Hallo @Sturek,
nachdem du mich kürzlich in deinem Kommentar zu meinem Kommentar auf diese Diskussion hingewiesen hast, habe ich sie mir durchgelesen. Zu den Details in Hinblick auf die Wendepunkte will ich nichts sagen. Ich möchte nur eine generelle Beobachtung beisteuern, die mich neulich auch dazu bewogen hat, die deutlichen Wendepunkte bei deiner Geschichte zu loben.
Ich beobachte hier im Forum eine gewisse Skepsis gegenüber althergebrachten Schreibpraktiken, um es mal milde auszudrücken. Ob es Wendepunkte sind oder andere Dinge, die in jedem Schreibratgeber hoch und runter gebetet werden – weist man auf diese Best Practices hin, fliegt es einem eigentlich immer um die Ohren. Dabei gibt es mehrere Varianten (auch von mir selbst schon gezogen) wie beispielsweise:
– Der Autor sagt, er lese es selbst aber anders, sodass sich eine fachlich-objektive Beobachtung wie "Deine Story hat keinen Wendepunkt und ist darum träge" in eine subjektive Meinung unter vielen verwandelt (eine Tendenz, die man durchaus auch im Zeitgeist beobachten kann: begründete Meinung bis hin zu Expertenwissen wird zu Meinung abqualifiziert, so als sei alles diskutabel und relativ.)
– Der Autor sagt, das soll aber so sein und es anders (im gängigen Sinne: besser) zu machen, würde nicht mehr seine Intention abbilden oder dem Text das nehmen, worauf es ihm ankommt. In diesem Fall wird in meinen Augen Anspruch und Wirklichkeit verwechselt: Der Anspruch ist ein besonders kreatives, eigenständiges Werk zu schaffen, die Wirklichkeit ist ein auffallend amateurhaftes Werk.
– Es wird eine Meta-Diskussion einberufen, die stets damit endet, dass man sich ja in der Kunst keinem Kriterium sicher sein könne – überhaupt: Wer will sich erdreisten, hier Richter zu spielen? Zumal, es gibt ja auch die Beispiele X, Y, Z, wo eben das Zur-Frage-Stehende genau so bzw. genau so nicht gemacht wurde. Das ist die Premium-Version von der einen Punkt weiter oben: Auch hier wird der Anspruch, es ganz besonders zu machen, mit der Wirklichkeit, es im Gegenteil nicht besonders gut zu machen, verwechselt, nur dass man hier quasi namhafte Zeugen aufruft und dazu das Spielfeld wechselt, indem man nicht mehr über den Einzelfall, sondern über die Grundsätze diskutiert.
Auch wenn es anders klingen mag, denke ich schon, an der ganzen Skepsis und auch an den Argumenten ist etwas dran, und das (Be)Folgen von Ratgebern bzw. Standard-Tipps hat seine Grenzen. Aber eben nur teilweise. Je mehr ich mich mit Schreibratgebern und etablierten Autoren im Detail beschäftige, desto mehr fällt mir auf, dass die Storys hier in den allmeisten Fällen für Dinge kritisiert werden, die erwartungsgemäß ganz klar nicht empfohlen werden oder bei Profis so nicht zu finden sind. Oder andersherum: die empfohlenen Praktiken und möglichen Vorbildern nicht folgen.
Beispiel Wendepunkte: Klar sind die prinzipiell gut und wichtig, allein schon weil sie ein Problem entweder schaffen oder lösen, und Probleme bzw. Konflikte sind der Treiber von Storys, sind das, was für Spannung sorgt und uns als Leser emotional involviert. Und die allermeisten Storys hier (meine eingeschlossen) werden eben nicht als (ein)spannend beschrieben, kranken also zwangsläufig genau am Fehlen von Wendepunkten (unter anderem).
Gibt es Ausnahmen von der Regel "Wendepunkte auf jeden Fall"? Ja, wie immer. Ist es das richtige Take Away, sich vor allem an diesen Ausnahmen aufzuhängen? Ich denke nicht.
Die Studie, mag sie auch eine methodische Angriffsfläche bieten, stützt mit ihrer Aussage das, was auch Schreibratgeber empfehlen. Doch die Diskussion über das Thema, so scheint mir, schließt nicht mit dem Fazit: Die Bedeutung von Wendepunkten hat sich auch auf diesem Wege noch einmal bestätigt, wir nehmen wieder mal mit: Wendepunkte sind wichtig, lasst uns das in unseren Kommentaren präsent halten und auch selbst beim Schreiben beherzigen. Best Practice eben. Stattdessen ist das Fazit nach meiner Lesart eher: Naja, solche Studien. Und die hat ja nicht mal dies und das. Und überhaupt, Wendepunkte, also so einfach ist die Sache ja nicht.
Mag was dran sein, aber es gibt dann einfach keinen leicht umzusetzenden Take Away, der Schreibanfängern, Übenden und Amateuren hilft. So sehe ich das. Es wird nur wieder ein Milieu der Zweifel und des Meinungsspektrums und der Diskussion geschaffen.
Das Problem ist dabei in meinen Augen das Niveau der hier Vertretenen (mich eingeschossen): Vereinzelt sind hier Könner vertreten, aber die Mehrheit von uns muss das Handwerk lernen. Das tut man nicht, indem man sich schon der Formrevolution zuwendet, bevor man die Grundlagen drauf hat. Das verbaut einem nur einen effektiven Lernprozess, so sehe ich das.
Klar, ein Picasso löst die Form irgendwann auf und diskutiert nicht mehr mit "der Akademie", sondern nur noch mit seinen avantgardistischen Künstlerfreunden. Aber der hatte eben auch schon mit 13 ausgelernt nach den Maßstäben der Akademie. Er "kann" es und hat das bewiesen. Aber der Schüler von Picasso kann es eben noch nicht – und der fängt bestimmt nicht damit an, Guernica aufzuschlüsseln oder nachzumalen, der lernt klassische Perspektive, Anatomie und Farblehre, bis auch er das "kann".
Insofern war ich von deiner Story so positiv überrascht: Sie hat für mich erstaunlich gut funktioniert – besser als viele Texte hier. Auch die zeigen vielleicht Ansätze, aber gerade in Sachen Plot und Spannungsbogen wirken sie meistens, als sitzen die Grundlagen noch nicht – und als wird auch nicht nach diesen Grundlagen gesucht. Und siehe da: Deine Story beherzigt eine Grundlage beim Aspekt der Wendepunkte. Und schon funktioniert es auffallend gut. Wenn sie nun noch andere Grundlagen sicherer verkörpern würde, ich bin sicher, das wäre ein Text "ohne Fehler", der nur noch verschiedene Geschmacksurteile, keine technische Kritik mehr nach sich ziehen würde.
Warum spreche ich das alles eigentlich an? In gewissem Sinne aus Eigennutz: Ich merke, wie schleppend der Lernprozess bei mir selbst verläuft, weil hier – so meine Meinung – viel zu wenig Vertrauen in die Best Practices gelegt wird. Ich habe das Gefühl, sowohl bei mir wie auch bei anderen sitzt es alles auch nach Jahren nicht so, wie es könnte, wenn man weniger abwehren und diskutieren, und mehr am Kern der Sache entlang üben und arbeiten würde. Dafür müsste aber ein anderer Geist einkehren, scheint mir. Einer, wo man auf eine Palette von Schreibratgebern und Best Pratices verweisen kann, und zu hören bekommt: Stimmt, bin ich wieder dran vorbeigeschrappt, muss ich noch mal ran – anstatt: Das soll aber so! – Oder: Sehe ich selbst anders! – Oder: Aber wer sagt das überhaupt und sowieso?
Vielleicht stehe ich mit meinem Gefühl ja alleine dar. Und ich sehe natürlich auch die grundsätzliche Schwierigkeit, dass es hier im Forum nicht wirklich Lehrer mit Autorität gibt, es herrscht mehr das Hilfe-zur-Selbsthilfe-Prinzip. Meine Erfahrung ist allerdings, dass das nicht wirklich effektiv ist. Ich habe noch nie erlebt, dass ich persönlich schneller und besser lerne, wenn der Prozess nur lose begleitet wird. Wenn mir ein Lehrer mit Fachwissen und Sachverstand hingegen die Dinge klar und deutlich erklärt und in gewisser Weise auch fix vorgibt, geht es zack, zack, zack. Manchmal versteht man etwas in Minuten, was man Jahre lang selbst nicht gerafft hat. (Leider kann man als Person mittleren Alters nicht mal einfach so Creative Writing studieren – zumal das ja im DE-Raum eh kaum gelehrt wird. Würde ich sonst wahrscheinlich tun.)
Wahrscheinlich ist das alles jetzt viel zu off topic. Und ich höre schon die Erwiderungen. Ich merke nur, dass ich auch mehr und mehr nicht weiß, wie kommentieren, wenn einfach kein Konsens über Qualität zur Verfügung steht, auf den man sich berufen kann. Dabei gibt es diesen Konsens ja in der Welt da draußen – zumindest ein brauchbares Stück weit. Und wie gesagt: Meiner Erfahrung nach kranken die Texte hier eigentlich immer an genau den 0-8-15-Aspekten, die eigentlich common sense unter professionellen Autoren sind. Es kommt nur nicht an diese Message, weil alles sofort nach den Mustern oben zerpflückt wird.
Ich mache das selbst gewiss auch, dieses Abwehren von berechtigter Kritik. Ist ja immer auch verletzend und demotivierend. Ich versuche mir das allerdings seit Jahren, so weit es geht, abzugewöhnen. Natürlich ist das schwer. Aber ich würde die Rolle des gezielt Übenden mittlerweile sogar intensivieren, wie mein Kommentar ja zeigt. Einfach, weil es mir viel effektiver zu sein scheint, zu sagen und zu fragen: Hier soll der Text hin – was fehlt ihm und wie kann ich das erreichen?
Ich finde es so schade, dass es hier so wenig um Best Practices geht, weil mir scheint: Es ist alles kein Hexenwerk, wenn man es einfach mal klar aufbereitet betrachtet und systematisch anwenden lernt. Ich glaube also, fast alle hier würden extrem profitieren, wenn "konventioneller" vorgegangen würde – beim Schreiben, aber auch beim Kommentieren.
Zum Beispiel frage ich mich, warum nicht viel öfter Standard-Lehrwerke und -Konzepte (beispielsweise "Story", "20 Masterplots", "Heldenreise", "Suspense") zitiert werden und warum nicht viel öfter mit eigentlich etablierten Begriffen wie "Archetyp", "Antagonist", "Klimax", "Plot Verfolgung/Suche/Rache/..." oder "Konflikt" gearbeitet wird in der Textarbeit in den Kommentaren. Ich fände das super, wenn die Klassiker unter den Konzepten hier dauerpräsent wären und man sie so aktiv wie passiv mehr und mehr verinnerlichen könnte, anstatt einfach mit einem Wälzer zu Hause zu sitzen, mit dem man bestenfalls für sich allein arbeitet.
So, genug Thesen und Meinungen in den Raum geworfen. Ich mache mich dann mal auf die faulen Tomaten gefasst :-)
PS: Ok, eins noch – es ist nicht so, als würden die Schwachstellen von Texten hier nicht meistens gut aufgedeckt. Nur wir Autoren nehmen das Feedback nicht optimal an, scheint mir. Auf der anderen Seite könnten wir als Kommentoren bestimmte Dinge einfach als (vor)gegeben voraussetzen und dann in den Kommentaren tiefer graben.
Noch einmal die Wendepunkte: Anstatt in einem Kommentar höflich und mehr oder weniger subtil darauf hinzuweisen, dass sich eine Story träge liest (Weil sie keine WP hat!), wäre es doch weitaus effizienter für den Autor, wenn der Kommentar in etwa so liefe: Du hast keinen oder zu wenige Wendepunkte. (Punkt = Fakt = Das will man selbstredend nicht – so wie man auch nicht will, dass eine Aktzeichnung ohne bestimmte Absicht in ihren Proportionen verzogen ist; niemand im Zeichenkurs könnte da glaubhaft behaupten: Das soll aber so). Um das Problem zu beheben, könnte dein Protagonist XY machen, bevor er da und da hin geht. Das würde bewirken, dass ...
Heißt: Nicht immer wieder um dieselben Grundlagenprobleme herumtanzen und diese leise anführen, sondern ganz konkrete Textarbeit auf Basis erprobter Konzepte. So wie ich mir die Arbeit in einem Autorenteam vorstelle, das eine Serie schreibt. Was funktioniert wie (nicht) und wie können wir das so (weiter)entwickeln, dass nach erprobten Maßstäben eine top Serie draus wird?
Das heißt übrigens nicht, dass man nicht sowohl E- wie auch U-Kultur, Spannungs- wie auch "hohe" Literatur so behandeln kann. Man muss das nur im Vorfeld klären. Darum habe ich schon öfter gesagt: Am Anfang jeder Textarbeit muss eigentlich erst einmal geklärt werden, wo der Autor hinwill, was er wie erzählen will. Sonst sitzt man im Autorenteam von Alarm für Kobra 11 und redet von Fargo oder umgekehrt. Das kann ja nichts werden.