Die letzte Zigarette
„Das Leben als Roulette betrachtet. Jeder Schritt ein Moment des Zufalls. Ein ewiges Rollen im Kreis soll ein Ende finden. So musst DU die Kugel aus dem Spiel nehmen“
Ganz dünn steht dieser Text rotfarben an der Wand in Toms Zimmer. Nichts anderes von ihm mehr ist da. Die Kleider gepackt, das Bett ist abgezogen.
Tom erinnert sich an die Nacht. Es war die zweite Nacht, nachdem er aus dem Krankenhaus kam. Die Ärzte und Schwestern hielten ihn für „über den Berg“ doch Tom erinnert sich an die Gefühle, die in ihm brodelten, als er in dieser Nacht aufwachte. Er musste erklären, seine Gefühle ausdrücken –ihre ganze Kraft unter Beweis stellen. Mit seinen langen Fingernägeln begann er die frische Naht an seinem linken Arm wieder auf zu kratzen, bis genug Blut floss, um seine Worte zu finden und ihnen Ausdruck zu verleihen. Nun 9 Monate später dünkt er den Schwamm in den Kessel Wasser vor sich und wäscht die Schrift von der Wand –sein letzter Akt. Das Wasser im Eimer hat sich kaum verfärbt, als er ihn zurück in die Putzkammer bringt.
Die anderen Patienten im Flur sehen ihn komisch an. Wie frei er sich bewegen kann und ihm das Betreten jedes Raumes erlaubt ist. Wie gerne würde Tom das wieder gegen die Sicherheit von vorgegeben Regeln eintauschen, gegen die Sicherheit von Grenzen. Nun muss er sie sich wieder selber setzen.
Sein Gepäck liegt im Sekretariat bereitgestellt. Es ist nicht viel. Bei Frau Baumgartner muss er noch ein Formular unterschreiben und dann kann er gehen. Niemand hält Tom die Tür auf, er muss sie selbst öffnen. Das Einzige was bleibt, sind die Gespräche und vielen Ratschläge der Ärzte. Doch kaum bläst ihm der kühle Nachmittagswind ins Gesicht, scheint es, als würde er all diese Ergebnisse aus den zahlreichen Sitzungen einfach mit sich davontragen. Denn hier draussen hat sich in der Zwischenzeit nichts verändert –noch immer dieselbe Einsamkeit und das selbe Chaos inmitten dem.
Tom tastet sich nach seinem Päckchen Zigaretten. Er klopft die Letzte aus der Box und versteckt das leere Päckchen wieder in seiner Hosentasche. Auch das Feuerzeug ist beinahe leer und Tom braucht drei Versuche, bis er sich die Zigarette angesteckt hat. Ein tiefer Zug lässt seine Spannung etwas erschlaffen und er beginnt seinen Weg.
Er überquert die selben Strassen, hört die selben Menschen über den Gehsteigen entlang laufen und ihr Tuscheln, Lachen und Gezanke erscheint ihm immer noch ebenso mysteriös wie bedrohlich.
Enge dunkle Gassen und die verschiedensten Geschäfte liegen auf seinem Weg - unmöglich den Blicken der Passanten zu entgehen.
Er bleibt in einer finsteren Ecke stehen. Vor ihm befindet sich eine Mutter mit einem kreischenden Baby auf dem Arm, neben ihr steht ein quengelndes Kind, das laut herumbrüllt. Die Mutter versucht das Kind mal zu ignorieren oder dann wieder zu ermahnen still zu sein, doch sie erscheint letzten Endes hilflos.
Wieder tastet Tom mit dem versteckten Blick auf das Familiengeschehen gerichtet nach seinem Zigaretten - Päckchen. Erst als er die leere Hülle zusammenknüllt, bemerkt er wieder, dass es ja leer ist und lässt es wieder in der Hosentasche verschwinden. Ein paar Meter weiter steht ein Tabakwarengeschäft und Tom nähert sich langsam dem Eingang. Er versucht die Mutter mit ihren beiden Kindern zu ignorieren, während er sich an ihnen vorbeischleicht mit dem Blicke auf die Pfützen am Boden gerichtet. Ob sie ihn wohl anstarren? Ob sie wohl schlecht über ihn denken? Fragt sich Tom beunruhigt und bring sich dann unter dem Schatten des Tabakgeschäfts in Sicherheit. Durch das Fenster starrt er von aussen in das Geschäft hinein. Es ist ein kleines Geschäft. Hinter dem Tresen steht ein alter, dicker Mann mit einem Schnauzer im Gesicht. Irgendwie hat Tom nicht das Gefühl, dass das Betreten dieses Geschäfts für Leute wie ihn, wer das auch sein mag, gestattet ist und geht dann wieder weiter.
Zwei vielleicht dreimal muss er sich wieder genauer orientieren auf dem Weg, bis er dann endlich zu seiner alten Wohnung gelangt. Es ist ein grosser Block und er wohnt in der untersten Etage.
Erst als er seine Hosentaschen durchsucht hat, erinnert er sich, dass die Hausschlüssel noch immer in der Reisetasche liegen und beginnt diese zu durchwühlen. Währenddessen geht an ihm eine junge Frau mit ihrem Freund Arm in Arm vorbei. Wo sie drei Türen weiter ebenso nach ihren Schlüsseln suchen. Während sie so suchen, lachen und albern sie herum und immer mal wieder blickt einer von beiden zu Tom hinüber, der dann immer sofort wieder seinen Blick in seine Tasche wendet. Als er irgendwann wieder vorsichtig nach oben sieht, hört er nur noch wie die Tür hinter den beiden zugeht. Er setzt sich kurz auf seine Tasche und kramt ein weiteres Mal das Zigarettenpäckchen hervor, das noch immer leer ist. Sein Blick geht zur Strasse hinüber mit dem Gedanken an die vielen Geschäfte. Er reisst sich wieder los davon, drückt das Päckchen wieder in die Hosentasche und kramt weiter nach seinem Schlüssel. Nachdem er ihn gefunden hat, bemerkt er während des Aufschliessens, dass die Tür leicht klemmt, so dass er ihr einen leichten Tritt geben muss, damit sie aufgeht.
In der Wohnung ist alles ganz still. Tom steht eine Weile einfach da neben der Garderobe mit der Reisetasche in der Hand und starrt leer in den Raum. Irgendwann stellt er diese dann doch ab und zieht seine Schuhe und seine Jacke aus –ganz langsam. Vorsichtig bewegt er sich von einem Raum zum anderen. Im Badezimmer bleibt er wieder stehen.
Das Licht war an diesem Abend nicht an, denkt er und lässt es auch jetzt aus. Er sieht zum Waschbecken hinüber, wo noch immer die leere Wodkaflasche liegt. Er nähert sich der Badewanne und geht davor auf die Knie, so dass er wieder genau die selbe Stellung hatt, wie an jenem Abend. Er öffnet den linken Hemdärmel und zieht ihn nach hinten, wodurch die lange Narbe seinem Innenarm entlang frei wird. Nachdem er so eine Weile lang da gekniet ist, springt er plötzlich erschrocken auf und macht den Spiegelschrank oberhalb des Waschbeckens auf. Es ist leer. In seiner Reisetasche hat er ein Necessaire mit einem automatischen Rasierer. Doch er kann sich, wann immer er will nun auch Klingen kaufen. Es gibt keine Regeln, die das verbieten und es gibt keine Schwestern mehr, die ihm davon abraten.
Er schliesst den Spiegelschrank wieder und verlässt das saubere Badezimmer um in die Küche zu gehen, wo er einen leeren Kühlschrank vorfindet und setzt sich an den Esstisch. Das Päckchen Zigaretten kramt er nun das letzte Mal aus seiner Hosentasche und wirft es in den noch leeren Mülleimer. Er geht ins Schlafzimmer, ins Wohnzimmer und schliesst überall die Jalousien, reisst das Telefonkabel aus dem Anschluss und setzt sich im Schlafzimmer in eine verdunkelte Ecke. Er kauert sich ganz zusammen und bleibt dort sitzen. Um bereit zu werden für das neue Leben....