Das für mich überraschende Ergebnis:
Wendepunkte sind bestimmender für den Erfolg als alle anderen Faktoren wie Grundstimmung, Länge, Grundaufbau der Handlung und das gilt unabhängig von der Alterszielgruppe oder dem Genre.
Und: Man kann gar nicht genug Wendepunkte einbauen. Eine Obergrenze oder Abnutzung des Effektes konnten die Wissenschaftler nicht feststellen.
University of Toronto ist schon mal serös. Allerdings schwimme ich bissl beim Artikel (ggfs. schlampige Aufbereitung und nicht so in der Studie):
Dabei zeigte sich: Je mehr Wendepunkte eine Geschichte aufwies und umso dramatischer diese waren, desto höhere Bewertungen erhielt sie. Beispielsweise erhielt die Romcom „Zehn Dinge, die ich an dir hasse“, die 16 größere Turning Points aufweist, rund 1,4 Sterne mehr auf der Plattform Internet Movie Database (IMDb) als die am schlechtesten bewerteten Filme.
Bei Serien betrug der Unterschied zwischen den beliebtesten und den unbeliebtesten Folgen immerhin 0,35 Sterne auf IMDb. Auch hier war die Zahl der Wendepunkte ausschlaggebend: Je mehr davon, desto beliebter im Schnitt die Folge. Die E-Books mit den meisten Turning Points in ihrer Handlung wurden um 110 Prozent häufiger heruntergeladen als diejenigen mit den wenigsten Wendepunkten. Und auch private Förderaufrufe erhielten mehr Spenden und erreichten häufiger ihr Spendenziel, wenn sie mehr Wendungen enthielten.
Einerseits wird von einer breiten, diversen Befragungsgruppe gesprochen, andererseits ist die Rede nur von imdb-Sternchen oder Käuferverhalten. Die Anzahl heruntergeladener eBooks sagt nix darüber aus, ob die Bücher gern gelesen oder zuende gelesen wurden. Sie sagt nur etwas aus, ob z.B. eine Marketingkampgne / Werbung / word of mouth erfolgreich war oder nicht. Mit meinem MaFo-Hintergrund kann ich mit Bestimmtheit sagen: 0,35 Sterne wäre selbst bei einer Skala von 1-5 keine signifikante Differenz (imdb hat eine von 1-10) und Onlinebewertungen lassen keine seriöse Aussage über speziell Storytelling zu. Auch "rund 1,4 Sterne über der schlechtesten ..." ist imA völliger Quark, zumindest, was den Gegenstand der Studie angeht.
Solche Artikel poppen immer mal auf, sind imA aber keine Beschäftigung mit den Themen, die sie ansprechen, sondern einfach clickbait. Ich nehme an, dass die Studie etwas anders lief, vermutlich mehr auf den Marketingaspekt bezogen.
Gibt es zu viele Turning Points? Aber hallo! Z. B. in einem so riesigen Franchise, dass man das nicht hätte subsumieren sollen: Game of Thrones (TV). Die zu häufigen und zu extremen Turning Points v.a. der letzten Staffel haben die Serie eine unabschätzbare Menge Fans und ggfs. Zuschauer gekostet, und zwar nicht im Sinne von: 'Auch schlechte Werbung ist gute Werbung'. Da war ein folgerichtiger Abschluß der angelegten Handlungsstränge aus den x Staffeln zuvor gefragt und keine ätschibätschi-Wendung, die mehr mit krampfhaftem Aufmerksamkeitserzwingen als mit Handwerk / Storytellung zu tun hat. (Ich bin übrigens null Fan der Serie oder der Bücher, verfolge die eher so wie ein Zugunglück.)
Turning Points haben ja grob gesehen mit drei Dingen zu tun:
- Charakterentwicklung eines Prota (also Wendungen, Entwicklungen, Änderungen)
- Spannungsbogen und Pacing
- Der story arc, also Gesamtaufbau
Das sind also eh Grundlagen, die die meisten Erzählungen in irgendeiner Weise beachten. Das ist doch wie "Zeit": Wir nehmen sie nur dadurch wahr, dass wir altern / verfallen und / oder wenn wir uns im Raum bewegen. Gibt es keinerlei Art von 'Bewegung' = Veränderung in einer Erzählung, nehmen wir sie vermutlich nicht mehr als solche wahr (selbst bei Surrealismus). TP sind ja eigentlich nur eine Art Bewegung im Raum der Geschichte.
Nicht zu jeder Geschichte passen häufige oder heftige Turning Points, wenn z.B. eine dystopische Situation vorliegt und die Ausweglosigkeit Thema ist. Orwells 1984 hat eigentlich nur einen einzigen Wendepunkt, und das ist der Verrat an der Frau. Das Buch ist aber Millionenbestseller. Im Film: Soylent Green hat als einzigen TP die Sache mit der Nahrung (zum Ärger des Autors, der in der KG & der Novelle seine Kritik als Antinatalismus und ohne Kannibalismus angelegt hatte).
Wendepunkte können arbiträr erscheinen oder vllt. sogar manipulativ. Zu viele können konfus machen, einen den Verlauf der Story aus den Augen verlieren oder sie unglaubwürdig erscheinen lassen. Oder man verliert das Interesse an oder die Sympathie für eine Figur, weil sie ab irgendwann inkonsequent bzw. schlecht gezeichnet wirkt.
Weitere Gegenbeispiele wären für mich:
- Adam Nevills No One Gets Out Alive / Niemand kommt hier lebend raus (v.a. der letzte TP mit dem antiken Rom), und auch sein furchtbares The Ritual (90% von 5 Leute latschen durch schwedischen Wald mit dräuender Gefahr und 10% Mehrfach-TPs mit supernatural slasher Black Metal Folk Horror Wrong Turn Children of the Corn psychisch gestörte Teens ... WTF?)
- Nahezu jeder Roman von China Miéville (außer Kraken)
- Clive Barkers Coldheart Canyon
Besonders in Thrillerserien können zu viele TPs die Storyline killen, hab grad ziemlich genervt beendet, mit teils keinem Plan mehr, was der eigentlich zu ermittelnde Fall war: Shetland S8, Six Four S1, Oxen S1, oder die Nicht-Polizeiserie Exit S2 (die erste Staffel war perfekt angelegt).
Die premierte Serie Line of Duty - eigentlich ein Paradebeispiel für gutes Storytelling / Figurenzeichnung - hat in S4 und S5 viel zu viele TPs, was beinahe alle Logik und Figurenzeichnungen aushebelt. Mit S6 haben die sich zum Glück wieder gefangen.
Kurzum: Der lateinamerikanische Philosophieprofessor Julio Cabrera beschwerte sich mal, dass es eine Fixierung auf 'Das Neue' gebe. Jede These / Debatte müsse etwas Neues / nie Gehörtes bieten, es gäbe eine Art Instagrammisierung auch der Philosophie, wo von Autoren verlangt werde, dass sie schnelle und deutliche Reaktionen hervorrufen, so ein Ah! und Oh!, ein unbedingtes Brechen von Erwartungen zur Auslösung von 'thrills', was aber nicht der Sinn von Philosophie sei. Ich finde durchaus, dass man sagen kann: Es ist auch nicht unbedingt der Sinn von Erzählungen.
Und klar gibt es auch zu wenig TPs, wenn man keinen Plan hat, was da eigentlich erzählt wird, weil alles sinnlos auf der Stelle tritt. (Leider sehe ich das bei Gluchovskys Text so, obwohl ich ihn sehr schätze).
Das sind so meine 5 Cents zum Thema, bin gespannt wie andere das sehen.