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Die Machete
„Der Mathis kriegt ne Cosetta“, sagte mein Vater. Er hielt die Schultern leicht vornübergebeugt und ich schaute hinauf in sein Gesicht, als hätte ich nicht verstanden.
Ich kannte mich indes in solchen Dingen damals aus. Eine Cosetta, das war ein Jollenkreuzer. Sie war ganz aus Holz gebaut, das hätte mir gefallen, allerdings war sie etwas klein. Die Boote, die mich zu dieser Zeit in Atem hielten, waren stattlicher. Aber sie war schon ein gutes Boot, so eine Cosetta, und nüchtern betrachtet in jedem Fall ein hübsches Stück, wenn es einem Jungen unvermittelt versprochen wird.
Mathis, das bin nicht ich, das ist mein Bruder. Das Boot hat er nie bekommen, aber der Tag, an dem der Satz fiel, ist mir fest im Gedächtnis. Ich weiß genau, was war.
Das obere Gericht, in dem die Verhandlung anberaumt war, lag reichlich eine Autostunde von unserem Wohnort entfernt. Wir waren früh losgefahren, damit ganz sicher nichts dazwischenkam. So war noch Zeit übrig, die der Partner meiner Mutter zu nutzen wusste, indem er uns ohne Umwege in die Kantine führte. Es schien, als musste er das Gebäude nur betreten, um sich bereits auszukennen.
Wir saßen dann zu dritt vor unseren Tellern. In meinen Händen Messer, Gabel. Vor meinen Augen Tische, Stühle. Menschen, die umherliefen wie jeden Tag. Für alle diese Leute war das hier ganz normal, sagte ich mir, und ich versuchte, ebenso wie sie an den gewöhnlichen Dingen Halt zu finden. Nach jedem Bissen schaute ich auf die Uhr, als könnte ich so die Zeiger bannen. Und doch wollte ich, dass das, was gleich kommen sollte, hinter mir lag. Ich stocherte mit der Gabel auf meinem Teller. Es war immer noch Zeit. Der Partner meiner Mutter hatte sich mit einer Papierserviette den Mund abgewischt und nun ruhte seine große Hand auf der Tischplatte, die zerknüllte Serviette locker von den Fingern umschlossen. Er schob die Zunge über seine Zahnflächen und saß da, als gehörte die Kantine ihm. Ich schaute auf die Uhr.
Schon hier in der Kantine wusste ich, was ich bei der Anhörung zu sagen hatte. Mein Standpunkt musste ganz deutlich sein. Unbedingt musste ich deshalb davon erzählen, wie Vater die Machete schliff. Das war etwas Handfestes, und es war erprobt. Darauf konnte ich mich verlassen.
Die Machete: Mein Urgroßvater hatte sie im Ersten Weltkrieg am Gürtel getragen, als er mit den Tirailleurs sénégalais, den Senegalschützen, gegen die preußischen Hunnen kämpfte. Die Machete ist nicht wie die wenigen anderen Dinge aus dem großen Krieg, die bei uns überdauert hatten, in einer Kiste auf den Speicher geschafft worden, sondern sie wurde in der Werkstatt im Keller unter die Rasenscheren, Grubber, Gartenhacken geworfen und als alltägliches Arbeitsgerät gebraucht. Niemand außer mir nahm sie in die Hand wie eine Reliquie. Wann immer ich in den Keller ging, etwa wenn ich Vater den Obstpflücker in den Garten brachte, freute ich mich schon auf der Treppe daran, wie ich dem archaischen Gegenstand näher kam. In der Werkstatt zog ich die breite Schublade ganz auf, bis sie sich unter ihrem Gewicht verkantete, schob mit beiden Händen die Gartengeräte zur Seite und hob von ganz hinten die Lederscheide ans Licht. Ich ließ die Machete langsam aus der Hülle gleiten und wog die Klinge in den Handflächen. Dabei malte ich mir aus, wie vielleicht wirklich mit dem Messer, vor vielen Jahren und weniger wahr durch die seither vergangene Zeit, auf jemanden eingehauen, gar jemand umgebracht worden sein konnte. Die Vorstellung erschreckte mich nicht, sie lockte mich, obgleich sie wenig wahrscheinlich war. Der Uropa habe an der Front vor allem mit dem Schälmesser gekämpft, gab Vater zur Antwort, als ich einmal fragte. Ich hakte kein zweites Mal nach.
Im Übrigen war die Machete schon ursprünglich nicht zum Töten gedacht. Für einen echten Nahkampf soll sie nahezu nutzlos gewesen sein. Dennoch trug jeder der Tirailleurs eine Machete zur Uniform. Sie war ein Symbol: Der ist anders, sollte man über meinen Uropa denken, wenn man das Messer an seinem Rock hängen sah. Diese Leute kämpfen nicht, sollte man denken, sie schlachten. Schaut sie euch an, die furchtbaren Wilden.
Über diese Machete wollte ich im Gerichtssaal sprechen.
Ich habe kein echtes Bild von dem Saal mehr vor Augen. In der Erinnerung sehe ich nur mich und den Tisch, an dem ich saß. Und genauso sprach ich: Als wäre ich allein. Als wäre der Richter nicht da. Als wäre auch Vater nicht da. Ich spüre noch heute den spärlich besetzten Raum um mich herum, den ich nicht ausfüllen konnte, ein Bild habe ich nicht mehr dazu. Ich weiß es aber: Vater saß irgendwo hinter mir. Als ich hineingeführt worden war, hatte ich ihn gesehen. Die Geschichte von der Machete musste ich trotzdem liefern, denn sie stimmte ja. Und wenn sie stimmte, musste Vater sie hören.
Niemand hat Vater zuvor die Machete schleifen sehen. Sie muss einmal geschliffen werden, das alleine wäre kein Erschrecken wert gewesen. Aber wie ernst, wie stumm er es tat. Wie lange es dauerte. Er stand in der Werkstatt im Keller, schliff und schliff. Wir Brüder schoben uns an die Tür heran, und da sahen wir ihn, grell beleuchtet von der Neonlampe. Das Gesicht hing ihm nach unten, auch als wir auf der Schwelle standen, schaute er nicht auf. Ich sehe ihn im Gedächtnis vor mir, höher und schmaler, als er war. Er stand, führte die Klinge über den Stein, und es endete nicht.
„Er hat dann später“, erklärte ich dem Gericht, „das Haus verlassen. Er ist aus der Tür gegangen, ohne etwas zu sagen, hat das Auto genommen. Wir haben die Machete gesucht, überall. Sie war weg. Vater ist lange ausgeblieben. Er kam endlich wieder, aber die Machete war noch immer nicht am Platz. Mein Bruder und ich, wir haben dann den Autoschlüssel vom Regal genommen, heimlich, sind nach draußen vors Haus gegangen, haben das Auto aufgeschlossen und haben nachgeschaut. Auf der Fußmatte unter dem Beifahrersitz, da hat sie gelegen.“
Ich sprach ruhig und sachlich, ich hatte es schon mehr als einmal getan. Ich sah auf meine Hände, die flach auf der Tischplatte lagen, und erklärte, warum ich das erzählte, wie es mich erschüttert hat. Nachdem ich einmal zu reden begonnen hatte, ging es leicht. Das dumpfe Ziehen im Leib hatte mich verlassen wie einen Schauspieler, der die Bühne betreten und das erste Wort gesprochen hat. Ich legte dar, was Vater mit der Machete wollte, wozu er meinem Eindruck nach bereit gewesen wäre. Man musste einsehen: der Mann ist gefährlich. Bei ihm kann man nicht wohnen.
Ich hatte Übung darin, die Schwere und die Furcht zu übertreiben, die uns ergriff, als damals die Machete fehlte. Ich übertrieb darin, was wir, die Brüder, unserem Vater zutrauten. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, die Possen selbst zu glauben, die ich dabei trieb. Ich musste, denn es ging um viel.
Natürlich wollte Vater damals wirklich, dass wir dachten, er bereite sich darauf vor, den Liebhaber meiner Mutter, von dem er seit wenigen Tagen wusste, mit der Machete in der Hand zur Rede zu stellen. Vielleicht schlich er dann später sogar tatsächlich scheu um die Wohnung des anderen Mannes oder saß im Auto eine Weile verstohlen davor, während er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Aber es spielte keine Rolle, wohin er mit dem Schlachtmesser fuhr. Es ging darum, dass man ihn sah, während er es schliff. Schaut mich an, wollte er sagen: So sieht es in mir aus. Wenn einer erleben muss, was ich erlebe, seht her, dann müsste man sich nicht wundern, wenn er geradezu eines Verbrechens fähig wäre. So steht es um mich, schaut es euch an!, ich habe den Boden unter mir verloren ganz wie ein Verbrecher. Das wollte er zeigen. Es ging ihm darum, dass wir Kinder ihn baten, aufzuhören, obgleich er keine Antwort gab.
Das war zum Zeitpunkt der Verhandlung schon um die drei, vier Jahre her. Vater wollte mich nach der Trennung unbedingt bei sich haben und er kämpfte unnachgiebig darum. Ich sei doch eigentlich bei ihm zu Hause. Wir drei müssten doch zusammenhalten: Mathis, er und ich. Um nichts anderes ging es mehr, wenn ich am Telefon mit ihm sprach oder wenn wir bei einem seiner Besuche gemeinsam einen Spaziergang im Park machten, damit er Mutter nicht begegnen musste. Er sprach davon, wie verlassen das große Haus nun sei. Wie er jeden Tag den Tisch deckte und wie dabei mein Teller leer blieb. Wie er in mein Zimmer ging und meine Hausschuhe in die Hand nahm, die dort zurückgeblieben waren. Er streichele täglich über die Hausschuhe, sagte er mir am Telefon. Mein Zimmer rühre er sonst nicht an, sagte er. Ich müsse wieder zu ihm. Es gab nur doch das. Ich hielt den Hörer und wartete, bis das Gespräch zu Ende war. Mir wurde das alles zu viel und ich stieß Vater von mir. Es kam eben so. Mathis blieb bei ihm.
Der Vorfall mit der Machete hatte sich mit den Jahren verändert, er war mir zu einem Geschenk geworden, dessen ich mich bediente. Ich fand, er lieferte ein überzeugendes Argument. Ein mächtigeres hatte ich nicht.
Meine Anhörung dauerte nicht lange. Es hätte wohl genügt, denke ich heute, wenn ich in wenigen Worten gesagt hätte, was ich wollte. Heute zweifle ich kaum daran, dass der Richter über das Schauspiel, das ich für ihn aufbrachte, hinwegsah. Damals aber glaubte ich, auf die Geschichte nicht verzichten zu können, und meine Mutter hatte sich keine Mühe gegeben, mir den Glauben zu nehmen.
Von der Verhandlung bekam ich weiter nichts mit. Wie habe ich das Urteil mitgeteilt bekommen? Ich weiß es nicht mehr, weiß nur, dass ich eine Weile draußen im Gang stand. Ich wartete stehend, es gab nichts zum Sitzen im Gang, wie ich mich erinnere, beschwören könnte ich es nicht. Warum war niemand bei mir? Hohe Türen standen im langen Gang, zwei hohe Fenster nur ganz am Ende, und hinter den Türen verhandelten sie weiter. Wie lange? Es kann nicht sehr lange gewesen sein, denn ich wartete doch draußen auf dem Gang. War ich denn allein? War nicht der Partner meiner Mutter bei mir, den die anderen längst meinen Stiefvater nannten? Es scheint mir, als müsse er dabei gewesen sein.
Aber dann kam Vater heraus, und da war ich doch allein.
Ich gebe dir nicht die Hand, sagte er, als er vor mir stehen blieb. Sagte er das? Gab er mir nicht die Hand? Ich glaube. Dann sagte er: Der Mathis kriegt ne Cosetta.
Er ging weg. Eine Cosetta. Selbst wenn!, dachte ich. Wie armselig! Der hat ja nichts kapiert. Der hat nicht begriffen, um was es ging. Dass er wirklich meinte, das Ganze habe etwas mit Gegenständen zu tun, die man hat oder nicht hat. Ich fühlte mich reif und überlegen. Er hatte nichts begriffen, und jetzt hatte er kein Recht mehr auf mich. Da ging er fort mit seinen schnellen Schritten, den vertrauten schnellen Schritten, bog um und war aus dem Gang heraus.
Der Mathis kriegt ne Cosetta, sagte mein Vater zum Abschied, und im Stillen lachte ich ihn dafür aus.
Was hätte er auch sagen sollen?