berühmt gemacht hatte. Arnoth stand ebenfalls auf, bereit zu helfen, aber der Admiral winkte ab.
„Nein, Pisspott. Gönn dir Ruhe. Du wirst noch genug schwimmen müssen.“
Die Valadohrn erreichte die Nesselwolke schneller, als Arnoth gehofft hatte.
Stumm starrten die Seeelben auf das rote Meer. Bäuchlings schlugen die Fische gegen den Rumpf.
Am Rand der Krankheit angekommen, ließ Admiral Korsha die Valadohrn ankern und darauf warten, dass die ersten Überlebenden ihre Köpfe aus dem Wasser strecken.
Der Nachmittag verstrich. Arnoth war bereits drauf und dran, alle Hoffnung aufzugeben, als der erste Seeelb am Bug erschien. Um ihn herum tauchten weitere Schuppenkörper auf.
Während die Matrosen die Überlebenden an Bord zogen und unter Deck brachten, brüteten Arnoth und der Admiral am Heck über den Ursprung der Krankheit nach.
„Wo waren die Nesseln zuerst, Pisspott?“
„Ich weiß es nicht. Die Wolke war einfach da. Der Jarl hat mich geschickt, um euch zu informieren. Als ich Aegis wieder erreicht hatte, war er längst tot und die Nesseln hatten die Stadtgrenze übertreten.“
„Also breiten sie sich aus.“
Arnoth nickte und warf einen Blick auf die Überlebenden. Kaum an Deck, brachen sie zusammen und spien Wasser und rote Haare auf die Planken. Die meisten von ihnen hatten sich noch nie in ihrem Leben verwandelt.
Trotzdem gewann er an Hoffnung. Aegis mochte verloren sein, aber nicht ihr Volk.
Er blinzelte. Ein Matrose schrie und zeigte mit der Hand ins Wasser. Andere, die seinem Blick folgten, begannen zu weinen.
Sofort war Arnoth an der Reling. Was er sah, brach ihm das Herz.
Dutzende grün-rote, nesselversuchte Kokons trieben vom Schiff weg, zerfaserten in ein kaum mehr erkennbares Netz und versanken schließlich im blutroten Meer.
Fünfzig Jahre später.
Arnoth saß am Strand und schaute auf den Ozean, während der Wind mit seinem silberschuppigen Bart spielte. Wind. Daran würde er sich nie gewöhnen.
Zwei Jahre lang hatte die Nesselwolke das Meer beherrscht, bis sie eines Tages so plötzlich verschwand, wie sie aufgetaucht war. In der Leere, die sie hinterließ, hatten sich neue Spezies entwickelt.
Nicht die Seeelben hatten Arnoth verstoßen, das Meer war es gewesen. Auch wenn er sich nie der Religion zugezogen gefühlt hatte, hatte er in ihrem Schicksal nach all den Jahren der Einsamkeit doch so etwas wie einen göttlichen Sinn gefunden. Seeelben waren Nomaden. Aegis war ihnen niemals als Heimat bestimmt gewesen, sondern immer nur als ein weiteres Kapitel ihrer Wanderschaft. Dass diese Wanderschaft nicht im Meer, sondern auf dem Festland begonnen hatte, bewiesen die Tatsache, dass alle Seeelben mit einer Lunge geboren wurden.
Leider hatte Arnoth mit seiner Sicht der Dinge allein dargestanden. Allen voran Admiral Korsha war zu stolz und vielleicht auch zu alt, um ein Leben auf der Wanderschaft zu akzeptieren, und unter seiner Autorität weigerten sich die Überlebenden, Land zu betreten.
Sein Volk zu verlassen war Arnoths Entscheidung gewesen.
Langsam erhob er sich aus dem Sandstrand, an dem die Valadohrn vor so langer Zeit abgelegt hatte. Arnoth blieb immer in Bewegung, hatte kein Zuhause und keine festen Schlafplätze. An manchen Tagen aber, wenn ihn die Nostalgie packte, machte er sich auf den Weg und suchte den Ort auf, von dem aus er sein Volk hatte davonsegeln sehen.
Fünfzig Jahre waren vergangen und Arnoth hatte seine Entscheidung keinen Tag bereut.
Und trotzdem ertappte er sich dabei, dass er seine alte Gestalt vermisste. Das Leben als Nomade mochte Schicksal sein, aber Arnoth hätte alles für die Möglichkeit gegeben, noch einmal die grenzenlose Freiheit des Meeres zu spüren.