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Die letzte Lesung?
Die letzte Lesung?
Marc trat durch den Spalt der großen Eingangsflügel, verharrte dann seitlich im Schatten der dicken Mauern und sah sich um. Die späte Nachmittagssonne strahlte durch hohe, geschwungene Fenster in den kleinen Gemeindesaal und ließ die Täfelung an den Wänden golden und freundlich glänzen.
Vor den dunklen Vorhängen der Bühne wartete ein hölzernes Stehpult. Gepolsterte Stühle waren in Reihen zu Halbkreisen angeordnet. In der Mitte hatte man einen schmalen Durchgang freigelassen.
Die Lesung sollte erst am Abend beginnen. Bis dahin war noch etwas Zeit.
Zehn Autoren waren zum Abend der Kurzgeschichten geladen. In kleinen Gruppen standen sie und wohl noch einige ihrer Freunde beisammen und plauderten miteinander. Das Gemurmel trieb sachte durch den Raum, hin und wieder unterbrochen von herzlichem Lachen.
Wegen der umständlichen Anreise hatte Marc eigentlich nicht vorgehabt teilzunehmen, doch er war überredet worden. Befreundete Autoren meinten, es sei eine gute Gelegenheit, sich mal wieder zu treffen, und so hatte er doch zugesagt.
Eine Weile stand er unbemerkt da und ließ den Raum auf sich wirken, bis ihn eine Stimme aus den Gedanken riß: „Du bist spät. Ich dachte schon, du würdest nicht kommen.“ Hans war ein kleiner, dicklicher, sehr ernster Mann, der leise sprach und immer etwas melancholisch wirkte. Marc schätzte die sachlichen Diskussionen mit ihm. Hans schrieb überwiegend Kindergeschichten, obwohl er keine Kinder hatte und auch nicht verheiratet war.
„Was bleibt mir anderes übrig? Schließlich haben wir Verträge. Ich frage mich nur, warum sich der Veranstalter derart absichern wollte.“ Sie reichten einander die Hände und traten ein paar Schritte weiter in den Raum hinein.
Hans mußte grinsen, als er antwortete. „Der Veranstalter ist Buchhändler und wenn Du weißt, welche Bücher er verkauft, wirst du vielleicht verstehen, warum er das gemacht hat.“
Marc neigte konzentriert den Kopf und war auf Alles gefaßt.
„Er vertreibt okkulte Literatur,“ sagte Hans und wartete gespannt auf die Reaktion.
Marc war die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. „Was veranlaßt jemanden, der Bücher über Geister, Übersinnliches und geheimnisvolle Kräuermixturen verkauft, eine Lesung zu veranstalten, in der ganz normale Geschichten vorgetragen werden?“ Hans zuckte nur mit den Schultern. „Das würde mich auch interessieren. Bisher aber noch keiner den Veranstalter zu Gesicht bekommen.“
Nach und nach traten Andere zu ihnen und brachten sich in die Unterhaltung über die seltsamen Umstände der Lesung mit ein.
Auch Gabi war unter ihnen und Marc freute sich, sie zu sehen. Er hatte bereits einige von ihren erotischen Geschichten gelesen. Als sie sich damals kennenlernten, war er erstaunt gewesen, einer so bieder wirkenden Frau gegenüberzustehen. Gabi war blond, Ende Dreißig und Hausfrau. Sie war lebenslustig und immer zu Scherzen aufgelegt. Doch wenn die Sprache auf ihre Geschichten kam, schien es ihr peinlich zu sein. Erstaunlich genug, daß sie sich traute, sie öffentlich vorzutragen. Sie tat das aber immer mit sehr leiser Stimme und eigentlich auch wenig überzeugend. Marc mochte sie allein wegen ihrer liebenswürdigen Art.
„Ich fühle mich äußerst unwohl.“ Bei diesen Worten schaute sie sich um, als lauere irgendwo eine Gefahr. „Hätte ich mich bloß nicht auf diesen Vertrag eingelassen, dann könnte ich jetzt wieder gehen.“
Immer mehr Leute traten zu ihnen. Bald war eine rege Diskussion im Gange. Stimmengewirr erfüllte den Raum, Klirren von Tassen und Gläsern. Nur wenige lachten. Es herrschte eine sonderbare Stimmung.
Plötzlich verebbten die Gespräche. Nach und nach richteten sich alle Blicke auf den Eingang. Im Bogen der großen Türen stand ein Mann. Er stand still da, groß, hager, mit stechenden Augen. Seine Kleidung war wie seine langen Haare, die ihm fast bis auf die Schultern reichten, schwarz. Eine Weile verharrte er wortlos und sein Blick traf nacheinander jedes einzelne Gesicht der Umstehenden. Für einen Moment hatte Marc das Gefühl, als träfe heißer Stahl seine Seele.
Plötzlich veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln und sein Körper verlor die Anspannung. Auch die versammelten Autoren lösten sich aus ihrer Starre und bald fanden einige ihre Worte wieder.
Marc konnte den Druck nicht so schnell loswerden wie die anderen. Ihm war aufgefallen, daß sich die Veränderung des Mannes nicht auf seine Augen auswirkte. Trotz des Lächelns blieb der Blick fast beängstigend tief und kalt.
„Meine Damen und Herren,“ die Stimme war schneidend. Mit theatralisch ausbreiteten Armen trat der Mann auf die Gruppe zu: „Mein Name ist Kostol und ich möchte sie recht herzlich zu dieser Lesung begrüßen.“ Er ging reihum und reichte jedem die Hand. Marc hatte das Gefühl, als berühre er kaltes Eisen.
„Sie werden verstehen, daß ich Sie vertraglich binden mußte, denn ich war gezwungen, ein festes Programm zu entwickeln. Die Zusendung Ihrer Beiträge hat mir dabei sehr geholfen, so daß ich den genauen Ablauf dieser Lesung festlegen konnte.“ Er trat zu einem Tisch, der nahe dem Eingang stand. Unbemerkt mußte er dort eine Tasche abgelegt haben, der er nun einen Stapel Papiere entnahm, die er unter den Anwesenden verteilte. Es war das Programm, in dem die Beiträge nach ihrer Reihenfolge aufgeführt waren: Zehn Geschichten unterschiedlicher Länge. Das Erstaunliche war, daß der Veranstalter keine Pause vorgesehen hatte. Alles in Allem würde die Lesung wohl zwei Stunden dauern. Ohne Pause war das eine Zumutung für die Zuhörer.
Marc fand sich ganz am Ende dieser Liste wieder. Als er Kostol darauf ansprechen wollte, suchte er ihn vergebens. Kostols Stimme kam dann aus der Richtung, wo die kleine Kaffeebar angerichtet war. Aus einem Nebenraum hatte er ein Tablett geholt, auf dem gefüllte Gläser standen.
„In Kürze werden die ersten Gäste erscheinen, und ich möchte zuvor noch mit Ihnen auf das Gelingen dieser Lesung anstoßen.“ Bei diesen Worten ging er durch den Raum und jeder der Anwesenden nahm sich ein Glas. Als alle versorgt waren, stellte er das Tablett beiseite, und stieß mit jedem Einzelnen an.
„Auf ein gutes Gelingen und viel Erfolg für uns alle.“ Marc trank sein Glas nicht leer. Noch vor einer Stunde hatte er rasende Kopfschmerzen gehabt und mit Alkohol wollte er die Wirkung der Tabletten nicht ins Gegenteil verkehren.
Gleich drauf wurde es lebhafter in dem kleinen Saal. Erste Gäste wurden von Kostol begrüßt. So wie Kostol auf die Leute einging, schien er alle zu kennen. Niemanden begrüßte er wie einen Fremden. Nach und nach füllten sich die Stuhlreihen. Die lesenden Autoren hatten ganz vorne Platz genommen. Rechts von Marc saß Hans, der vor Aufregung schwitzte und sich ständig mit einem Tuch durchs Gesicht wischte. Zu seiner Linken hatte Gabi Platz genommen. Auch ihr war die Aufregung anzusehen. Sie hatte einen hochroten Kopf und preßte ihre Hände so fest aufeinander, daß die Knöchel weiß hervortraten.
Als Kostol endlich ans Rednerpult trat, verstummte das Raunen der Unterhaltungen und Stille kehrte ein.
Draußen war mittlerweile die Sonne untergegangen und die Fenster waren nur noch schwarze Spiegel. Kostol hatte im Saal für mäßige Beleuchtung gesorgt, wodurch der Schein der Leselampe am Pult seinem Gesicht einen gespenstischen Ausdruck gab.
Mark durchströmte ein seltsames Gefühl. Zum einen war es, wie wenn Alkohol seine Wirkung tut, was aber nicht sein konnte, denn er hatte das Glas nur gerade zur Hälfte geleert. Zum Anderen schlich sich ein Unbehagen ein, das Marc so noch nie gespürt hatte.
Kostols Stimme riß ihn aus den Gedanken. „Liebe Gäste, ich freue mich Sie begrüßen zu können.“ Er sprach mit gedämpfter, monotoner Stimme. „Sie werden heute Abend einem Ereignis beiwohnen, das Ihnen lange in Erinnerung bleiben wird. Wir haben Ihnen viel zu bieten, und darum bitte ich gleich den ersten Autor nach vorne.“
Kostol trat einen Schritt zurück und nickte einem jungen Mann zu, den Marc nicht kannte. Während der Lesende sich kurz sammelte, schritt Kostol durch den Mittelgang und setzte sich in die letzte Reihe.
Die Geschichte handelte von einem Liebespaar, das sich getrennt hatte und nach einigen Wirrungen letztlich doch wieder zusammenkam. Marc fand sie nicht schlecht, doch den Vortrag reichlich übertrieben. Der Autor hätte Schauspieler werden sollen, so wie ihn selbst die Freudentränen beim glücklichen Ende überkamen.
Der Beifall der Hörer war eher verhalten. Als Marc sich einmal umsah, hatte er den Eindruck, daß die Auswahl der Gäste eher zu einer Beerdigung paßte als zu einer Lesung. Er schaute in ausnahmslos ernste, unbewegte Gesichter. Der Blick einer alten Frau traf den Seinen und der flüchtige Eindruck einer liebenswürdigen Oma wurde durch die durchdringenden, stechenden Augen der Frau brutal zerstört. Eine Gänsehaut zog über seinen Rücken und er wandte sich schnell wieder um.
Marcs Kopfschmerzen waren zwar fast weg, aber das seltsame Gefühl schien stärker zu werden. Für einen Moment dachte er daran aufzustehen und etwas zu trinken, doch er ließ es dann bleiben. Er wäre aufgefallen und das wollte er auf keinen Fall.
Der nächste Leser brachte eine Geschichte über einen Nachbarschaftszwist zum Vortrag.
Auch dieser Autor war Marc unbekannt und ihn beschlich das Gefühl, daß es auch gut so war. Der Mann war groß, wohl Anfang Dreißig und zeigte das Gehabe eines korrekten Beamten. Was Marc aber schier abstieß, war die Intensität, mit der er in die Rolle seines Protagonisten schlüpfte. Er schien seine Geschichte nicht einfach nur zu lesen. Er erlebte sie. Als er beschrieb, wie der nachbarschaftliche Widersacher den Gartenzaun niederriß und seine Hauptfigur vor Zorn fast einen Herzinfarkt erlitt, griff auch der Autor sich kurz an die Brust, bis seine Erregung, sich durch einen Handlungsschwenk wieder legte.
Für Marc war es fast beängstigend, wie die Autoren ihre Geschichten lasen. Dies war für ihn neu und nicht unbedingt die Art, die er für angemessen hielt. Was ihn aber zusätzlich verwirrte war, daß er selbst auch mitfühlte.
Marc schaute sich erneut um: Unbewegte Gesichter. Der eine und andere Zuhörer sah sich zu Kostol um und Marc bemerkte wie sie einander bestätigend zunickten.
Was war hier los? Das war keine normale Lesung. Weder die Zuhörer noch die Autoren benahmen sich normal.
Das sonderbare Gefühl in Marc war stärker geworden. Ihm war nicht übel, aber er fühlte sich empfindsamer als sonst.
Als nächster war Hans an der Reihe.
Seine Geschichte handelte von einem kleinen Jungen, der unter der Scheidung seiner Eltern litt.
Hans weinte und schrie. Er stampfte mit den Füßen auf, gab sich verzweifelt und trotzig.
Wenn Marc sich bisher nur gewundert hatte, so beschlich ihn jetzt eine greifbare Angst. Das Schicksal des kleinen Jungen hatte Marc gerührt und er wischte sich Tränen aus den Augen. Hans hatte sich wieder gesetzt und Marc versuchte, ihn leise anzusprechen, doch er reagierte nicht. Völlig apathisch saß er da, mit starr nach vorn gerichtetem Blick.
Die weiteren Vorträge gestaltete sich ähnlich.
Dann war Gabi an der Reihe: Diese lebenslustige, sympathische Frau, Inbegriff einer Hausfrau und Mutter, die nur in ihren Geschichten die Freiheit beschrieb, die sie sich selbst nie gestatten würde. Gabi, für die im normalen Leben die Grenzen viel enger gesteckt waren, als bei so manch Anderem, verlor hier an diesem Abend vollkommen die Kontrolle über sich.
Sie war nicht mehr die Frau, die leise ihren Text las. Hier schlüpfte sie direkt in die Rolle ihrer Protagonistin, die sich hemmungslos dem Sex hingab.
Gabis Stimme hatte einen Klang angenommen, der vor Erotik vibrierte. Das Geschehen wurde nicht nur einfach von ihr gelesen, sie spürte die Handlung, sie lebte in der Rolle dieser Frau. Gabi war jetzt diese Frau. Sie hatte deren Gefühle, deren Lust, Gier und Schmerz. Ihr Vortrag gipfelte in Stöhnen, die Hände wanderten über den Körper. Als eine Hand, für die Zuhörer unsichtbar, hinter dem Pult verschwand und das Stöhnen in haltloses, zuckendes Röcheln überging, war klar was geschehen war.
Dann war eine Weile Stille. Gabi stand da, erschöpft, schwer atmend und in die Leere starrend. Sie richtete ihre kleidung und als sie endlich an ihren Platz zurückkam, schaute sie niemanden an. Sie saß da, teilnahmslos, mit leerem Blick.
Die Stille war jetzt vollkommen. Niemand hätte geglaubt, daß sich fast fünfzig Menschen im Raum aufhielten, kein lautes Atmen, kein Rascheln von Stoff, kein Räuspern.
Marc spürte körperlich die Blicke aller auf sich ruhen.
Er fühlte sich seltsam. In ihm wütete ein Ringen zweier Persönlichkeiten, die bisher eine gewesen waren. Die Eine trug die Angst, genauso aus der Kontrolle zu gleiten, wie die Lesenden vor ihm. Die Andere brachte das Drängen, zum Pult zu gehen, Besänftigung, daß nichts passieren könne mit der leisen Warnung, den Vertrag nicht zu verletzen.
Stille war im Raum. Eine lauernde Stille, so als ob die Anwesenden seinen inneren Kampf verfolgten. Ihm war schwindelig, als er sich erhob und wankend vortrat.
Ein unangenehmer Geschmack legte sich auf seine Zunge. Eine Mischung aus der Süße des Getränkes, das ihm angeboten worden war, mit dem bitteren Geschmack der Tabletten, die er zuvor eingenommen hatte.
Marc legte die Blätter seines Manuskriptes vor sich auf das Pult und begann mit monotoner Stimme zu lesen. Je weiter er in seine Geschichte eindrang, um so leidenschaftlicher wurde sein Vortrag.
Er las die Geschichte eines Mannes, der aus Not in die Unterwelt eintaucht.
Er brauchte Geld. Marc spürte die Verzweiflung im Ringen um die Entscheidung den Überfall zu wagen. Marc bebte vor Angst, als er verfolgt wurde. Sein Herz raste in Panik, die Lungen schmerzten vor Anstrengung. Als Marc die Sirenen hörte, erst aus der Ferne, dann aber stetig lauter werdend, schrie etwas in ihm: HALT ! Irgendeine Sicherheitsfunktion in seinem Unterbewußtsein brach wohl aus reinem Selbstschutz durch, gegen Einflüsse, die ihn zwangen weiter in den Text einzutauchen.
Er schaute kurz auf, wie durch Nebel in gespannte, kalte Gesichter. In der letzten Reihe, abseits der übrigen Zuhörer erkannte er schwach die Gestalt Kostols. Marcs Nerven gaukelten ihm das gefühllose, kalte Grinsen in einem hageren Gesicht vor. Marc senkte den Blick.
Wörter wandelten sich in Bilder und mit ihnen kamen auch Schmerz und Angst wieder.
Vor seinen Augen erwuchs die Lagerhalle, in die er flüchten mußte. Er keuchte vor Anstrengung, sein Herz schien ihm die Brust zu zerreißen. Wohl mit letzter Kraft stürzte er hinein und verharrte zwischen Stapeln von Kisten. Von außen kam das Dröhnen der Motoren näher, zerfetzt vom auf und abschwellenden Kreischen der Sirenen.
Eine Bewegung zu seiner Linken ließ ihn herumwirbeln.
Vor ihm, im Schatten von Regalen stand eine Gestalt.
„Du hast die Polizei hierher gelockt, du Idiot.“ Stiller, sein Partner bei dem Überfall, hielt eine Waffe auf ihn gerichtet.
Im selben Augenblick wußte Marc, was geschehen würde. Wie durch ein winziges Licht im alles überdeckenden Schatten, kam plötzlich die Erkenntnis, daß er sterben würde. Nicht nur der Mann, der er in der Geschichte war, und dessen Ende die Handlung vorgab. Auch der Andere, der lesend irgendwo an einem Pult stand, würde den nächsten Augenblick nicht überleben.
„Ich werde der Polizei behilflich sein und einen Verbrecher auf der Flucht erschießen,“ kam wieder die Stimme seinen Partners.
In dem Moment, in dem sein Gegenüber die Waffe zum Schuß ein Stückchen weiter anhob,
schien eine riesige Woge der Erkenntnis durch Marcs Sinne zu rasen. Die Konturen der Lagerhalle verblaßten wie in einem Nebel. Buchstaben und Wörter traten verschwommen hervor. Mit fast übermenschlicher Anstrengung gelang es ihm, erneut den Blick zu heben. Erwartungsvolle dunkle Gesichter schauten ihn an. Im Hintergrund wieder das kalte Grinsen Kostols. Wieder tauchten Bilder auf, andere Bilder. Seine Freunde, wie sie bei seiner Ankunft beisammenstanden und diskutierten. Die Gesichter von Hans und Gabi, dann wieder Kostol, mit dem Tablett in der Hand, wie er sein Glas hob und allen zuprostete. Wieder der Geschmack des Getränkes.
Genau in diesem Moment kam Marc aber auch die Erkenntnis, daß eigentlich er die Kontrolle über das Geschehen hatte. Er war der Regisseur seines Films.
Mit diesem Wissen gab er nach, ließ sich wieder zurückgleiten. Die Lagerhalle nahm wieder Gestalt an und da stand sein Kumpan mit der Waffe in der Hand.
Marc hatte die Gewalt.Er konnte Stiller verändern. Stiller war jetzt groß, hager, mit stechenden Augen. Seine Kleidung war wie seine langen Haare, die ihm fast bis auf die Schultern reichten, schwarz. Die dunklen Augen wurden die von Kostol. Ebenso der verschlagene Blick. Nicht Stiller, sondern Kostol stand ihm jetzt gegenüber.
Kostols Waffe hob sich noch ein kleines Stück höher.
Eine seltsame Gelassenheit erfüllte Marc. Er wußte, was kommen würde. Er hatte es in der Hand.
Kostols Finger verstärkten den Druck auf den Abzug. Gleich darauf zog ein gewaltiger Knall mit vielfachem tödlichem Echo durch die Lagerhalle. Das Bild vor Marcs Augen verschwamm.
Im letzten Bild der Geschichte erkannte er aber das maßlose Erstaunen in Kostols Gesicht. Im Hintergrund, fast als Schemen, erkannte er die Gestalt des Polizisten mit der Waffe in der Hand.
Im selben Moment, in dem Kostol niedersank und verblaßte, nahm der kleine Saal wieder Konturen an. Marc zitterte. Keuchend und mit rasendem Herzen hielt er sich am Pult fest.
Im Raum herrschte Stille. Kalt und ausdruckslos starrten ihn die Versammelten an.
Allein Marcs Herzschlag schien den Raum zu erfüllen.
Dann eine Stimme, noch eine, es wurden mehr und bald war es ein Raunen, das augenblicklich in Rufen und Aufregung überging. Gäste waren aufgesprungen und drängten an die hinterste Reihe, in der Kostol seinen Platz hatte.
Es dauerte nur Minuten, bis der Notarzt eintraf.
Im Krankenhaus hatte man Kostol wiederbelebt.
Seit diesem Tag hatte Marc an keiner Lesung mehr teilgenommen.
Für ihn war es wohl die letzte Lesung.
Andererseits: Vor einigen Tagen war da eine Benachrichtigung im Internet über eine Lesung in Ingolstadt.
Eine Geschichte, die er gerne erleben würde, hätte er schon.
Ähnlichkeiten mit realen Personen, oder tatsächlichen Begebenheiten sind rein zufällig.