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Die Reinigung
„Halt die Klappe, Wichser!“
Sebastian verabscheute solche Niederlagen. Sie hinterliessen Wunden, die körperlich kaum weh taten, aber seinem Stolz hart zusetzten.
Es schien, als wollte Jenny ihn dazu zwingen, seinen Umgang mit Frauen in Frage zu stellen.
Zu gut konnte er sich noch an den letzten Wortwechsel mit ihr erinnern:
„Wohin sollen wir gehen, um uns besser kennenzulernen?“
„Tut mir Leid, aber ich bin müde“, hatte Jenny erklärt und dabei auf den Boden geschaut.
„Ja, eben. Ich auch, aber ich möchte nicht alleine schlafen.“
Da hatte ihn Jenny für einen kurzen Augenblick wieder angestarrt und ihr Blick hatte nichts von ihren Gefühlen verschwiegen.
„Bildest du dir ein, jede Frau flachlegen zu können, mit der du rumgemacht hast? Glaubst du, wir finden dich alle so unheimlich geil?“
„Nein... schon nicht. Aber ich darf doch fragen, oder?“
„Hätte ich heute nicht so viel getrunken, hättest du mich gar nicht erst berührt. Ich habe zu spät realisiert, was für ein arrogantes Arschloch du bist.“ Sie war einen Schritt zurückgegangen, hatte seiner Hand nicht mehr gestattet, auf ihrem wohlgeformten Hintern zu ruhen.
„Tut mir ja leid.“
„Nein, tut es dir nicht! Du hast mich ausnützen wollen und wirst dasselbe morgen bei einer Anderen versuchen. Und wenn die dann besoffen ist, funktioniert es vielleicht sogar!“
„Du hast ein falsches Bild von mir, Jenny...“, hatte er noch murmeln können.
Anschliessend hatte sie „Halt die Klappe, Wichser!“ gebrüllt und war gegangen.
Warum nur hatte sie ihn abgelehnt?
Was hatte er falsch gemacht?
Gehörte Jenny vielleicht einer christlich-konservativen Sekte an und musste ihre Lust bis zur Ehe im Zaum halten?
Wahrscheinlich nicht. Dazu hatte sie zu gut geküsst. Und er hatte ihr ungeniert an die Brüste greifen können.
Bereits nach kurzer Zeit, hatte er sie als ‚leicht zu knacken‘ eingestuft und ihren Namen in Gedanken auf die Liste seiner sexuellen Leistungen gekritzelt.
„Ich hätte es ahnen sollen!“, fluchte er seinen Spiegel an und zauberte anschliessend zur Übung das Lächeln her, mit dem er schon einige Herzen zum Schmelzen gebracht hatte, „sie ist eine selbstherrliche Tussi. Auf solchen Abfall kann ich pfeifen!“
Es stand ein weiterer Abend bevor, der vielleicht ertragreicher werden würde. Er hatte bereits ein neues Ziel. Heute würde er Sarah, scheinbar zufällig, begegnen.
Sarah war zwar nicht ganz so hübsch wie Jenny, aber dafür deren Freundin. Dies machte sie zusätzlich attraktiv.
Sie hatte kein mit Stacheldraht umwickeltes Bett. Es würde nicht allzu schwierig sein, hinein- und wieder hinauszugehen.
Doch jede Frau hatte eine Wand, die man zuerst niederreissen musste. Bei einigen genügte ein Lächeln und der Widerstand zerfiel in Trümmern, bei anderen trug selbst ein ganzes Jahr voller Bemühungen noch keine Früchte des Erfolgs.
Natürlich kam dazu, dass manche Männer von Grund auf besser ankamen, als andere.
„Ich gehöre schon eher zu denen, die meistens nur lächeln müssen, oder?“, fragte er den Spiegel. Sein Ebenbild gab keine Antwort. Es lächelte ihn nur selbstsicher an.
Sebastian ergriff sein Badetuch. Ein angenehmer Körpergeruch war ebenso wichtig, wie eine gepflegte Frisur und sauber geschnittene Fingernägel.
Wer sein Aussehen nicht pflegt, pflegt seine Lust nicht.
Dieser Gedanke begleitete Sebastian ins Badezimmer, wo er sich auszog und seine Kleider sorgfältig auf ein kleines Taburett legte. Dabei erinnerte er sich an vergangene Nächte. Vor einer Woche hatte er zum letzten Mal Sex gehabt.
Eine Woche war zu viel zu lange.
Shampoos und Duschgels waren Schikanen. Die meisten Produzenten glaubten selbst nicht an ihr Versprechen nach unwiderstehlicher, sexueller Anziehungskraft oder dergleichen.
Das hatte Sebastian oft geärgert.
Seine Sammlung bestand im Grossen und Ganzen aus Duschmitteln, die er ausprobiert und anschliessend auf ewig verflucht hatte.
Dennoch hatte er nie aufgegeben. Irgendwo musste es einfach ein Produkt geben, mit dem er jede Frau für sich gewinnen könnte.
Wenn er Glück hatte, besass er dieses Produkt bereits...
Sebastian betrachtete stolz das Shampoo, welches er auf dem Markt ergattert hatte. Es war eine ganz besondere Flasche, die nicht mit Verzierungen, leeren Versprechen und grossen Sprüchen warb. Der Verkäufer selbst hatte ihm erklärt, was es mit dem allfälligen Wunder auf sich hatte.
So überzeugend, dass er das Produkt nur schon aus Angst etwas zu verpassen gekauft hatte.
Wenn es funktionierte, würde er reiner sein als je zuvor. Er würde sich perfekt fühlen.
Und die Frauen würden dies natürlich auch spüren.
Das Besondere an dieser Flasche war die schlichte und dennoch grobe Art, wie sie Interesse weckte. Sie erklärte ohne Umschweife: „Ja, ich bin ein hässliches Unikat und gerade deshalb wirst du mich auch ausprobieren. So eine Flasche hat nicht jeder.“
Sie hatte die Form einer Birne, enthielt lediglich einen Deziliter und war vollkommen farblos. Ihr durchsichtiger Leib gewährte Einblick in die Innereien. Das Shampoo hatte die Farbe verdünnter Milch, war aber weit dickflüssiger.
Das asymmetrische Etikett schien keine bestimmte Funktion zu erfüllen. Fünf kleine ‚e’s bildeten zusammen mit Spuren weiterer Buchstaben das schlecht erhaltene Fossil eines Wortes.
Auch der grüne, kitschige Deckel lieferte keine Erklärung. Er passte überhaupt nicht zur Flasche.
Hatte er ursprünglich etwas anderes verschlossen? Billigdeo, Klebstoff oder Kinderzahnpasta vielleicht?
Sebastian wusste; wenn das Mittel versagte, würde er es aus dem Fenster werfen und dem Händler zur Strafe an den Stand pissen oder etwas stehlen. Aber wenn es funktionierte, würde er von seinen neuen sexuellen Lockstoffen profitieren und bis zu seinem Tod eine Frau nach der anderen vögeln.
Er würde dann sogar diejenigen mühelos knacken können, die Stacheldraht um ihren jungfräulichen Betten hatten. Und dazu würde er nicht einmal mehr lächeln müssen.
Er schüttelte die Flasche durch, wie es der Verkäufer empfohlen hatte und schaltete die Dusche an.
Als das noch kalte Wasser über ihn herfiel, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und tastete nach verirrten Tropfen. Die rechte Hand führte er an sein Glied.
„Sarah, wie sieht wohl deine Fotze aus?“, fragte er das Shampoo in seiner Linken. Vor seinem inneren Auge zog er Jennys Kollegin vorerst bis auf die Unterwäsche aus.
„Sarah, was meint wohl Jenny, wenn ich ihr erzähle, wie deine Fotze aussieht?“
Er sah den milchig-trüben Inhalt der Flasche an. Dann beantwortete er seine Frage:
„Sie wird mir ihre zum Vergleich zeigen wollen.“
Er stellte seine Wunderflasche ab. Sein inneres Auge war gerade dabei, sich mit Jenny und Sarah gleichzeitig zu vergnügen und sein Glied verlieh dem ganzen Szenario ein bisschen Realität.
Nach kurzer Zeit nahm er lächelnd das Shampoo zur Hand. Er öffnete den grünen Deckel, hob den Flaschenhals an seine Nase und schnüffelte.
Den Duft kannte er nicht.
Es roch weder nach einem exotischen Gemisch, noch nach den von ihm bisher ausprobierten Mitteln, die zwar stanken aber dennoch anziehend wirken sollten.
Aber es war zweifelsfrei das Beste, was er je gerochen hatte.
Vor seinem inneren Auge sah er farblosen Honig, der reiner als jeder andere einer Quelle entsprang und sich in einen kleinen See voller Früchte ergoss. Die einzelnen Düfte vermischten sich auf eine überharmonische Art, erforderten die Konzentration sämtlicher Sinne, damit auch die kleinste Ader dieses Wunders aufgenommen werden konnte.
Nach drei gierigen Atemzügen glaubte Sebastian süchtig zu sein.
Noch einmal schüttelte er. Wieder setzte sich die weissliche Masse in Bewegung. Er bildete einen kleinen Teller mit der linken Hand, drehte die Flasche um und drückte.
Dabei schloss er die Augen und lächelte so breit, dass es schon beinahe wie ein Grinsen aussah. Vor lauter Vorfreude bemerkte er gar nicht, dass seine linke Hand leer blieb.
Als er sich allmählich vorstellte, wie das Shampoo zwischen den Fingern hindurchglitt und auf den Boden tropfte, schloss er seine Hand, um den Fluss zu beenden.
Da bemerkte er, dass gar kein Fluss da war.
Sogleich riss er die Augen auf und starrte zu Boden. Auch dort war das Shampoo nicht angekommen. Verwundert sah er die Flasche an und vergewisserte sich, den Deckel geöffnet zu haben.
Nach abermaligem, heftigen Schütteln lösten sich einige winzige Tropfen von der Flasche und fielen wie ein kleiner Speichelfaden zu Boden.
Mehr zeigte sich nicht.
Sebastian öffnete den Mund. Seine Zunge spielte mit irgendwelchen Schimpfwörtern, doch schlussendlich erachtete er es als sinnlos, einem Gegenstand seine Verwünschungen mitzuteilen. Da musste er schon auf den Verkäufer warten.
Wütend presste er auch die linke Hand auf den Flaschenbauch. Der Inhalt widerstand dem Druck. Noch immer weigerte sich Sebastians Wundermittel aus der Flasche zu treten.
„Wenn der einzige Kick darin besteht, für eine halbe Stunde die Flasche zerdrücken zu müssen, dann schmeisse ich diesen Scheiss aus dem Fenster!“, fluchte Sebastian.
Wie ein Irrer schüttelte er die Flasche durch. Da er aber noch immer kein bemerkenswertes Resultat erzielte, warf er sie mit voller Wucht an die Wand. Die Wut brannte eine ungesunde, rote Farbe auf seine Wangen und die Stirn.
Als er die Flasche wieder aufhob, hatte sie eine weissliche Zunge Shampoo aus dem Hals gestreckt. Er schüttelte, doch das Bisschen wollte sich nicht vom grossen Bruder lösen, schwebte weiterhin leicht schaukelnd hin und her und spottete der Schwerkraft, während Sebastians Hand seinen letzten Wutanfall auszitterte.
Als er erneut mit aller Kraft drückte, ertönte ein Knall, wie beim öffnen eines Champagners, doch anstatt eines Korkens schossen 100ml Shampoo auf den nassen Boden.
Fassungslos wanderte Sebastians Blick von der leeren Flasche zum Klumpen am Boden und wieder zurück.
Weshalb war plötzlich der ganze Inhalt herausgeflogen?
Was war das überhaupt für ein Inhalt?
Äusserst wohlriechend jedenfalls. Die Honigquelle schüttete ihre Reinheit über die nackten Brüste einer eleganten, dunkelhaarigen Frau, die eine rote Rose in der Hand hielt und sich zwischen Früchten einer seltenen Pracht räkelte. Kurz lächelte sie wie Sarah. Dann wechselte der Ausdruck, machte dem einer anderen, noch vollkommeneren Schönheit Platz. Sebastian schloss die Augen, um den Bildern mehr Geltung zu verleihen.
Das Shampoo roch erotisch und er hätte sich von dem Duft betäuben lassen, wäre das möglich gewesen. Es gab keine Zweifel; ein solches Wunder versprach viel und auch zu Recht. Er würde nicht nur seine Haare, sondern seinen ganzen Körper mit dem Mittel betupfen.
Im Kontrast zum Duft stand dessen Erzeuger. Der amorphe Klumpen am Boden sah aus wie eine Qualle – als hätte er den weiten Weg vom Meer über Flüsse, Bäche und menschlichen Kanälen in die Dusche gefunden.
Das Shampoo schien auf seinen Blick gewartet zu haben. Langsam setzte es sich in Bewegung, auf eine besondere Art kriechend, wie eine Larve, die sich mit dem Vorderteil zog, um sich anschliessend hinten abzustossen. Dazu kam eine sonderbare Variation des Fliessens, denn während sich das duftende Wunder in Richtung des Ausgusses arbeitete, durchmischte sich der fast durchsichtige Brei stets von neuem, bewies, dass er doch eine Flüssigkeit war.
Erschrocken verfolgte Sebastian den Weg seines Shampoos. Er hätte das Ding packen und in die Haare schmieren wollen, aber die Vorstellung ekelte ihn an.
Für einen Augenblick schloss er die Augen. Unfreiwillig riss ihn der Duft mit. Er wurde gezwungen, den Trip zu geniessen.
Doch nach wenigen Sekunden gewann ihn die Wirklichkeit zurück.
Der erste Teil des Klumpens hatte den Ausguss erreicht. Sofort bückte sich Sebastian und streckte seine Hand aus. Sein Wundermittel begann sich durch eine der kleinen Rillen hindurchzuzwängen.
Mehr denn je sah es wie ein quallenartiges Wesen aus. Sebastians Hand erstarrte in der Luft.
Das Ding konnte er unmöglich berühren.
Wer ausser dem Verkäufer wusste, was es war?
Vielleicht nicht einmal der.
Aber es war das erste Shampoo, das ihm einen totalen Erfolg garantieren konnte.
Nicht alle Wunder dieser Welt konnten es sich leisten, gut auszusehen. Die meisten waren hässlich.
Sollte er dieses nun durch den Ausguss fliessen lassen, mit seinen sexuellen Lockstoffen? Nur weil es unappetitlich aussah?
Nein. Dazu war der Geruch zu herrlich. Die Honigquelle verlieh seinen Händen neue Kraft, löste sie von der Starre. Der Duft einer roten Rose durchströmte seinen Körper.
Sarah lächelte ihm zu. Auch Jenny war da. Und viele, viele anderen.
Doch zu schnell floss die Lust.
Mit einem Schrei liess sich Sebastian auf den Boden fallen und griff nach dem letzten Stück seines Shampoos, das durch die Rille fliehen wollte. Er erwischte ein kleines Stück, an dem der ganze Rest hing und zog es hoch.
Rasch stellte er fest, dass dies gar nicht nötig war. Die trübe Masse fuhr von alleine hoch, saugte sich ihren eigenen Leib hinauf um dann unter Sebastians Nagel zu gleiten.
Bald befand sich das ganze Shampoo in seiner Hand. Es begann das Fleisch zu dehnen, kämpfte um einen Platz, wo es keinen Platz hatte. Eine Ader platzte und ein kleiner Teich entstand unter der Haut. Noch fand das Blut keinen Ausgang.
Zwei Nägel fielen ab und der kleine Finger bog sich so sehr in die falsche Richtung, dass er endgültig knackte. Der Daumen drehte sich eineinhalb Mal um die eigene Achse, bis die Haut riss und er nur noch der Schwerkraft trotzte, weil ihn etwas mit der Hand verband, das auf den ersten Blick wie eine dicke Sehne aussah, sich aber schlussendlich als Shampoo entpuppte.
Der Duft, der zuletzt so unendlich nah bei ihm gewesen war, vermochte den Schmerz nicht mehr zu verdecken. Die Illusionen fielen ab. Zurück blieb die Wahrheit: Sebastian sah sie, wie sie sich durch den Unterarm arbeitete und Stück für Stück die Funktionen seines Fleisches ausser Kraft setzte.
Wenn es Sebastian für Sekundenbruchteile gelang, den Schmerz zu verdrängen und sich auf den betäubend reinen Geruch zu konzentrieren, so musste er dennoch schreien.
Zu sehen war beinahe schlimmer als das zu leiden, was er sah. Und die Augen konnte er nicht schliessen. Er musste mitverfolgen, welche Wunder sein Wundermittel gerade verrichtete.
Nach wenigen Minuten verklangen Sebastians Schreie. Seine Augen rollten irr umher. Er lag auf dem blutigen Boden. Der Versuch aufzustehen scheiterte an seinen Beinen; zu einsam lagen sie links und rechts von seinem Rumpf.
Sebastian hatte soeben seine Zunge aus dem Mund würgen müssen, um nicht an ihr und dem Blut zu ersticken. Jetzt brüllte er nur noch klanglose Luft und Schmerz.
Nach Gesetzen der Sterblichkeit und des Fleisches hätte er längst seine Jenseitsreise antreten müssen, doch ein Wunder – eins der hässlichen Sorte – trotzte der Logik des Lebens und hielt ihn gefangen, wo die Qual des Körpers war.
Zu deutlich spürte er wie das Shampoo einen besonders empfindlichen Teil seines Körpers erreichte. Hätte Sebastian in dieser Situation noch weinen können, so hätte er es getan. In Kürze sollten seine sexuellen Organe von vermeintlichen sexuellen Lockstoffen zerstört werden.
Um den Blick vom Schauspiel abzuwenden, kippte er seinen Kopf zur Seite. Da sah er die Flasche. Sein Blick fiel auf das blutbeschmierte Etikett. Neben den fünf ‚e’s stachen Konsonanten hervor und bildeten das Wort ‚Seelenretter‘.
Sebastian wusste nicht recht, ob diese Botschaft erfreulich oder fürchterlich war.
Er fühlte sich, als hätte man die Türe zur Wahrheit geöffnet und ihm gleichzeitig verboten, sie zu durchschreiten. Die Lösung des Rätsels lag ihm auf der Zunge, doch diese befand sich ausser Reichweite auf dem Boden, sodass das Wort weiterhin nur einen sehr getrübten Sinn ergab.
Er wusste nur, dass der Seelenretter, wo auch immer er war, sich beeilen musste, denn bald gab es nichts mehr zu befreien.
Nach der Zertrümmerung des Gliedes setzte das Wundermittel seine Reise durch Sebastians Organe fort. Jeder Wirbel wurde aus seinem Platz in der Säule gerissen und zwischen Bauch und Brust dehnte sich die Haut bis sie platzte. An der Schulter trennte sich der rechte Arm von bereits stark reduzierten Rumpf.
Das Shampoo schlüpfte durch den Rest Hals in den Kopf.
Viel wurde nicht verschont. Ober und Unterkiefer barsten, die Gesichtsmuskeln wurden auseinandergerissen, die abgetrennte Unterlippe hing einer Made gleich zum gespaltenen Kinn, der Hinterkopf öffnete sich einer Mischung aus Hirn und Blut.
Schlussendlich blieben Sebastian lediglich Gehör und Sicht. Er glaubte zu wissen weshalb. Er sollte dem Untergang seines Körpers bis zum Schluss beiwohnen.
Als das am Leben erhaltende Wundermittel wieder in den Rumpf glitt und dort Eingeweide bekämpfte, hörte Sebastian wie sich die Türe ins Badezimmer öffnete. Eine heitere Stimme ertönte.
„Hallo Sebastian“, irgendwo hatte er sie bereits gehört, „wie gefällt dir deine neue Reinheit?“
Es war die Stimme eines Propheten.
Sebastian antwortete mit dem Terror in seinen Augen.
Der Besucher trat in sein Blickfeld. Es war der Verkäufer.
War er gekommen, um seine Seele zu retten?
Als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, beantwortete er die Frage:
„Nein. Der Seelenretter befindet sich in dir. Ich bin nur sein Herr. Und weisst du was? Er wird nicht mit der Reinigung aufhören, ehe du vollkommen bist. Er zerstört alle deine Sünden und erlöst, was es noch zu erlösen gibt. Bald wirst du dich so leicht fühlen wie ein Schmetterling und während der grösste Teil von dir ewige Schmerzen leiden wird, wirst du in den Himmel schweben.“
Mitten auf dem Boden lag einsam sein Herz. Die übrigen Organe waren abgetrennt worden und bluteten in der ganzen Dusche verstreut ihr letztes Leid aus.
Den bisher verschonten Augen und Ohren erteilte man die letzte Absolution:
„Bei all dem Schmerz hat die Seele in dem einzigen reinen Ort Zuflucht gefunden. Du bist ein Sünder, Sebastian. Aber sogar dein Herz ist rein. Es hat für dich geschlagen und geliebt. Nicht es, sondern dein Verstand hat betrogen. Er hat mit dem Glück anderer und mit Freundschaften gespielt hat. Du bist ein Wichser, Sebastian. Solche Menschen wie du tragen viel Schmutz mit sich. Doch wie du gesehen hast gibt es Wunder, die selbst den grössten Dreck reinigen können. Dein Körper musste soeben für unzählige Fehler bezahlen und wird es auch weiterhin in alle Ewigkeit tun.“
Der Verkäufer lächelte fröhlich. Er hielt eine leere Flasche in der Hand. Sie hatte die Form einer Birne. Darauf klebte ein mit lediglich fünf 'e's dekoriertes Etikett.
Er zeigte auf das Herz.
Es schlug noch immer – weil es dazu angetrieben wurde. Der Seelenretter hatte es umschlungen und verlieh ihm einen fast wundervollen Glanz.
Das Blut war weggereinigt worden.
„Dort wartet deine Seele auf Befreiung – von dem fleischlichen Gefängnis und von deinen Sünden.“
Das Pochen wurde lauter, als schlüge die Seele an den Wänden des Herzens.
Doch plötzlich erstarb es völlig.
Der Herr des Seelenretters hatte Sebastians Ohren am Boden zerrieben.
Er bückte sich.
Einmal noch sahen sich der Verkäufer und Sebastian an. Der Kunde erzählte, welche Erfahrungen er mit dem Produkt gemacht hatte. Sie sprachen über Frauen und Honig, über Schmerz und Erlösung. Der Verkäufer murmelte etwas von Weltverzweiflung und Todeshoffnung. Man müsse an beides glauben.
Als sie über das Essentielle gesprochen hatten, kommunizierten sie noch über viele andere Sachen.
Augen konnten Legenden in Sekunden erzählen, für die Worte Monate bräuchten. Sie reflektierten Gefühle, welche Worte mühsam und vielleicht trügerisch errichten müssten.
Du warst ein Wichser, Sebastian.
Nach dem Blickkontakt kam das Ende. Der Verkäufer zerdrückte beide Augen mit dem Zeigefinger und ergriff das Herz.
*
Es war etwas eng aber schön hinter den neuen Wänden. Weder Sorgen noch Gefühle, einem zu belasten. Da war nur der herrliche Duft.
Endlich begriff Sebastian wie man sich nach einer wirklichen, ultimativen Reinigung fühlte.
Leicht wie ein Schmetterling. Für immer erlöst.
Er begann, mit dem Strom zu schwimmen. Die Honigquelle führte ins Paradies. Dort würde er bleiben.
Und selbst wenn der Himmel eine Illusion war, so wollte sich Sebastian freuen. Schöner als das Ende würde es auf jeden Fall sein.
*
Der Verkäufer öffnete die leere Flasche. Sie war etwas grösser als die letzte. Der Seelenretter liess sich widerstandslos einschliessen. Ahnte er, dass es bald wieder Leute geben würde, die seine Hilfe brauchten? Mit jeder Rettungsaktion gewann er an Kraft.
Er war glücklich mit seinen Seelen und anfangs waren sie glücklich mit ihm.
Sein Duft war eine paradiesische Täuschung. Doch was auf der Welt war schon keine Täuschung? Liebe vielleicht?
Der Verkäufer schraubte die Flasche zu. Er steckte sie und das reine Herz in eine Plastiktüte.
Die Herzen waren Balsam für seine Seele. Sie zeigten, dass die Kinder dieser Welt von Grund auf gut waren.
Zumindest weckten sie diesen Eindruck.