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- 28.11.2014
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Die Schande
Als Lisa die Haustür aufschob und in den schmalen Flur trat, spürte sie die Geister der Vergangenheit. Etwas knirschte unter ihren Schuhen. Im trüben Licht, das durch die halboffene Tür fiel, sah sie, dass ein paar Bodenfliesen gesprungen waren. Die Kälte und die Feuchtigkeit der vielen Winter, die das Haus nun leer stand, hatten sie bersten lassen.
Sie kannte jeden Raum. Im ersten war das Wohnzimmer. Nur an den Festtagen hatten sie es benutzt. Dann befeuerten sie den kleinen Ofen und befreiten die Möbel von den Tüchern. Gelebt hatten sie in der Küche. Lisa öffnete die zweite Tür. Hier war es immer warm gewesen. Sie trat ein und ihr Blick fiel auf das halbrunde, helle Emaillebecken. Sein blauer Rand war abgeblättert. Beim Nähertreten sah sie die dunklen Flecken am Abfluss. Sie mussten aus der ersten Zeit sein, als noch Wasser tropfte. In der Ecke lag ein Stuhl. Das Novemberlicht, das durch die blinden Scheiben fiel, ließ auch diesen Raum trist und farblos erscheinen. Der graue Linoleumbelag wellte sich und in seinen Falten lag der Schmutz der Jahre.
Vorsichtig überquerte sie den Flur und betrat den rechten der gegenüberliegenden Räume.
Das Elternschlafzimmer. Hier hatten die Mutter und die Tante am Ende des Krieges das Rückenteil des Doppelbettes entfernt und die beiden Bettgestelle einzeln nach rechts und links zur Wand gezogen. Das Marienbild mit dem Jesuskind, unter dem das Bett gestanden hatte, behielt seinen Platz und gab so dem Raum etwas Sakrales. Über die beiden Betten hängten die Mutter und die Tante die Bilder ihrer Männer, zwei ernst blickende Soldaten in grauen Uniformen.
Nebenan hatten Maria und sie geschlafen. Bei Ostwind war die Luft oft so kalt gewesen, dass die Bettdecken sich klamm anfühlten und die Kälte der Füße nicht weichen wollte und langsam in ihnen hochzog. Dann war Maria zu ihr ins Bett gekrochen. Sie hatten sich aneinandergekuschelt und Lisa hatte der jüngeren Schwester Geschichten erzählt. Märchen, in denen arme Mädchen ihr Glück in einer hellen und freundlichen Welt suchten, mit einem Ende, das beide einschlafen ließ und sich in ihre Träume schlich. Die Betten waren weg; vielleicht hatte sie jemand geholt, um mit ihrem Holz zu heizen.
Auch jetzt drang die kalt-feuchte Rheinluft ins Zimmer. Lisa ging ans kleine Fenster. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, aber obwohl sie den Riegel erreichte, gelang es ihr nicht, ihn zu schließen. Er war mit der Zeit rostig geworden und ließ sich nicht mehr bewegen.
Nur für einen kurzen Moment ließ Lisa zu, dass ihr Blick vom Fenster zur Ecke hinter der Tür wanderte. Sie wandte sich ab, um die aufkommende Beklommenheit zu verscheuchen und ging zurück in die Küche. Der Makler musste jeden Moment kommen. Maria und sie hatten beschlossen, das Haus zu verkaufen. Keine von ihnen wollte hierher zurückkommen. Lisa stellte den Stuhl aufrecht, wischte ihn mit einem Taschentuch etwas sauber und setzte sich.
Es waren wohl nicht einmal zwei Jahre gewesen, die sie hier zu Viert zusammengelebt hatten. Ein Zusammenleben, das den Geboten der Kargheit folgte. Alles war knapp gewesen: das Essen, das Geld, die Gespräche. Nie sprachen die beiden Frauen über anderes als Alltägliches: was man am nächsten Tag kochen wollte, was im Garten gemacht werden musste, was am Waschtag zu tun war.
Lisa fand, dass das Gut eine völlig andere Welt war.
Sie hatte die Stelle als Küchenmädchen bekommen. Warum, konnte sie nicht so genau sagen. Vielleicht, weil ihre Mutter die Näharbeiten für die Hausherrin besorgte, vielleicht auch, weil Tante Mia an jedem Montag die kleine Kirche putzte, freiwillig und ohne Lohn. Lisa war das egal. Für sie war wichtig, dass sie dazugehörte. Es waren nicht mehr viele Personen auf dem Hof. Der Hausherr war schon im ersten Kriegsjahr gefallen, der Sohn war noch nicht zurück.
Übrig geblieben waren die Frauen: die Hausherrin und die Köchin. Ihnen halfen Lisa und das Zimmermädchen und die Frauen, die sich um das Vieh kümmerten und die Feldarbeit machten. Nach den langen Kriegsjahren fühlten sich hier alle gut aufgehoben und die Tage verliefen geschäftig, aber in einem ruhigen Rhythmus.
Lisa stand im Vorraum vor dem ovalen Spiegel mit dem breiten goldenen Rahmen. Er hatte mit der Zeit am Rand ein paar schwarze Flecken bekommen, die sie nicht wegpolieren konnte. Alles, was er zurückwarf, wirkte ein wenig matt und verwischt. Lisa sah ihr Gesicht und den geflochtenen blonden Haarkranz. Wie eine Prinzessin mit Krone, dachte sie. Sie ließ ihren Blick nach oben wandern und fand, dass sie besser aussah, als die Frauen auf den Bildern über ihr. Die Maler hatten sich bemüht, doch die Gutsherrinnen waren nicht wirklich schön gewesen. Sie hatten für die Gemälde ihre kostbaren schwarzen Sonntagstrachten getragen. Geschmückt hatten sich die streng blickenden Frauen lediglich mit einem an einer Halskette hängenden Kreuz und dem Rosenkranz, der um ihre Hände geschlungen war.
Die Männerportraits gefielen Lisa besser. Die etwas groben und geröteten Gesichter wirkten auf sie freundlicher und lebendiger und Lisa fragte sich, wie wohl der Sohn aussehen mochte. Während sie sich hin- und herdrehte, lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Ihr kam eine Idee. Unter ihrem Kleid trug auch sie an einer Silberkette ein kleines Kreuz. Sie zog es heraus und platzierte es genau in die Mitte über ihren kleinen Brüsten. Der blaue Kittel verschwand und sie sah nur noch das Kreuz und ihr Gesicht. Sie versuchte, so ernst zu blicken, wie die Frauen über ihr, aber es gelang ihr nicht. Sie musste lachen und fuhr zum letzten Mal mit dem Lappen über das Glas des Spiegels.
Josef, der Sohn, war in der Nacht zurückgekommen. Die Köchin sagte es ihr am Morgen.
Lisa vergaß die Kartoffeln, die in einer Schüssel in ihrem Schoß lagen. Viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, aber sie wusste, dass sie die besser für sich behielte und die Köchin nicht damit nervte.
Etwas musste sie aber doch wissen: „Wie alt ist der eigentlich?“
„Ich glaube, siebzehn … Oder schon achtzehn? Auf jeden Fall war er noch auf dem Gymnasium. Natürlich, bevor er sich gemeldet hat.“ Die Köchin hob den Kopf und grinste schräg: „Fürs Vaterland. Sie mussten ja auch noch den letzten Alten und die ganz Jungen holen.“
„Musste er denn wirklich gehen?“
„Ich weiß nicht, aber die waren ja alle wie verrückt. Die dachten, dass wäre der Endkampf und auf sie würde es jetzt ankommen. Fürs Vaterland“, wiederholte sie und zuckte mit den Schultern. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich dem Herd zu.
Während Lisa mit dem Schälen fortfuhr, dachte sie an den Winter und das Frühjahr. Es war lange kalt und regnerisch gewesen und der Rhein hatte die gesamte Niederung überflutet. Alle Keller liefen voll und man konnte nicht über den Hof gehen, ohne dass die Füße im Schlamm versanken und die Schuhe von der nassen Erde schwerer und schwerer wurden.
„Wo ist der Josef eigentlich gewesen?“, fragte sie, als sie der Köchin die geschälten Kartoffeln reichte.
„Keine Ahnung, aber die wurden meistens irgendwo in die Nähe gebracht. Vielleicht war er im Reichswald oder in Wesel, da war ja noch lange was los. Viele Engländer und Amerikaner sollen gefallen sein, aber auch viele Deutsche. Der Josef hat Glück gehabt, dass ihm nichts passiert ist. Der Jakob vom Nachbarn hat’s nicht geschafft.“
Gott sei Dank, dachte Lisa, dass der Krieg nun zu Ende war. Sie erinnerte sich daran, dass die Mutter und die Tante immer auf Post gewartet hatten. Und dann waren in einer Woche beide Briefe gekommen.
„So, jetzt aber weiter.“ Die Köchin stellte ihr die Schüssel mit den langen grünen Bohnen hin. „Der Junge soll doch was Richtiges zu essen bekommen. Der ist ziemlich vom Fleisch gefallen."
Josef kam selten in die Küche. Immer nur kurz, meist um etwas zu holen, was ihm seine Mutter aufgetragen hatte. Die Köchin versuchte ihn dann mit irgendwelchen Belanglosigkeiten aufzuhalten, aber er reagierte nur wortkarg und sah an allen vorbei.
„Der Junge hat sich verändert“, sagte die Köchin. „Der ist erwachsen geworden.“ Sie schaute nachdenklich zur Tür, durch die Josef gerade wieder einmal verschwunden war. „Und auch irgendwie komisch.“
Lisa hatte ihn aus den Augenwinkeln betrachtet. Er war größer als sie und sehr schlank. Sie fand, dass er gut aussah, aber zarter und blasser als die Männer auf den Bildern. Sie hätte es gerne gehabt, wenn er sie einmal angeschaut hätte.
Ende August war Kirmes. Die erste nach dem Krieg. Nur wenige Schausteller waren ins Dorf gekommen, doch es gab wieder ein Zelt. Vor dem Krieg hatte das Gutsherrenpaar zu den Leuten im Dorf gehört, die mit dem Pfarrer am langen Tisch neben der Tanzfläche sitzen durften. Auch jetzt gab es wieder diesen besonderen Tisch und man hatte die Hausherrin gefragt, ob sie kommen würde. Die Trauerzeit war lange vorbei und sie hatte zugesagt. Ihr Sohn würde sie begleiten. Lisa war mit ihren fünfzehn Jahren noch zu jung, hatte aber den Tag frei bekommen und war am Morgen über die Felder nach Hause ins Dorf gewandert. Gegen Abend kehrte sie zurück. Die Köchin, die auch zum Zelt wollte, hatte ihr aufgetragen, sich um ein paar kalte Platten zu kümmern, damit alle etwas zu essen hätten, wenn sie vom Feiern zurückkehrten.
Lisa stellte die Teller mit den belegten Broten auf die Anrichte. Sie wusste nicht, ob sie schon ins Bett gehen sollte und setzte sich auf die Bank am langen Tisch. Es war still im Haus. Hin und wieder hörte man die Kühe im Stall oder ein Wiehern der Pferde. Selten, dachte sie, war es hier so ruhig. Sie schaute auf die Wanduhr: Es war halb zehn. Ein Knarren ließ sie aufhorchen. War schon jemand zurück? Oder war es nur die Katze, die irgendwo rumturnte? Lisa stand auf, ging zur Küchentür, horchte und öffnete sie zögernd. Am Ende des langen Flurs sah sie einen dünnen Schein unter der Tür zum Eingangsraum. Jetzt hörte sie noch ein anderes Geräusch, etwas, das sich wie ein leises, undeutliches Sprechen anhörte. Lisa traute sich nicht, Licht zu machen, und schlich zur Tür. Vorsichtig drückte sie die Klinke runter und schaute durch den schmalen Spalt. Der Vorraum wurde nur schwach von der Lampe über dem Eingang beleuchtet. Auf der Treppe, die zu den Schlafzimmern führte, saß Josef. Er hatte den Kopf in die auf den Knien gekreuzten Arme gelegt, seine Schultern zuckten und er murmelte etwas, was Lisa nicht verstehen konnte. Sie ging näher und stand einen Moment vor ihm. Er hatte sie wohl nicht gehört. Mit einem Finger berührte sie seine Schulter, zog die Hand aber schnell wieder zurück und wartete. Auch die Berührung schien er nicht bemerkt zu haben und sie beugte sich zu ihm.
„Entschuldigung“, flüsterte sie, „kann ich Ihnen helfen?“
Josef hob irritiert seinen Kopf und bewegte ihn so, als müsse er ihn einrenken. Sein Blick war unstet und er hatte Mühe, Lisa anzuschauen.
„Wer bist du denn?“ Er strich mit dem Handrücken über die Augen. „Ein Engel?“
Lisa musste lächeln. Sie wusste, was er meinte. Sie sah sich im Spiegel gegenüber. Der weiße Sonntagskittel ließ sie im Halbdunkel wirklich wie eine Erscheinung aussehen.
„Ich bin Lisa. Euer Mädchen.“
„Lisa? Ach ja?“ Ihr war klar, dass er sie nicht kannte.
„Sollten Sie nicht besser ins Bett gehen?“ Immer noch sprach sie sehr leise.
„Ins Bett?“ Er horchte seinen Worten nach. „Ja, sicher.“ Er hob den Kopf. „Kommst du mit?“
Lisa war starr. Er musste sehr betrunken sein und sie beschloss, so zu tun, als hätte sie das nicht gehört.
Eine Pause entstand.
Josef schaute auf seine Hände. „Weißt du, schlafen ist furchtbar.“
„Ja?“ Lisa dachte, dass sie irgendetwas sagen sollte. „Warum?“
„Warum? Ja, warum?“ Er hob den Kopf und sah sie von unten an. „Möchtest du das wirklich wissen?“
Lisa nickte.
„Es sind die Träume.“
Sie setzte sich zu ihm, ließ dabei aber die Eingangstür nicht aus den Augen. „Welche Träume?“
Josef hob den Kopf, schaute irgendwohin. „Welche Träume? … Ja, da fragst du was … Diese Träume eben. Komische Träume, die immer wiederkommen, immer wieder.“
„Was meinst du denn?“ Lisa merkte, dass sie ihn duzte, wollte sich entschuldigen, doch Josef achtete gar nicht auf das, was sie sagte, und sah sie zum ersten Mal direkt und fest an. Sein Gesicht kam ihrem jetzt sehr nahe, sie roch den Alkohol und sah, dass seine Augen glänzten und die Wangen feucht schimmerten.
„Jakob. Es ist immer Jakob, weißt du. Er ist in meinem Kopf, kommt immer zurück.“ Seine Stimme stockte, er schluckte. „Weißt du, er kann nicht sterben. Das Blut läuft …“ Ein Schluchzen unterbrach seinen Satz. „… läuft aus seinem Bauch. Und wir dürfen uns nicht bewegen, müssen warten … Es ist so kalt und es regnet. Wir frieren und Jakob liegt neben mir und weint. Aber ich kann ihm nicht helfen. Der Feldwebel hat gesagt, wir sollen bleiben. Uns nicht bewegen, ganz ruhig bleiben.“
„Warum dürft ihr euch nicht bewegen?“
„Ja, warum dürfen wir uns nicht bewegen?“ Er schaute sie an, fragend, so, als hätte sie die Antwort. „Warum dürfen wir uns nicht bewegen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Josef starrte durch sie hindurch. Dann veränderte sich sein Blick. Er rückte ein wenig zur Seite.
„Du bist Lisa?“
„Ja.“
„Und arbeitest in der Küche?“ Sie nickte. „Schon lange?“
„Seit Mai. Im April bin ich aus der Schule gekommen.“
„Im April. Ah ja“, sagte Josef, als wollte er es sich merken, aber gleichzeitig sank sein Kopf nach vorne. Er ruckte kurz zurück, schaute Lisa leer an und schloss seine Augen wieder. Wie von selber sank sein Kopf in ihren Schoß. Er schlief. Lisa strich ihm das Haar aus dem Gesicht und betrachtete ihn. Friedlich sah er aus, sein Mund war ein wenig geöffnet und er atmete ruhig und gleichmäßig. Sie fuhr weiter mit den Fingerspitzen über seine Stirn.
Ein paar Minuten verharrten sie so. Doch der Gedanke, dass jeden Moment die Tür aufgehen und jemand zurückkommen konnte, ließ Lisa unruhig werden. Neben der Garderobe stand ein Stuhl, auf dem ein kleines Kissen lag. Vorsichtig hob sie seinen Kopf und lehnte Josef gegen das Geländer. Er gab einen unwilligen Laut von sich, fügte sich dann aber mit einem kleinen Schnaufer. Lisa stand auf und ging zum Stuhl. Noch bevor sie ihn erreichte, hörte sie, dass er aufgewacht war. Ohne die Augen ganz zu öffnen, zog er sich unbeholfen am Handlauf hoch. Sie lief hin, wollte ihm helfen, doch er stand schon, murmelte etwas, was sie nicht verstand, und ging, langsam und darauf bedacht, keine Stufe zu verfehlen, nach oben.
Jeden zweiten Freitag hatte Lisa frei und durfte nach dem Mittagessen zu ihrer Familie. Sie nahm die Abkürzung über die schmalen Wege zwischen den Feldern. Die Äcker waren abgeerntet und lagen jetzt brach. Die Erde war pulvrig, denn es hatte lange nicht geregnet. Obwohl schon September war, waren die Tage noch sehr warm und Lisa spürte die Sonne auf ihrem Nacken.
Am Heuschober stand Josef. Er musste auf sie gewartet haben, denn er kam auf sie zu, als sie sich näherte.
„Tag, Lisa.“
Sie freute sich, dass er ihren Namen behalten hatte.
„Tag, Josef. Was …?“ Sie überlegte, ob sie ihn duzen durfte.
„Ich hab auf dich gewartet.“
Lisa sah ihn fragend an.
„Ich will mich bei dir bedanken.“
„Ja.“ Lisa überlegte, was sie darauf sagen sollte. „Gut, dass keiner früher gekommen ist.“
„Ja. War wohl zu viel Bier.“
„Ja.“ Lisa nickte.
„Sollen wir uns ein bisschen setzen?“ Josef zeigte auf den Heuballen, der vor der Scheune lag.
Bevor Lisa ihm folgte, blickte sie sich um. Niemand war zu sehen, das Dorf lag weit entfernt und der Weg zum Gut war menschenleer.
Nebeneinander schauten sie schweigend über die Felder zum Rhein, auf dem ein Lastkahn langsam in Richtung Holland trieb.
„War das für dich … War das schlimm im Krieg?“, fragte Lisa.
„Du kannst ruhig du sagen. Wir sind doch beide noch nicht so alt“, sagte Josef und blickte nach vorne. „Ja, das war schlimm. Aber lass uns nicht darüber sprechen.“ Er drehte sich zu ihr. „Gefällt es dir bei uns?“
„Ja. Das ist ganz anders, als bei uns zu Haus.“
„Ja?“
„Ja. Mein Vater und der Onkel sind beide nicht zurückgekommen. Und meine Mutter und die Tante trauern. Beide tragen immer noch Schwarz. Bei euch ist alles schöner, weißt du. Es ist so viel Leben im Haus. Ich bin ja erst ein paar Monate da, aber es gefällt mir sehr.“
„Und meine Mutter? Was denkst du über sie?“
„Ach, ich kenne sie eigentlich gar nicht so richtig. Ich hab ja meistens mit der Köchin zu tun. Zu mir ist sie immer nett.“
„Ja, wirklich?“
Lisa hatte das Gefühl, dass da etwas war, was Josef ihr sagen wollte. Deshalb wartete sie, dass er weitersprechen würde.
„Man kann nicht viel mit ihr bereden. Sie hat immer nur den Hof im Kopf. Und dass alles seine Ordnung hat. Dass jeder an seinem Platz ist, dass jeder seine Aufgabe gut macht. Nur immer der Hof. Was anderes interessiert sie nicht.“
„Und du findest das nicht gut?“
„Doch, schon. Aber es gibt doch so vieles, über das man reden sollte. Denkst du nicht auch?“
Lisa wusste nicht, was Josef meinen könnte, nickte aber.
„Die Schule … Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich sitze und versuche zuzuhören. Aber nach zehn Minuten fällt mir etwas anderes ein. So richtig klappt das nicht mehr.“
„Wie lange musst du noch gehen?“
„Bis Februar. Dann sind wir mit dem Abitur fertig. Mit den schriftlichen Arbeiten. Aber wahrscheinlich muss ich das Jahr noch mal machen. Mir fehlt viel. Das machen die Monate, die ich nicht hier war. Ja, und dann, dass mich nichts mehr richtig interessiert.“
Er sah Lisa an. „Bist du gerne zur Schule gegangen?“
„Ja, eigentlich schon. Das war was anderes. Wir sind immer zusammen gegangen, Maria und ich. Maria ist meine kleine Schwester, weißt du. Zu Hause war es meistens langweilig und traurig. Mutter und die Tante sprechen nicht viel und wir waren froh, wenn wir in der Schule waren bei den anderen Kindern. Das war schon lustiger als zu Hause.“
„Du lachst gerne, nicht?“ Josefs Blick war jetzt anders, direkter, so als würde er ihr Haar, ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund, jedes einzeln anschauen.
Lisa merkte, wie die Röte in ihr hochstieg.
„Du bist wirklich schön.“ Josef sah ihr in die Augen.
Seine Augen waren grün mit ein paar Pünktchen Braun in der Mitte.
„Ist dein Haar sehr lang?“ Josefs Hand strich über ihren Zopf.
„Bis hier.“ Lisa hielt ihre Hand an der Taille. „Wir haben es schon lange nicht mehr abgeschnitten.“
„Ich würde es gerne sehen, wenn es auf ist.“
Lisa sah ihn an und überlegte. Sie hob ihre Hand, schob seine weg und suchte das Ende des Zopfes. Doch sie hielt inne und ließ die Hand wieder zurück in ihren Schoß sinken.
„Nein. Wir sollten das nicht machen.“
„Schade.“ Auch Josef spürte wohl, dass das nicht richtig wäre. Er wandte sich ab und schaute wieder über die Felder zum Rhein.
„Vielleicht muss ich im nächsten Jahr nach Münster“, sagte er.
„Nach Münster?“
„Ja, wenn ich das Abitur nicht schaffe.“
„Wieso?“
„Meine Mutter meint, dass das besser ist, wenn ich woanders das Jahr wiederhole. Mein Onkel ist in Münster. Er ist Priester. Ich soll dort das Jahr nachmachen.“
„Du wirst das schon schaffen“, sagte Lisa. „Warum sollte das denn nicht klappen?“
Josef sah sie an, ohne zu antworten. Sein Gesicht war ihrem wieder ganz nahe. Er sagte nichts.
Lisa stand auf. „Ich muss weiter.“ Sie blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herab.
„Sehen wir uns wieder?“ Josef musste die Hand über die Augen legen, denn die Sonne blendete ihn.
„Vielleicht am Freitag in vierzehn Tagen, wenn ich wieder frei habe?“
„Ja, ich warte hier auf dich.“
„Mach’s gut Josef.“
Lisa ging ein paar Schritte. Ihr fiel noch etwas ein. Sie drehte sich um. „Und dann“, sie lächelte, „ja dann mach ich vielleicht auch meine Haare auf.“
Sie rannte los, bevor er etwas sagen konnte.
Immer, wenn sie nach den zwei Wochen in den Flur trat, roch Lisa seine dumpfe Muffigkeit. Durch die kleinen grünen Glasfenster der Eingangstür drangen die Sonnenstrahlen als fahler Lichtschein. Lisa fröstelte. Der warme Spätsommertag blieb draußen. Am Küchentisch saßen die Mutter und die Tante. Sie waren mit dem Entkernen der Zwetschgen beschäftigt. Lisas „Guten Tag“ wurde von beiden beinahe tonlos erwidert, die Tante schaute nur kurz hoch, die Mutter lächelte sie an. Lisa setzte sich zu ihnen und nahm aus der Schüssel der Mutter ein paar Früchte. Sie waren reif und Lisa schmeckte ihre saftige Süße.
„Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte die Mutter.
„Ja, ich glaube schon.“
„Ist die Köchin zufrieden?“
„Ja.“
„Das ist gut. Pass schön auf, dass du die Stelle behältst. Wir brauchen das Geld.“
Lisa nickte.
„Ich habe gehört, der Sohn ist wieder zurück.“ Die Tante stellte ihre Schüssel auf den Tisch und sah Lisa an.
„Hast du ihn schon gesehen?“
„Ja, manchmal kommt er in die Küche.“
„Und, wie ist er so?“
„Nett. Aber, er sagt nicht viel.“ Lisa dachte, dass sie der Tante besser nichts vom Kirmesabend und von der Scheune erzählen sollte.
„Halt du dich zurück. Du bist das Küchenmädchen, sonst nichts.“ Lisa fühlte sich durchschaut und war froh, dass Maria in die Küche stürmte, den Ranzen in die Ecke warf und sie umarmte.
„Wirf den nicht so in die Ecke.“
Maria beachtete die Tante nicht. Lisa war wieder da, das war wichtig.
„Gehst du nachher mit mir an den Rhein?“
„Natürlich.“
„Aber erst wird gegessen. Und dann die Hausaufgaben.“ Maria schaute zur Decke, nickte, drehte sich aber nicht zur Tante.
Die Mutter stellte den Eintopf auf den Tisch und schob ihnen zwei Teller und das Besteck hin. Endivien mit Kartoffeln. Dazu eine Scheibe durchwachsenen Speck.
„Zuerst wird gebetet.“
Die beiden Mädchen gehorchten der Tante, falteten die Hände, bewegten einen Moment die Lippen, bekreuzigten sich und begannen zu essen.
Die Tante schüttete ihre Pflaumen in den Topf der Mutter, band ihre Schürze ab und ging zur Tür. Wie an jedem anderen Tag legte sie sich auch heute eine halbe Stunde aufs Bett.
Kaum hatte sie die Küche verlassen, war es Lisa, als verwandle sich der Raum, als wäre er plötzlich heller und lebendiger. Und auch die Mutter saß anders am Tisch, weniger aufrecht.
Maria wollte alles wissen, was es auf dem Gut Neues gab. Und jetzt erzählte Lisa auch vom Kirmesabend und das, was Josef ihr vom Krieg gesagt hatte. Die Mutter saß ruhig am Tisch, hörte den beiden zu und ließ sie gewähren.
Manchmal hatte Lisa das Bedürfnis, ihrer Mutter näher zu sein, irgendwie, ein Streicheln, eine Umarmung zu spüren. Sie meinte sich zu erinnern, dass die Mutter früher anders gewesen war. Der Brief hatte wohl alles verändert. Oder war es die Tante gewesen? Mit ihr war etwas Ernsthaftes, Düsteres eingezogen. Für die Mutter war es gut, dass die ältere Schwester ihres Mannes hier war. Sie konnten zusammenlegen und gemeinsam die Dinge des Alltags regeln. Doch Lisa bedrückte die Gegenwart der Tante.
Im März waren die Blutungen zum zweiten Mal ausgeblieben. Das erste Mal hatte es Lisa nicht weiter gestört. Manchmal dauerte es ein paar Tage, und dann kamen sie doch noch. Aber noch nie war eine so lange Zeit vergangen.
Lisa dachte an Josef und spürte, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Immer, wenn sie an diesen Freitagen nach Hause lief, wartete er auf sie und manchmal auch, wenn sie am nächsten Tag wieder zurück zum Gut ging. Ihnen war klar, dass sie etwas Verbotenes taten, und Lisa überlegte, dass sie zur Beichte gehen müsse. Aber sie schob diese Gedanken immer wieder von sich. Ihr ganzes Denken drehte sich nur um diese Stunden mit Josef. Er hatte irgendwann Decken mitgebracht und sie hatten sich im Heu ein Lager bereitet, dass ihnen selbst im Winter für die kurze Zeit, in der sie zusammen waren, Wärme gab.
Lisa versuchte, auf die nur noch als Flecken vorhandene Grasnarbe zu treten. Der Lehm in den ausgefahrenen Rinnen war nass und klebrig und ihre Schuhe hatten an der Sohle schon einen schwarzen Rand, der immer größer wurde.
Heute musste sie mit Josef sprechen.
In der Scheune setzte sich Lisa auf einen Strohballen, zog die Schuhe aus und schlug sie gegeneinander, um sie von der Erde zu befreien. Meistens war Josef schon vor ihr hier, aber heute schien er sich zu verspäten. Lisa wartete eine Stunde, rieb sich die kalten Füße und zog endlich ihre Schuhe wieder über die dicken Socken. Viel länger konnte sie nicht warten. Sie ging vor die Scheune und schaute den Weg entlang, der zum Gut führte. In der Ferne sah sie hinter den hohen, kahlen Bäumen die schwarzen Umrisse des Hauses. Niemand war zu sehen. Es fiel ihr schwer, aber sie konnte nicht länger warten. Sie musste los. Es hatte zu nieseln begonnen und der Ostwind wehte ihr ins Gesicht. Die Mütze tief bis runter zu den Augen gezogen, ging sie schneller und drehte sich irgendwann nicht mehr um.
Lisa brachte den Eimer mit den Küchenabfällen zur Tonne hinterm Pferdestall.
„Lisa.“
Er hatte auf sie gewartet.
„Wo warst du?“
„Ich konnte nicht kommen. Wir waren in der Schule. Es war zu spät … Ich hab’s nicht geschafft.“
Lisa stellte den Eimer hin, nahm ihn in den Arm und drückte ihn.
„Und was nun? Musst du nach Münster?“
„Ja, am ersten April kommt mein Onkel und holt mich ab. Nach den Osterferien werde ich in Münster zur Schule gehen. Sie haben im Konvent ein Zimmer, in dem ich wohnen kann.“
„Und wann kommst du zurück?“
„Wahrscheinlich erst in den Sommerferien.“
„Das ist lange.“ Drei Monate, dachte sie. „Aber wir können uns ja schreiben.“
Josefs Gesicht veränderte sich. Lisa spürte, wie Angst in ihr hochkroch. Da war plötzlich etwas zwischen ihnen, was sie nicht fassen konnte. So, als stünde da plötzlich nicht mehr der Mann, mit dem sie aneinandergeschmiegt im Heuschober gelegen hatte, sondern ein Fremder.
„Ich weiß nicht. Vielleicht besser nicht. Ich glaube, das ist dort nicht erlaubt. Ich muss meinen Onkel fragen.“
Lisa spürte ein Stechen in ihrem Bauch und sie merkte, wie ihre Beine weich wurden. Sie lehnte sich gegen den Türpfosten. Josef legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie an. Jetzt war er ihr wieder nahe und sie sah, wie seine grünen Augen heller wurden vom Wasserfilm, der sich auf sie legte.
„Es geht nicht anders. Ich muss machen, was sie von mir erwarten. Mit meiner Mutter ist nicht zu reden. Sie sagt, sie möchte mir ersparen, an meiner Schule das Jahr zu wiederholen. Lisa, du musst das verstehen: Ich hab keine Wahl.“ Der Druck seiner Hände wurde fester. „Das sind doch nur drei Monate. Dann bin ich wieder hier.“
Lisa war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Es war, als wäre etwas in ihrem Hals, was die Worte nicht durchließ. Sie nickte nur zu allem, was Josef sagte. Dann nahm sie den Eimer. Sie musste weiter, die Köchin wartete.
„Mach’s gut, Josef.“ Die Tränen liefen ihr über die Wangen und sie wandte sich ab.
Die Köchin musste es ihr gesagt haben. Lisa hatte den blauen mit dem weißen Kittel vertauscht und war nach vorne ins Wohnzimmer gegangen. Die Gutsfrau saß am Schreibtisch, hinter dem man durch das geöffnete Fenster den blühenden weißen Flieder des Vorplatzes sah. Der Wind brachte den Duft der Blüten ins Zimmer und gab dem Raum den Hauch eines angenehm süßen Parfüms.
Sie winkte Lisa, die an der Tür stehen geblieben war, zu sich, und zeigte auf den Platz vor ihrem Schreibtisch.
Bevor sie Lisa ins Gesicht sah, schaute sie kurz auf den unteren Teil ihres Kittels.
„Lisa, du weißt, warum du hier bist?“ Lisa öffnet den Mund, doch die Herrin hatte keine Antwort erwartet. „Und du weißt auch, dass du hier nicht bleiben kannst.“
Lisa war, als schwanke sie und müsse sich gleich auf den Schreibtisch stützen.
„Ich habe gehört, dass es dir nicht gut geht.“
Wie durch ein Rauschen nahm Lisa wahr, was sie noch sagte. Ihr Blick war gefangen von dem Kreuz, das an einer goldenen Kette über der Bluse der Gutsfrau hing.
„Heute Nachmittag wird deine Mutter kommen. Sie bekommt das restliche Geld und noch etwas mehr und soll dich mitnehmen.“
Lisa fühlte, wie sie langsam zu sich kam. „Ja, aber … Ich …“
„Ich möchte nichts weiter mit dir besprechen“, unterbrach sie die Frau. „Ich glaube, es ist alles gesagt. Ich trage hier für alles die Verantwortung und muss sehen, dass alles seinen geordneten Gang geht.“
Lisa bewegte sich nicht, schaute an ihr vorbei zu den Zweigen des Flieders, die im Wind langsam hin- und herschwangen.
Die Mutter und die Tante würden nun Bescheid wissen. Immer, wenn sie nach zwei Wochen nach Hause kam, hatte sie befürchtet, dass sie es bemerken würden. Der Tante war sie möglichst aus dem Weg gegangen und die Mutter war mit ihren Näharbeiten beschäftigt gewesen.
„Wie alt bist du, Kind?“ Die Stimme der Frau riss sie wieder aus ihren Gedanken. Sie klang nun weicher, so erschien es Lisa jedenfalls.
„Sechzehn.“
„Gut.“ Wieder dieser knappe, harte Ton. „Dann bist du kein Kind mehr. Geh zurück auf dein Zimmer und pack deine Sachen. Alles andere wird sich finden. Ich warte auf deine Mutter.“
Der Weg war eng geworden. Das Gras war noch nicht gemäht und die langen Halme an den Seiten und in der Mitte überdeckten die Rinnen, sodass das Gehen mühselig wurde.
Die Mutter und die Tante, die mitgekommen war, hatten vor der Tür des großen Hauses auf sie gewartet. Die Mutter hatte ihr die Tasche aus der Hand genommen und ihre Hand auf Lisas Schulter gelegt.
Erst, als sie den Weg erreichten, hatte die Tante nicht mehr an sich halten können.
„So eine Schande … Für uns alle … Noch ein Maul, das gestopft werden muss.“
Die Worte dröhnten in Lisas Kopf. Der Weg verschwamm vor ihren Augen und sie stolperte über einen Erdbrocken. Die Mutter half ihr auf.
„Und einen Mann wirst du so wohl auch nicht finden.“ Die Mutter schaute die Tante an, konnte sie aber nicht bremsen.
„Anstatt uns zu helfen, tust du uns das an. Diese Schande.“
Lisa fühlte sich nicht wohl. Sie ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Am Tisch saß die Tante und schien auf etwas zu warten. Sie waren allein im Haus. Die Mutter brachte Näharbeiten zu einer Kundin.
„Um drei kommt Lisbeth. Sie will dich mal anschauen.“
Lisa sah die Tante an.
„Vielleicht kann sie uns helfen.“ Das Gesicht der Tante war ausdruckslos.
„Was soll sie denn machen?“ Lisa kannte die Antwort. Lisbeth war die Hebamme. Aber sie wusste auch, dass Lisbeth für die Engel verantwortlich war.
„Ich will das nicht.“
„Sie soll dich ja nur mal ansehen. Sonst nichts.“ Lisa ließ die Tante stehen und floh ins Schlafzimmer.
„Du hast uns das alles doch erst eingebrockt. Und wir müssen sehen, wie wir das in die Reihe bringen“, hörte sie die Tante lauter als sonst hinter ihr herrufen. Lisa schlug die Tür zu.
Lisbeth saß schon am Küchentisch, als Lisa ins Zimmer trat. Die Tante hatte Kaffee gekocht und ihr etwas Zwieback hingestellt.
Lisa kannte die Hebamme seit Marias Geburt. Lisbeth war eine nette und behäbige Frau, deren Gesicht immer freundlich wirkte. Vielleicht, weil es so rund war und die Augen jeden offen und interessiert anschauten.
Jetzt betrachtete sie Lisas Bauch, der nun schon deutlich zu sehen war.
„Komm mal her.“ Ihre Hand strich Lisas Rock glatt.
„Hast du eine Ahnung, wie lange es her sein kann, Lisa? Wann es war?“ Sie sprach langsam und ihr Blick blieb auf Lisas Bauch.
Lisa sah an sich herunter. „Ich weiß nicht. Vielleicht im Januar. Ja, Januar könnte sein.“
Die Hebamme sah die Tante an. „Dann ist es zu spät.“
Sie nahm die Hand von Lisas Bauch. „Da kann und will ich nichts mehr machen.“
Die Tante ruckte auf ihrem Stuhl.
„Ich kann nur noch helfen, wenn es soweit ist.“
Lisbeth sah Lisa an. „Wer war’s?“
Lisa schaute zur Tante und schwieg. Auch die Tante presste die Lippen zusammen.
„Gut“, sagte Lisbeth, nahm die Tasse, trank den letzten Schluck Kaffee und erhob sich.
„Sagt mir Bescheid, wenn die Wehen kommen. Ich wohne ja nicht weit.“
Sie wandte sich zur Tür. „Und du, Kind, pass gut auf dich auf. Nichts Schweres heben, das ist wichtig. Und wenn zwischendurch etwas ist, weißt du ja, wo ich wohne."
Die Tante brachte Lisbeth zur Tür.
Sie kam zurück, nahm Teller und Tasse und legte sie scheppernd ins Waschbecken. Ohne sich umzuwenden, sagte sie: „Du sagst besser nichts zu deiner Mutter. Sie soll sich nicht noch mehr aufregen. Es ist eh schon alles schlimm genug. Was hast du dir nur gedacht? Stürzt uns alle ins Unglück.“
Lisa hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie ging zurück ins Schlafzimmer. Sie hatte wieder einen Brief an Josef geschrieben. Aber sie wusste nicht, ob die Adresse, die sie auf der Post gefunden hatte, wirklich richtig war und ihre Briefe ihn erreichten. Sie hoffte, dass er sich im Juli melden würde.
Es war ein Junge. Gert. Die Geburt war eine leichte gewesen, wie Lisbeth sagte. So schnell war der Kleine auf der Welt, als hätte er nur darauf gewartet, endlich nach draußen zu kommen.
Im Zimmer der beiden Mädchen hatten sie in der Ecke einen Korb aufgestellt, den die Mutter aus dem Keller geholt hatte. Der Vater, der auch das Korbflechten gelernt hatte, hatte ihn zu Lisas Geburt aus Weidenruten gemacht.
Maria war ganz vernarrt in den Jungen und Lisa musste sie bremsen, dass sie ihn nicht immer wieder hochhob und in ihren Armen schaukelte. Auch die Mutter freute sich über den Kleinen.
Lisa hatte in der Stadt eine Arbeitsstelle gefunden. Am Nachmittag, fuhr sie mit dem Bus dorthin und half ein paar Stunden in einem Café aus.
Ihre Freude über das Kind überdeckte die Gedanken an Josef. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Auch in den Ferien war er wohl nicht auf dem Gut gewesen.
Lisa knöpfte ihren Mantel zu und schlug den Kragen hoch, als sie zur Bustür ging. Gestern waren es noch zwölf Grad gewesen und nun war es plötzlich kalt geworden, sehr kalt. Sie hatte die Kälte gespürt, als sie auf den Bus wartete. Ostwind. Schneeluft. Jetzt, kurz vor Weihnachten, schien der Winter zu kommen.
Maria stand an der Haltestelle. Lisa sah, dass sie weinte.
„Was ist denn mit dir? Ist was passiert?“ Sie beugte sich zu ihrer Schwester. „Sag schon.“
Maria formte Worte, konnte sie aber vor lauter Schluchzen nicht herausbringen. Sie zog die Nase hoch und dann brach es aus ihr heraus: „Sie hat das Fenster aufgemacht. Ich weiß, dass sie es war. Das war sie. Diese alte ….“ Wieder versagte ihr die Stimme.
Lisa spürte, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
„Was ist los? Ist was mit Gert?“
Sie lief los, ohne auf die Schwester zu warten. Die Eingangstür flog gegen die Wand, Lisa ließ sie offen und rannte ins Schlafzimmer. Der Korb war weg.
„In der Küche“, rief Maria, die nachgekommen war.
Die Mutter hatte den Korb in die Küche geschoben. Die kleinen Hände waren blau und auch der Kopf hatte einen bläulichen Schimmer. Gerts Augen waren geöffnet, aber sie nahmen nichts wahr. Lisa hob ihn auf ihren Arm, schaukelte ihn, konnte nicht aufhören, ihn zu schaukeln. Die Mutter nahm ihn ihr ab, legte ihn zurück und deckte ihn zu.
„Der Doktor kommt gleich. Lisbeth hat ihn angerufen.“
Lisa spürte, wie der Kleine nach Luft rang, beugte sich über den Korb und wusste gleichzeitig, dass sie nichts tun konnte.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, in ihrem Kopf kreiste das, was Maria gesagt hatte.
Die Tante, wo war die Tante? Sie sah ihre Mutter an.
„Wo ist Tante Mia?“ Sie schrie: „Wo ist sie?“
Die Mutter schaute zum Flur.
Der Doktor hatte dem Kleinen nicht mehr helfen können.
Die Mutter, Maria und die Tante saßen am Tisch. Lisa fand keine Ruhe, sie stützte sich auf den Stuhl, konnte sich nicht setzen, lief vom Tisch zum Spülbecken und wieder zurück.
„Was ist nur passiert? Was ist passiert?“ Sie weinte und schrie diesen einen Satz immer wieder, so als könne seine Wiederholung die Antwort bringen. Sie sah den Rücken der Tante, stieß mit der ausgestreckten Hand gegen ihn. „Was hast du gemacht. Sag, was hast du gemacht?“ Sie fasste die Tante an den Schultern, schüttelte sie. „Dreh dich um! Sieh mich an! Was hast du gemacht?“
Die Tante stieß sie weg. Unbeweglich saß sie am Tisch und starrte auf die Wand.
„Nichts hab ich gemacht. Nichts. Was willst du überhaupt von mir.“
Ihr Rücken streckte sich.
„Was weiß ich, warum das Fenster offen stand. Du hättest besser aufpassen sollen.“ Sie stand auf, der Stuhl fiel zur Seite.
„Was geht mich überhaupt dein Balg an?“ Sie rannte ins Schlafzimmer.
Natürlich kam der Pfarrer nicht.
Lisbeth hatte alles geregelt. Sie hatte den kleinen Sarg besorgt und mit dem Küster gesprochen. Der hatte sich bereit erklärt, die Grube auszuheben. Es war kein geweihter Boden, in dem der Junge ruhen würde.
Sie wartete am Eingang des Friedhofs und begleitete Lisa, Maria und die Mutter zu der Stelle hinter der Mauer, an der ein paar verwitterte Holzkreuzchen zu sehen waren. Diese Ecke war vom eigentlichen Friedhof getrennt. Vom Platz, an dem die verwelkten Blumen und Pflanzenreste lagen, wehte ein modriger Geruch herüber.
Lisa stand am Grab, sah auf den kleinen, hellen Holzsarg. Sie konnte nicht weinen, war wie versteinert. Maria stand neben ihr und drückte ihre Hand. Der Küster bedeckte den Sarg mit Erde und alle sahen ihm zu, auch dann noch, als die letzte, helle Stelle nicht mehr zwischen den dunklen Krumen hervorlugte.
„Wo ist Mutter?“, hörte Lisa ihre Schwester fragen.
Sie hatte nicht bemerkt, dass die Mutter weggegangen war.
Lisbeth schob ihre Hand unter Lisas Arm. „Komm, es ist kalt, wir müssen gehen. Wir können hier nichts mehr tun. Er ist ein kleiner Engel geworden und wird auf dich herabschauen. Du weißt, dass Jesus gesagt hat: Lasset die Kindlein zu mir kommen.“
Lisa hörte, was Lisbeth sagte, aber es erreichte sie nur von Ferne. In ihrem Kopf wechselten die Bilder. Sie sah sich und Josef aneinandergeschmiegt in der Scheune, sah das Gesicht ihres kleinen Jungen mit den grünen Augen und den braunen Sprenkeln, spürte, wie die Tränen kamen und ließ ihnen ihren Lauf. Das konnte Jesus nicht gemeint haben, ging es ihr durch den Kopf. Das nicht.
Vor dem Haus stand etwas, was Lisa von weitem für einen großen Karton hielt. Beim Näherkommen erkannte sie den Koffer. Die Mutter stand vor der Tür und wartete. Lisa begriff. Sie ging schneller und ihre Schwester und Lisbeth folgten ihr. Sie stellten sich zur Mutter und warteten mit ihr. Keine sagte ein Wort. Es dauerte nicht lange, dann trat die Tante aus dem Haus. Sie hatte ihren Wintermantel übergezogen. Sie blieb stehen, sah die Mutter an und es schien, als wolle sie noch etwas sagen. Der Gesichtsausdruck der Mutter ließ sie schweigen. Sie nahm ihren Koffer und ging.
Der Makler würde wohl nicht mehr kommen. Lisa stellte den Stuhl in die Ecke. Es hatte keinen Zweck, länger zu warten. Vermutlich war dieses alte, feuchte Haus für ihn kein wirklich lohnendes Objekt.
Der Bus fuhr an der Kirche vorbei und Lisa überlegte einen Moment, ob irgendwo in einem Konvent in Münster noch ein paar ungeöffnete Briefe lagen oder ob ihre Asche längst zerstoben war.