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Die letzte Meditation

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05.02.2006
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Die letzte Meditation

,„Du atmest gleichmäßig ein und aus ... du bist entspannt ... und du fühlst wie dein Körper langsam von dieser wunderbaren Ruhe, dieser wunderbaren Wärme erfüllt wird ... deine Gedanken schweben vorbei ... wie weiße Wolken an einem blauen Himmel ... du fühlst die Entspannung ... du fühlst die Ruhe ... du fühlst die Wärme ... und du fühlst dich gut ... löse deinen Geist und lass ihn schweben ... löse deinen Geist und schicke ihn auf eine Reise ... eine Reise durch dein Leben ...“

Die entzündeten Kerzen im großen, abgedunkelten Meditationsraum warfen ein warmes, angenehmes Licht auf die 14 Menschen. 13 von ihnen lagen ohne erkennbare Ordnung, scheinbar willkürlich verteilt, auf dem dunklen Teppichboden. Die meisten von ihnen hatten sich für die Rückenlage entschieden, einige wenige ruhten auf der Seite, eine etwas ältere Frau lag auf dem Bauch. Der 14. saß.

Er saß im Schneidersitz in ihrer Mitte und langweilte sich fürchterlich. Das war nun schon die 10. Meditation, die Renné in diesem Sommer für die VHS leitete. Wenn er alle bisher durchgeführten Meditationen der letzten 10 Jahre zusammenzählte, käme er mit Sicherheit auf 100 bis 150 Stück. Und immer liefen sie im Rahmen dieses Selbsterfahrungswochenendes für Erwachsene gleich ab. Immer liefen diese verdammten Wochenenden gleich ab.
Die wild zusammengewürfelten Gruppen aus 10 bis 15 Erwachsenen treffen sich in der Regel Freitags gegen 17 Uhr in diesem langweiligen, einsam gelegenen Tagungs- und Besinnungshaus mitten im Wald. Dann werden die Zimmer verteilt. Gegen 18 Uhr gibt es das erste Plenum im Kaminzimmer, wo den aufgeregten Teilnehmern das Programm für die drei Tage verkündet wird. Zusätzlich beschließt man einheitlich, dass sich für das ganze Wochenende nur geduzt wird. Nach dem Abendessen werden dann alle möglichen intelligenten oder weniger intelligenten Kennlernspiele und –aktionen durchgeführt, um dem Einzelindividuum die Möglichkeit zu geben, sich in der Gruppe wohl und geborgen zu fühlen. Anschließend sitzt man stundenlang bei Wein und Bier entweder vorm flackernden Kaminfeuer oder auf der überdachten Außenterrasse, um sich einem Wildfremden gegenüber mal so richtig zu öffnen.

Am zweiten Tag geht`s dann ans Eingemachte. Morgens geht’s mit der Gruppe in einen Hochseilgarten, wo die Erwachsenen gezwungen werden, sich gegenseitig blind und bedingungslos zu vertrauen. Sie klettern dann in schwindelerregenden Höhen auf Bäumen oder Hängebrücken herum und wissen genau, dass sie durch den schwächlichen Kamin-Gesprächspartner vom Vorabend, dem mit der schwierigen Midlife-Crise, gesichert werden.
Nachmittags greifen sich die Teilnehmer dann verschiedene Situationen ihres Lebens und bearbeiten sie in irgendeiner pseudo-künstlerischen Form. Die einen formen Statuen oder Masken aus Ton, andere malen Bilder und wieder andere schreiben sich selbst stundenlang Briefe, die sie dann in einer heiligen Zeremonie im Kamin verbrennen.
Am Abend wird meistens mit allen zusammen gegrillt. Das lässt aus der Leidensgemeinschaft schnell eine Partygemeinschaft werden, hat jedoch den tieferen Sinn, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl noch weiter gesteigert wird. Das ist auch wichtig, denn später am Abend, wenn so ziemlich jeder bei sich oder einem Mitteilnehmer angekommen ist, gibt’s dann die große Krönung. Die berühmte Gruppenmeditation.
Diese Aktion, eine billige Mischung aus Ansätzen des autogenen Trainings und Elementen von Fantasiereisen aus dem Lehrplan der Primarstufe, soll die Teilnehmer endgültig zu sich selbst führen. Zur einschläfernden Musik schickt der Leiter die erwartungsfrohen Menschen erst einmal kreuz und quer durch den eigenen Körper und schließlich kreuz und quer durch die eigene Seele.
Die Teilnehmer berichten anschließend immer gerührt und ergriffen von ihren Erlebnissen während der Traumreise; doch Renné hatte mit der Zeit gelernt, dass das meiste von dem Vorgetragenen in der Regel absoluter Quatsch und Müll war. Die, die wirklich etwas erlebt, etwas gesehen, etwas gespürt hatten, hielten fast immer ihren Mund. Ein Phänomen, für das Renné äußerst dankbar war, denn er hasste nichts so sehr wie wahre, echte Gefühle, für die er in irgendeiner Form verantwortlich war und auf die er dann auch noch reagieren musste.
Nach der Meditation sitzt man wieder stundenlang bei Wein und Bier vor dem Kamin oder auf der Terrasse zusammen, um dann irgendwann im Bett und am nächsten Morgen, nach einer tränenreichen Schlussreflexion und Verabschiedung, im Auto zu verschwinden.

Der 33-jährige Renné hasste diese Selbsterfahrungs-Fuzzis aber er liebte diese Wochenenden. Zum einen brachten sie ihm gutes Geld ein, welches er als Zubrot zu seinem Gehalt als Schreinergeselle für sich und seine Familie gut gebrauchen konnte. Zum anderen gaben sie ihm die Möglichkeit, zumindest während der Sommermonate, Renné führte diese Veranstaltungen nur und ausschließlich während der warmen Monate durch, mal wieder ein reges, ausgeglichenes Sexualleben zu führen.
Er leitete die Selbstwahrnehmungskurse nun schon im dritten Jahr hintereinander gemeinsam mit Jasmin, einer etwa acht Jahre jüngeren Pädagogik-Studentin aus seiner Heimatstadt. Sie sahen sich oft den ganzen Herbst, Winter und Frühling nicht ein einziges Mal. Absprachen bezüglich Vorbereitung und Durchführung der Seminare fanden ausschließlich am Telefon statt. Doch wenn sie sich dann nach so vielen Monaten an ihrem ersten Wochenende des Jahres trafen, fielen sie sofort wie ausgehungerte Tiere übereinander her. Das ging nun schon seit ihrer ersten gemeinsamen Veranstaltung so, und dass Renné eine Frau und zwei kleine Söhne zu Hause hatte, interessierte beide herzlich wenig. Nicht dass Renné seine Familie daheim nicht liebte; er konnte halt nur den Reizen, die von dieser lebenslustigen, wilden Jasmin ausgingen, nicht widerstehen. Und er wollte es auch gar nicht. Er redete sich dann ständig ein, dass er dieses untreue Verhalten ja nur im Sommer an den Tag legte und dass er seiner Familie dadurch ja nicht wirklich schaden würde und dass die ganze Sache ja auch nur sexueller Natur war. Intellektuell und geistig stimulierte Sexy-Jasmin ihn in keiner Weise.

Die Musik tönte ruhig und leise aus den Lautsprechern der kleinen Stereoanlage. Renné konnte Lautstärke und Titel mit einer Fernbedienung steuern. So musste er nicht ständig zwischen den liegenden Personen hindurch laufen.
Draußen war es bereits vollständig dunkel geworden, so dass kein Licht mehr durch die Vorhänge des Meditationsraumes fiel. Die Leuchtzeiger seiner Uhr signalisierten ihm, dass es kurz vor 23 Uhr war. Er musste an Jasmin denken, die sicherlich schon alle Überbleibsel des Grillfestes weggeräumt und gespült hatte. Jasmin hatte noch nie an einer seiner Meditationen teilgenommen. Und das war auch gut so. Er hatte nicht die geringste Lust, sich mit ihr über Fantasiereisen, innere Selbstfindung und wahre Gefühle zu unterhalten. Wenn er ehrlich war, wollte er eigentlich überhaupt nicht mit ihr reden.
Bei dem Gedanken an die vor ihm liegende Nacht musste er unwillkürlich grinsen. Meine Güte, dachte er, diese Frau ist im Bett schon der Hammer. Und nicht nur im Bett.

Die kleinen Flammen tanzten stetig vor sich hin. Im Raum roch es nach einer penetranten Mischung aus Duftkerzen und Schweißfüßen. Die 13 Teilnehmer befanden sich ruhig atmend in ihren Liegepositionen. Die Frau, die auf dem Bauch lag, hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sie kopierte förmlich die Sprungtechnik von Fallschirmspringern, die oft in einer ähnlichen Haltung durch die Luft schwebten, kurz bevor sich ihr Schirm öffnete. Er sah erneut auf die Uhr und wurde ungeduldig. Seine Beine waren ihm eingeschlafen und die Musik, die er nun schon zum zigsten Mal hörte, ging ihm gehörig auf die Nerven. Kurz überlegte er, ob er sie einfach mit der Fernbedienung weiterzappen sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Eine der wichtigsten Regeln für Meditationsleiter bestand darin, den natürlichen, fließenden Lauf der Musik während einer Ruhephase nicht abrupt zu unterbrechen. Das könnte bei den Teilnehmern zu Unsicherheiten und sogar zu unbewussten Schockerlebnissen führen.
Vorsichtig streckte er seine Beine von sich. Er wollte gerade herzhaft gähnen, als er plötzlich erschrak. Er hatte etwas aus dem Augenwinkel heraus bemerkt. Er schaute in die Ecke des Raumes, die am weitesten von ihm entfernt war. In die Ecke, in der sich ein älterer Mann mit grauem Bart niedergelassen hatte. Dieser lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, die Hände weilten gefaltet auf seinem Bauch.

Rennés Augen weiteten sich vor Schreck und Angst. Direkt über dem Körper des alten Mannes sah er eine durchsichtige Lichtspiegelung, eine Art schwirrenden Schatten, der sich wie dünner Nebel im Wind hin und her bewegte. Mal schimmerte dieser Nebel wie Glitzerkonfetti, mal wie blaues Eis. Und dann bewegte sich die Erscheinung weg von dem alten Mann. Sie erhob sich in Richtung Fenster, verharrte einige Sekunden vor den zugezogenen Vorhängen und war urplötzlich verschwunden.

Renné begann zu zittern. Seine Augen wanderten unruhig im Raum umher, während er sich auf die Lippen biss.
Ich muss mich getäuscht haben, dachte er zweifelnd. Das kann doch überhaupt nicht sein.
Er zwang sich erneut, den Blick auf den alten Mann in der Ecke zu richten und erkannte, dass dieser noch immer ruhig atmend auf dem Boden lag. Renné war es, als spielte ein zartes Lächeln um die dünnen Lippen des Mannes.

Ich hab´ die Schnauze voll, dachte Renné. Ich beende. Die Bekloppten waren lange genug unterwegs.

Er drückte einen Knopf an der Fernbedienung und die Musik wurde leiser. Dann richtete er sich ein wenig auf und erhob die Stimme:

„Und nun kommst du langsam zurück ... du kommst zurück von einer langen ... schönen Reise ... das, was du gesehen hast ... das, was du erlebt hast ... gehört für immer dir .... es gehört zu dir ... komm´ jetzt langsam zurück ... zurück in dein Leben ... und jetzt sind wir wieder alle hier ... hier in diesem Raum ... hier in dieser Welt ...und wenn ich langsam von Drei bis Null rückwärts gezählt habe, bist du wieder in deinem Körper ... und du fühlst dich ausgeruht und entspannt ... drei ... zwei ... eins ... null.“

Die Kerzen begannen unruhig zu flackern, als sich die ersten Teilnehmer langsam und scheinbar vorsichtig bewegten. Da reckte sich ein Mann, dort hustete eine Frau. Einige winkelten die Beine an und andere massierten ihre Glieder. Nach und nach kehrte das sichtbare Leben zurück in den dämmrigen Raum. Nur der ältere Mann in der Ecke schien keine Regung zu zeigen. Renné beobachtete ihn aufmerksam, während überall erste zaghafte Gespräche begannen. Und plötzlich war es wieder da. Unbemerkt von den übrigen Teilnehmern schwebte es zum Fenster hinein, verweilte kurz schimmernd zwischen den Vorhängen und senkte sich dann wie ein sichtbarer Hauch von Nichts über den Körper des Mannes.
Und wieder fuhr Renné der Anblick dieser leuchtenden Wolke durch Mark und Bein. Er musste sich stark zusammenreißen, um nicht laut aufzustöhnen.
Das muss eine Art Sinnestäuschung sein, versuchte er sich zu beruhigen, eine Art Lichtspiegelung, ausgelöst durch die Schatten und Strahlen der Kerzen. Er merkte nicht, dass er sich die Unterlippe blutig gebissen hatte.

Der alte Mann bewegte sich und während das Gemurmel und Getuschel der übrigen Teilnehmer links und rechts von ihm lauter wurde, richtete er sich langsam auf. Renné blickte ihm direkt ins Gesicht und sah, dass es nass von Tränen war. Die Augen des Mannes wirkten unsagbar traurig und verzweifelt.

Die anschließende Gesprächsrunde entwickelte sich wie immer. Die Teilnehmer hockten in einem engen Kreis zusammen und berichteten von ihren Erfahrungen und Gefühlen. Wieder einmal hatten die Kühnsten von ihnen sämtliche Länder, Kontinente und Planeten im Geiste bereist und eine Frau mittleren Alters behauptete sogar allen Ernstes, sie wäre Gott leibhaftig begegnet.
Diesmal war es nur eine Person, die nichts über ihre Eindrücke sagen wollte, so dass die Reflexion länger dauerte als sonst. Aber vielleicht kam sie Renné auch nur länger vor, da alles in ihm danach drängte, aus diesem Raum zu fliehen. Er hörte den letzten Rednern kaum noch zu und nickte nur dann und wann verständnisvoll in die Runde.
Der ältere Mann hatte sich nicht in den Kreis der Teilnehmer einfügen wollen. Er saß schweigend an seinem Platz und starrte ins Leere.

Als Renné zusammen mit allen anderen gegen 23.40 Uhr den Meditationsraum verließ, empfing ihn Jasmin schon ungeduldig in der Küche des Tagungshauses. Sie hockte keck auf einer Anrichte und nippte an einem Glas Rotwein.
„Was habt ihr denn so lange gemacht ?“, fuhr es verständnislos aus ihr heraus. „Habt ihr da ´ne Orgie gefeiert, oder was?“
Renné war alles andere als zum Scherzen zumute. Er ging zum Kühlschrank, griff sich eine Flasche Bier, öffnete sie mit seinem Feuerzeug und leerte sie in einem Zug bis zur Hälfte. Anschließend zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
Er lehnte sich erschöpft gegen die Kante der Arbeitsplatte.
„Frag´ nicht“, schnaufte er. „Dann muss ich auch nicht lügen.“
Jasmin kam auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. Er konnte ihr blumiges Parfum riechen, doch heute empfand er es überhaupt nicht als erregend. Im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, Jasmin nach dieser Meditation nicht ertragen zu können. Der Anblick der geheimnisvollen Erscheinung wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Noch immer fühlte er eine seltsame Art von Furcht in sich und seine Beine kamen ihm weich und zitterig vor.
Jasmin strich ihm mit zwei Fingern spielerisch über den Oberarm. Sie trug ein ziemlich enges Topp und ihre Brüste zeichneten sich deutlich sichtbar unter dem schwarzen Stoff ab.
„Ach, mein starker Tiger. War´s denn so anstrengend? Also, ich wüsste ja, wie ich dich ganz leicht auf andere Gedanken bringen könnte.“ Sie sah ihm tief in die Augen doch Renné schaute demonstrativ an ihr vorbei. In diesem Augenblick kam die Frau in die Küche, die während der Meditation angeblich ihrem Schöpfer begegnet war und strahlte die beiden selig an.
„Hallo ihr Lieben. Ich will ja nicht stören aber wisst ihr, wo der Korkenzieher ist. Wir wollen uns nach diesem emotionalen Erlebnis noch mit ein paar Leuten ein Weinchen gönnen und wir können den Öffner nicht finden.“
Jasmin trat einen Schritt von Renné weg und deutete auf einen Schrank.
„Ich hab´ ihn nach dem Grillen dort in die oberste Schublade gelegt, Renate. Und, wie fandest du die Meditation?“
Renate verdrehte die Augen und faltete die Hände vor ihrem gewaltigen Busen.
„Kindchen, ich sage nur eines: Gott lebt und er ist mitten unter uns. Ich bin ja so dankbar für das, was ich hier in diesen Tagen erleben durfte. Renné, Jasmin. Danke, Danke, Danke für alles. Eigentlich schade, dass ihr zwei kein Paar seid. Ich mein´ ja nur, ihr habt das Potential, Menschen wirklich glücklich zu machen.“
Mit diesen Worten schwebte sie zum angezeigten Schrank, fingerte umständlich den Korkenzieher heraus und verließ noch immer strahlend die Küche.
„Ihr habt das Potential, Menschen wirklich glücklich zu machen“, äffte Jasmin Renate nach. „Du als angeödeter Meister der Illusion und ich als Spülfrau. Na großartig!“
Sie trat wieder einen Schritt auf ihren heimlichen Liebhaber zu. Die beiden hatten es immer vermieden, vor den Augen der Teilnehmer miteinander zu flirten. Renné bestand darauf, dass sie ihre Liebschaft vor den Augen der Welt verheimlichten, denn er wollte nicht riskieren, dass seine Frau durch irgendwelche fremden Zungen von diesem delikaten Geheimnis erfuhr.
„Aber jetzt sag doch mal. Warum hat das da drinnen so lange gedauert? Ich hab´ dich schon richtig vermisst.“ Der letzte Satz war mehr gehaucht, denn gesprochen.

Renné zog erneut an der Zigarette und drückte Jasmin sanft aber bestimmt zur Seite.
„Keine Ahnung. Wollten halt alle noch irgendwas erzählen. Ich hab´ Kopfschmerzen. Ich geh´ ins Bett. Setzt du dich noch ein bisschen zu den Teilnehmern? Ich glaub´, die sind alle auf der Terrasse.“
Renné leerte seine Flasche und stellte sie auf die Spüle. Die Zigarettenkippe drückte er im Siffon des Waschbeckens aus und warf sie in den Biomüll. Dann drehte er sich noch einmal zu Jasmin um.
„Sei mir nicht böse, aber ich bin ziemlich alle. Ich sag´ den Leuten noch eben Gute Nacht und dann bin ich weg.“ Er nickte seiner verblüfften Affäre kurz zu und war auch schon verschwunden.

Renné saß im Dunkeln am offenen Fenster und rauchte seine vierte Zigarette in Folge. Die innere Unruhe wollte und wollte nicht vergehen. Immer wieder sah er diesen leuchtenden Nebel vor sich, wie er den Körper des alten Mannes verlassen hatte und schließlich zu ihm zurückgekehrt war. Jasmin war ihm völlig egal. Er hatte nicht die Lust verspürt, die Nacht mit ihr zu verbringen und schon gar nicht hatte er das Bedürfnis gehabt, ihr von seiner Beobachtung zu berichten. Sollte sie doch sauer und enttäuscht sein; morgen früh wäre sie sicherlich wieder die Alte.
Er schnippte die letzte Kippe aus dem Fenster und legte sich ins Bett. Die Leuchtziffern seines elektrischen Reiseweckers zeigten ihm an, dass es bereits 0.30 Uhr war. Er zog die Decke bis über seinen Kopf und rollte sich in Embryonalhaltung zusammen.

Irgend etwas hatte ihn geweckt. Er saß innerhalb einer halben Sekunde aufrecht im Bett und lauschte. Im Haus war es still. Von draußen kamen Wind und Waldgeräusche zu ihm herein. Er sah auf den Wecker: 2.46 Uhr.
Und dann hörte er es. Da klopfte jemand leise an seine Tür. Das Herz schlug ihm vor Aufregung und Angst bis zum Hals, und er wollte sich am liebsten wieder unter seiner Decke verstecken. Doch dann überfiel ihn die Wut: Jasmin! Sie wollte sich anscheinend nicht geschlagen geben und einen letzten Annäherungsversuch bei ihm starten. Wahrscheinlich hatte sie bis jetzt mit den letzten Teilnehmern unten auf der Terrasse Wein getrunken und stand jetzt angetrunken vor seiner Tür.
Ich tu´ einfach so, als würde ich schlafen, dachte Renné. Dann haut sie schon wieder ab. Doch sie ließ sich allem Anschein nach nicht entmutigen, denn abermals ertönte dieses zaghafte Klopfen. Renné fluchte innerlich, schlug die Bettdecke zur Seite, schaltete die Nachttischlampe an und ging zur Tür. Er drehte den Schlüssel und öffnete. Er wollte gerade zu einer Strafpredigt ansetzen, als er mitten im ersten Wort inne hielt. Vor ihm stand nicht Jasmin; vor ihm stand der alte Mann.

Dieser wirkte schüchtern und unsicher und traute sich kaum, Renné ins Gesicht zu blicken. Auch Renné war vor Schreck kaum in der Lage, etwas zu sagen. Er brachte nur ein krächzendes „Ja bitte?“ hervor.
Der Mann sah ihn jetzt direkt an.
„Entschuldige die Störung, Renné. Das Ganze ist mir furchtbar unangenehm.“
Während der Mann sprach wurde Renné klar, dass er die Stimme des Alten in den letzten zwei Tagen kaum gehört hatte. Überhaupt hatte sich dieser Teilnehmer während der ganzen Zeit auffällig zurückgehalten. Renné öffnete die Tür ein wenig weiter und wartete.
„Was kann ich für dich tun?“
Der Mann verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und richtete seinen Blick wieder zu Boden.
„Nicht hier zwischen Tür und Angel, bitte.“
Renné runzelte die Stirn.
„Na gut, dann komm rein. Ich muss mir nur eben ´was anziehen.“ Mit diesen Worten ging Renné zurück zum Bett, setzte sich auf die Kante und griff nach Jeans und T-Shirt, die vor ihm auf dem Boden lagen. Der Alte betrat den Raum, schloss die Tür und setzte sich schüchtern auf den einzigen Stuhl.
Renné blieb auf dem Bett sitzen, die Wand hinter sich im Rücken.

„Also, wie kann ich dir behilflich sein?“ Beim Anblick des alten Mannes schossen ihm wieder die Bilder durch den Kopf, die sich während der Meditation unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatten. Zugleich fühlte er die Angst zurückkommen. Er begann erneut damit, an seiner Unterlippe zu kauen.
Der Alte räusperte sich und starrte vor sich auf seine Hände.
„Wie gesagt; das Ganze ist mir furchtbar unangenehm. Ich habe auch lange darüber nachgedacht, ob ich überhaupt zu dir kommen sollte. Es ist nur, ... es geht mir nicht so gut.“
Renné sah den Mann erstaunt an.
„Es geht dir nicht gut? Bist du krank? Brauchst du einen Arzt?“
„Nein, nein. Ein Arzt kann mir sicherlich nicht helfen. Nein, ich bin einfach nur ... so verzweifelt.“
Und dann brach es aus dem alten Mann heraus. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und begann heftig zu schluchzen. Seine hageren Schultern zuckten unter dem Weinkrampf und Renné fühlte sich plötzlich sehr hilflos.
Langsam stand er vom Bett auf und trat auf den Alten zu. Er kniete sich vor dem Mann auf den Boden und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Und in dieser Haltung, in dieser Geste verharrte er einige Minuten. Irgendwann hatte sich der alte Mann wieder gefangen.

„Es tut mir Leid, dass ich dich hier so belästige, doch ich wusste mir keinen anderen Rat. Das Ganze eben, im Meditationsraum, war einfach zu intensiv und zu überraschend.“
Renné erhob sich und ging langsam zurück zum Bett. Die Spannung, die sich in ihm aufgebaut hatte, war kaum noch zu ertragen. Dennoch bemühte er sich, nach außen hin ruhig zu bleiben.
„Erzähl´ einfach. Was ist los?“

„Meine Ursula war lange krank und vor vier Wochen ist sie dann von mir gegangen. Ich hatte sie nach Hause geholt, weil sie doch nicht im Krankenhaus sterben wollte. Alle ihre Freunde und Bekannte waren noch einmal da, um sich zu verabschieden. Das ganze Schlafzimmer war voller Blumen und in dem Moment, als es vorbei war, schien die Sonne durch´s Fenster. Ich hatte bis zuletzt ihre Hand gehalten und irgendwann ist sie einfach eingeschlafen. Sie hat ganz friedlich ausgesehen. Und wunderschön war sie. So wunderschön. Wir waren 35 Jahre verheiratet gewesen und am Ende war sie so schön wie an dem Tag, an dem wir uns kennen gelernt hatten. Ich habe dann noch zwei Stunden bei ihr gesessen und mich dann von ihr verabschiedet. Wir haben keine Kinder, hatten immer nur uns. Und jetzt ist sie fort. Nun ist sie gegangen und hat mich einfach hier gelassen.“

Wieder schossen dem alten Mann die Tränen in die Augen und wieder zuckten seine schmalen Schultern. Renné ließ ihn. Er saß betroffen auf dem Bett und hatte das Gefühl, sich nicht bewegen zu können.
Es war nie sein Ding gewesen, sich wirklich für die Lebensgeschichten und Schicksale anderer Menschen zu interessieren. Er hatte zwar die Fähigkeit, Leuten, insbesondere Teilnehmern von Wochenendworkshops, durch scheinbar teilnahmsvolles Zuhören genau das Gegenteil zu vermitteln, wenn er jedoch ehrlich zu sich selbst war, berührten ihn diese gefühlvollen und intimen Geständnisse und Berichte nicht die Bohne. Doch jetzt war es plötzlich anders. Renné fühlte sich mit diesem Mann auf sonderbare Weise verbunden. Er hatte eine ähnliche Situation noch nicht erlebt und er fühlte sich klein und machtlos. Und genau deshalb konnte er nichts anderes tun, als schweigend auf seinem Bett zu sitzen und betreten seinen Kopf zu senken. Dann blickte der Mann wieder auf.

„Ursula und ich hatten uns vor einem halben Jahr schon hier angemeldet. Sie machte so was gerne. Sie war experimentierfreudig, liebte das Leben und die Gesellschaft anderer Leute. Ich mag nicht so gerne unter Menschen sein. Ich war am liebsten immer alleine mit Ursula. Doch ihr zu Liebe habe ich dem hier zugestimmt. Und dann wurde sie auf einmal so schrecklich krank und dann kam alles ganz schnell. Ein Bekannter hatte gemeint, dass es mir vielleicht gut tun würde, wenn ich an dieser Sache hier teilnähme. Dass es mich ablenken würde, meinte er. Und dass Ursula nicht gewollt hätte, dass ich mich im Haus verstecke. Und da bin ich halt mitgefahren.“
Er holte ein Taschentuch aus seiner Hemdtasche und putzte sich die Nase.

„Und dann kam das mit der Meditation eben. Ich hab´ so was ja noch nie gemacht. Hielt das immer für Unfug. Für Tünneff. Doch es war ganz anders als erwartet. Es war wunderschön. Ich habe mich frei und friedlich gefühlt und bin irgendwie ... geschwebt. Und dann habe ich auf einmal Ursula gesehen. Sie stand am Ufer eines Sees und ich bin mit einem Ruderboot auf sie zugefahren. Um mich herum nur Wasser und sie dort am Ufer. Sie kam immer näher und näher und hat ihre Hände nach mir ausgestreckt und gewunken. Sie hat gelächelt und war so schön wie am ersten Tag und ein tiefes, tiefes Glücksgefühl durchströmte mich.
Und plötzlich war das Bild verschwunden und alles war fort und ich war wieder bei den anderen in dem Raum. Und alles war vorbei ... und dabei hätte ich sie doch so gerne noch mal in die Arme genommen. Sie noch einmal gedrückt und an ihrem schönen Haar gerochen. Nur einmal noch, nur ein einziges Mal noch. Zum Abschied. Aber da war schon alles vorbei.“

Renné starrte den Mann ungläubig an. Er wusste, dass Meditationsteilnehmer immer wieder intensive Erfahrungen während der geleiteten Fantasiereisen machten, doch noch nie war ihm die Bedeutung, die dieser so lässig runtergeleierte Programmpunkt für einige Menschen zu haben schien, so klar und deutlich geworden.
Er selbst hatte sich nie auf derartige Übungen einlassen können; vielleicht war das auch ein Grund dafür, dass er die Berichte und Erlebnisse von Teilnehmern im Nachhinein immer belächelt und als Spinnerei abgetan hatte.
Der Alte richtete sich auf seinem Stuhl ein wenig auf.
„Renné. Ich brauche deine Hilfe.“
Der Angesprochene räusperte sich verlegen und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Alles in ihm schrie nach einer Zigarette.
„Was kann ich tun? Wie könnte ich dir schon helfen ?“

Und urplötzlich wusste er die Antwort auf seine Frage. Er wusste sie noch bevor der alte, traurige Mann etwas gesagt hatte.
„Ich bitte dich, mit mir die Meditation noch einmal zu machen!“


Renné hatte diesmal nur eine Kerze angezündet. Der geräumige Meditationsraum wirkte durch diese spärliche Beleuchtung noch größer und geheimnisvoller. Die Vorhänge waren zur Seite gezogen und Renné konnte das schwache Licht einiger weniger Sterne durch die Fenster sehen.

Nachdem der alte Mann seine Bitte geäußert hatte, hatte Renné sofort verneint. Er meinte, dass könne er nicht machen und dass die Musik die anderen Teilnehmer stören würde und so weiter. Aber in Wirklichkeit hatte ihn ein Gefühl der Panik überfallen. Wieder sah er diesen leuchtenden Nebel vor seinem inneren Auge und er hatte das Gefühl, nicht frei atmen zu können.
Sein nächtlicher Besucher hatte daraufhin nichts gesagt. Er hatte nur traurig genickt und war langsam aufgestanden und zur Tür gegangen. In diesem Moment durchfuhr Renné ein überwältigendes Gefühl der Nähe und Wärme. Er hatte dieses intensive Gefühl erst einmal in seinem Leben erlebt; nämlich in der Nacht, in der seine beiden Söhne, die Zwillinge, zur Welt kamen und er sie das erste Mal auf dem Arm halten durfte.

Der alte Mann saß wieder in seiner Ecke. Renné kniete etwa fünf Meter von ihm entfernt in der Mitte des Raumes. Er hatte die CD eingelegt, die Anlage überprüft und die Fernbedienung an sich genommen. Er betrachtete den Alten und wurde sich in diesem Moment bewusst, wie grotesk und unwirklich die ganze Situation war.
„Ich habe so etwas noch nie gemacht; ich mein´ , so zu zweit, mitten in der Nacht.“
Der Mann sah ihn lächelnd an und murmelte leise:
„Ich auch nicht.“
Renné nickte: „Ich habe ein wenig Angst. Komisch was?“
„Ich habe sehr viel Angst“, meinte der Alte, „und ich finde das gar nicht komisch.“

Renné spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, dem Mann von seinen Beobachtungen während der letzten Meditation zu erzählen, doch im letzten Moment hielt er sich zurück. Er sagte stattdessen:
„Nun gut, wollen wir beginnen? Wir haben es jetzt halb vier. Lange ist es draußen nicht mehr dunkel.“
„Von mir aus kann es losgehen.“ Der Alte legte sich auf den Rücken und bettete die gefalteten Hände auf seinen Bauch.
„Renné ? Ich wollte dir noch danken. Du bist ein guter Mensch. Deine Frau und deine Söhne müssen sehr stolz auf dich sein.“
Ohne dass er es verhindern konnte, schossen Renné die Tränen in die Augen. Konnte seine Familie bei seinen ganzen Lügen und Betrügereien wirklich stolz auf ihn sein? Wohl kaum. Er selbst war es zumindest nicht.
„Ich danke dir, Karl. Ich wünsche dir viel Glück.“

Die Musik schien direkt aus dem Himmel zu kommen und Renné fühlte sich auf einmal so ruhig und sicher wie schon lange nicht mehr. Die Worte glitten wie Träume aus seinem Mund und lange Schatten tanzten im Takt der Melodien.
Renné saß in der Mitte des Raumes und hielt seine Augen fest geschlossen. Irgendwann öffnete er sie und schaute in Karls Richtung. Und ohne zu erschrecken, ohne Angst und ohne Grauen sah er; diesen geisterhaften, schwach leuchtenden Nebel, diese schimmernde, leicht glitzernde Erscheinung direkt über dem Körper des alten Mannes schweben. Und Renné lächelte und nickte diesem Lichthauch freundlich zu. Dann erhob sich die Erscheinung. Sie schwebte ruhig zum Fenster und war einen Augenblick später verschwunden. Renné verharrte noch ein paar Minuten reglos an seinem Platz.
Dann stand er auf und warf einen letzten Blick auf Karl. Wieder lag ein feines Lächeln in dessen Gesicht.

Als Renné den Wagen startete war es zehn nach fünf. Der Horizont begann langsam zu glühen. Der Tag kündigte sich zaghaft und selbstbewusst zugleich an. Wenn er sich beeilte, konnte er um halb sechs zu Hause, bei seinen Lieben sein. Dann hätte er noch zwei Stunden mit ihnen, bis er wieder zurück müsste. Zwei Stunden, in denen er ihnen wahrscheinlich nur beim Schlafen zusah.
Er schaltete das Radio an, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und gab Gas. Und während er dem aufkeimenden Morgen entgegen raste, dachte er an Karl.

Die Ruder glitten sanft und lautlos durch das Wasser. Er wunderte sich, wie leicht es war, dieses Boot über den See zu steuern. Die Luft war klar und frisch und er kam dem Ufer immer näher. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, denn er hatte sie natürlich schon längst gesehen. Wie schön sie war. Wie schön. Wie an dem Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten.
Die Morgensonne tauchte die Berge, das Tal und den See in leuchtendes Rot. Karl blickte zu seiner Frau und Freudentränen liefen ihm übers Gesicht. Dann lief das Boot knirschend auf Sand und Karl erhob sich. Er verharrte noch einmal für einen Moment und ließ seinen Blick ein letztes, ein allerletztes Mal über den hinter ihm liegenden See wandern. Dann stieg er aus dem wackeligen Boot und trat an den Strand. Seine Frau kam wie ein Engel auf ihn zu, breitete die Arme auseinander und weinte vor Glück. Und Karl war daheim.

E N D E
(Artsneurosia)

 

Hallo Artsneurosia.

14 Menschen
Zahlen kannst du in Kurzgeschichten getrost ausschreiben, das liest sich besser.

treffen sich in der Regel Freitags
Hier bist du in eine andere Zeitform gesprungen. Bleib doch in der Vergangenheit.

Kennlernspiele
Ich fände 'Kennenlernspiele' besser. Man lernt sich doch kennen, und nicht kenn. ;)

Einzelindividuum
Damit sagst du zweimal das Gleiche. Individuen sind doch schon einzeln.

Am zweiten Tag
:thumbsup: dafür, dass du nicht 'Am 2. Tag' geschrieben hast. ;)

Außerdem muss ich sagen, dass die Art, wie du den Anfang darstellst, mich an eine Satire erinnert.

Primarstufe
Heißt es nicht 'Primärstufe'?

Der 33-jährige Renné
So schreibt man in Zeitungsartikeln.

hasste diese Selbsterfahrungs-Fuzzis, aber er liebte

dunkel geworden, so dass kein Licht
sodass

Er wollte gerade herzhaft gähnen, als er plötzlich erschrak. Er hatte etwas aus dem Augenwinkel heraus bemerkt. Er schaute
Unschöne Wortwiederholung: Er, er, er ...

Ab da wurde es spannend. :D

Er hatte eine ähnliche Situation noch nicht erlebt und er fühlte sich klein und machtlos.
Ich muss, sagen, dass ich mich beim Lesen ähnlich fühlte. Ich hatte Mitleid mit dem Mann, der da in Tränen ausbrach, habe mich aber gleichzeitig hilflos gefühlt.
Wahrscheinlich lag das daran, dass ich gut in die Geschichte eintauchen konnte, weil gerade dieser Teil doch recht authentisch wirkte.

Tünneff
Tinnef, ich habe extra nachgeschaut.

schon helfen ?“
Das Leerzeichen da kommt weg. Der Fehler taucht danach noch ein zweites Mal auf.

„Ich habe so etwas noch nie gemacht; ich mein´ , so zu zweit, mitten in der Nacht.“
Der Mann sah ihn lächelnd an und murmelte leise:
„Ich auch nicht.“
Renné nickte: „Ich habe ein wenig Angst. Komisch was?“
„Ich habe sehr viel Angst“, meinte der Alte, „und ich finde das gar nicht komisch.“
Hier habe ich ein bisschen geschmunzelt. Wegen diesem Kontrast, in den Aussagen der beiden.

Außerdem fand ich den Text wegen den Absätzen sehr übersichtlich zu lesen, und beim Zurückscrollen fand ich auch die Stellen leichter wieder. Ein wenig habe ich noch darauf gelauert, dass der Absatz einmal nicht passt, aber so eine Stelle ist mir nicht aufgefallen.
Das Ende gefiel mir. Es hat nicht kitschig gewirkt oder so, sondern war schön und auch so, wie ich erwartet hatte. Allerdings könntest du den letzten Absatz ebenfalls durch zwei Zeilen abtrennen, damit der Übergang zwischen den beiden Erzählperspektiven deutlicher wird.
Das 'E N D E' schließlich muss nicht sein, denn das ist auch so deutlich.

Ich fand auch diese beiden Handlungsstränge gut: Einmal den Teil mit den Meditationen und dem alten Mann, und dann die Geschichte über die Affäre des Protagonisten. Letzteres hättest du sogar noch etwas ausbauen können, damit die Entwicklung, die da besteht, deutlicher wird.

Und ich finde es wirklich schade, dass vorher noch keiner deine Geschichte gelesen hat, weil sie so lang ist. Mir gefällt sie doch recht gut, und es war trotz der Länge nichts Überflüssiges darin.

Viele Grüße von Jellyfish

 

Hallo Artsneurosia,

eine schöne, nachdenklich stimmende Geschichte. Der routinierte, zynische, abgebrühte Renné stellt sich im Angesicht des - hm- Übernatürlichen, Jenseits, Todes einige Fragen. Was ist mir wirklich wichtig? Was mache ich mit meiner endlichen Zeit? Muss der ganze Blödsinn, den ich jeden Tag mache, eigentlich sein?

Die Geschichte besteht aus dem Aufmacher Gruppenmeditation, und dann einer langen - hm - Abschweifung, die den Ablauf von Selbsterfahrungswochenenden beschreibt, und dann der Nacht nach der Gruppenmeditation.

Die Abschweifung zu Selbsterfahrungswochenenden finde ich zwar etwas lang, aber trotzdem gut gemacht. Das ist eins von diesen Settings, bei denen die meisten (zB ich) neugierig werden und wissen möchten, wie es dort eigentlich zugeht, so was aber nicht aus eigener Erfahrung kennen. Außerdem kommt hier durch die Formulierungen („und wissen genau, dass sie durch den schwächlichen Kamin-Gesprächspartner vom Vorabend, dem mit der schwierigen Midlife-Crise, gesichert werden“, „verschiedene Situationen ihres Lebens und bearbeiten sie in irgendeiner pseudo-künstlerischen Form“) auch Rennés Haltung gegenüber solchen Wochenenden raus.

Die Erzählweise finde ich modern, nüchtern, etwas zynisch, realistisch, nicht kitschig. Sehr passend zu Renné. Gut finde ich auch die paar sanften Beunruhigungs- und Schockeffekte, zB wenn Renné den Lichtschein über dem alten Mann entdeckt, und dann „Er merkte nicht, dass er sich die Unterlippe blutig gebissen hatte.“.

Durch die großzügige Ausstattung der Geschichte mit Beschreibungen sind die Handlungen der Figuren glaubwürdig und begründet, sie werden mir nicht einfach vom Autor vorgesetzt. ZB wird an der folgenden Stelle

### In diesem Moment durchfuhr Renné ein überwältigendes Gefühl der Nähe und Wärme. Er hatte dieses intensive Gefühl erst einmal in seinem Leben erlebt; nämlich in der Nacht, in der seine beiden Söhne, die Zwillinge, zur Welt kamen und er sie das erste Mal auf dem Arm halten durfte.

das „überwältigende Gefühl der Nähe und Wärme“ gut beschrieben. Und natürlich bereitet das schon den Schluss vor, wenn Renné mit dem Auto abhaut.

Die folgenden beiden Abschnitte ab
### Der alte Mann saß wieder in seiner Ecke.
mit Renné und dem alten Mann finde ich sehr gelungen. Durch die umfangreichen Vorarbeiten wirken sie nicht sentimental, sondern echt.

Irgendwelche Verbesserungsvorschläge?

Der Titel ist zwar im Nachhinein sehr treffend und passt auch zum Sprachstil der Geschichte, aber ich finde, er lädt nicht unbedingt zum Lesen ein.

Ansonsten sind mir keine Einzelheiten aufgefallen, die man unbedingt verbessern müsste.

Die Struktur der Geschichte im Großen geht meiner Ansicht nach auch in Ordnung.

Das ist zwar nicht der Typ von Geschichte, den ich verschlinge, aber sie ist technisch gut gemacht und hat mich - wie sagt man - berührt.

viele Grüße
jflipp

 

Hallo Artsneurosia.

Deine Geschichte hat mich langsam aber sicher in ihren Bann gezogen. Ich hatte richtig das Gefühl darin zu versinken und es hätte mich auch nicht gestört, wenn sie doppelt solang gewesen wäre. Dafür schon mal: top!:thumbsup:
Dass mit Rennés Affäre wirkte auf mich irgendwie unausgegoren. Das passte nicht so ganz und hatte am Schluss auch keine wirklich wichtige Bedeutung - naja, geschmackssache.

Auf jedenfall eine sehr schöne Idee und sehr angenehm zu lesen!


Gruß, scharker!

 

Weich, flüssig geschrieben, als wärest Du der Rene selbst! Das sind Geschichten, die ich mag, man ist die Taube auf dem Dach, die Maus in der Tasche, die alles aus einer anderen Perspektive mitbekommt! Sehr gut gelungen!

 

Vielen Dank

Hallo ihr lieben Vier
Ich veröffentliche jetzt seit einiger Zeit Geschichten in diesem Forum und habe mich durch Bemerkungen und Kritiken noch nie zuvor so ernst genommen gefühlt - dafür VIELEN DANK. Vielleicht ist mir eine positive Wirkung dieser Geschichte auch deshalb so wichtig, weil ich lange überlegt habe, ob ich sie überhaupt "veröffentlichen" soll, denn die Geschichte hat sich in Wirklichkeit, bis auf einige "Kleinigkeiten", genau so abgespielt. Und weil es eine meiner intimsten und ehrlichsten Geschichten ist, hatte ich wahrscheinlich so einen Bammel vor negativen Reaktionen.

Vielen Dank nochmals und Alles Gute.

Artsneurosia

 

Ich hatte Tränen in den Augen

Hallo Artsneurosia.
Ich mache es mal kurz: Ich hatte am Ende der Geschichte einen dicken Kloß im Hals. Du hast mich mit deiner Geschichte mehr als gerührt. Ich fand sie einfach nur wunderschön. Vielen Dank.

 

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