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Die letzte Ausfahrt
Die letzte Ausfahrt
Nasir schreckte aus kurzem Schlummer hoch. Er schlug die Augen auf und lauschte. Ein Geräusch, - als würden Heuschrecken über das Segeltuch kriechen, unter dem er auf seiner Matte lag. Nasir wusste, dass es die Sandkörner waren, die auf das Segel rieselten. Von der Wüste trug der Gibli den Sand bis hierher an die Küste und Abdallah behauptete, dass der windige Arm des Gibli sogar über das Meer reiche und Europa mit dem gelben Wüstensand bestreue.
Dafür war das Segel da: Als Schutz gegen den Sand, gegen Spritzwasser und gegen die Sonne, wenn Abdallah und er tagsüber auf der Rückfahrt waren. Einen Mast gab es schon lange nicht mehr. Die Salima war alt und der Mast war längst an irgendeinem Strand vermodert. Bereits Jahre bevor Abdallah in den Besitz des Bootes gekommen war, war die Salima durch den Einbau eines Motors in etwas verwandelt worden, das hässlicher und schneller war als das ursprüngliche Fischerboot.
Es war aber nicht das Rieseln des Wüstensandes, das Nasir geweckt hatte. Er hörte Nicolas und Abdallahs Stimmen.
„Wie viele sind im Lager?”, fragte Abdallah.
„Bis zum Rand voll.”
„Dann bring 120.”
„So viele diesmal?”
„Was willst du, Nicola? Dir kann es doch egal sein.”
„Ist es auch. Du wirst schon wissen, wie viele in dein Boot passen.”
Nasir wartete, bis Nicola gegangen war; dann kroch er unter dem Segel hervor und sprang auf den Steg. Im sternenlosen Schwarz schwamm eine dunstige Mondsichel. Unter plätscherten und gurgelten Wellen. Nasir trat an Abdallahs gebeugte Gestalt heran.
„Er hat recht, 120 sind zu viele. Wenn wir es nicht schaffen...”
Abdullah fuhr herum, als hätte Nair ihn mit einem glühenden Eisenstab berührt.
„Bist du neuerdings allwissend? Muss ich mich von einem Grünschnabel belehren lassen?”
Nasir wich zurück.
„Entschuldige, ich danchte nur...” Nasir verstummte und sah den Älteren erschrocken an. Aber dann zupfte ein Lächeln an Abdallahs Mundwinkeln, wie es meistens der Fall war, wenn er Nasir sah. Sie waren nicht verwandt. Doch nachdem Nasirs Eltern eines Tages spurlos verschwunden waren, hatte er sich des Jungen angenommen. Und dank Abdallahs Fürsorge konnte Nasir Geld verdienen und sich um seine jüngere Schwester kümmern.
„Sieh mich an, Nasir, ich bin alt, sieh meine Hände an, es ist keine Kraft mehr darin. Oft kann ich die Fahrten nicht mehr machen.” Er drehte die Handflächen nach oben und steckte sie Nasir hin.
„Und die Polizeiboote. Es wird mir zu gefährlich. 120 Leute, das macht eine Menge Geld.”
Dann ließ Abdallah seine Stimme wieder hart werden:
„Und wenn du Angst hat, bleib hier. Ich setz einen von den Kerlen an die Pinne. Wäre nicht das erste Mal.”
Vom schwarzen Himmel hob sich das tintenschwarze Meer ab. Das dritte Schwarz: der Bootskörper, der sich wie ein lebendiges Wesen auf und ab bewegte. Sie mussten nicht lange warten. Bald kamen Stimmen und Geräusche aus dem Dunkel. Nicht viel mehr als ein Schlurfen und Murmeln, als wäre es bloß eine Handvoll Menschen. Die Schlepper achteten darauf, dass die Leute übermüdet waren. Das schwächt den Willen und macht sie gefügig, hatte Abdallah gesagt.
„Los, aufs Boot mit euch”, zischte Abdallah, als der Tross an ihm vorbeizog, „Beeilung, Beeilung!” Nasir sah in ihre Gesichter. Ja, sie waren müde. Man hätte sie zur Schlachtbank treiben können und sie hätten sich kaum gewehrt. Manche erwiderten den Blick, dann schaute Nasir weg und warf einen Blick auf Abdallahs Profil. Seine Lippen bewegten sich still. Er zählt, dachte Nasir, Männer, Frauen und Kinder jeweils gesondert. Später würde es wie immer Streit mit Nicola wegen der Zahlen geben. Als die letzten eingestiegen waren, suchte Nasir nach den Markierungen für den Tiefgang. Ein einzelner Strich war noch über der Wasserlinie zu sehen.
Tuckernd schob der Diesel sie in blinder Dienstbarkeit gegen die Dünung Richtung Norden. Nasir saß an der Pinne und schaute auf die Klumpen von Leibern, die versunken auf den Planken kauerten. Fast wäre er eingedöst, als plötzlich Abdallah neben ihm auftauchte.
„Es kommt Wasser ins Boot. Die ganze Bilge steht schon voll. Wir liegen zu tief. Wenn der Wind noch stärker wird...”
„Soll ich die Lenzpumpe anschalten?”, fragte Nasir.
„Bist du taub?”, zischte Abdallah, „die läuft schon die ganze Zeit. Ich mach das Schlauchboot los.”
„Das Schlauchboot?”
„Herrje, ja, das Schlauchboot! Wir machen uns aus dem Staub, Wenn die Wellen ins Boot schlagen, saufen wir ab wie ein Stein. Wir sind noch nicht weit draußen. Mit dem Schlauchboot geht’s.”
„Und die Leute?”, fragte Nasir, als würde er immer noch nicht begreifen.
„Die können meinetwegen zu Allah beten.”
„Das dürfen wir nicht tun.”
„Was willst du denn tun, du Schwachkopf? Hier mit den anderen absaufen?”
„Ich... ich weiß nicht.”
Abdallah beugte sich noch tiefer, als wollte er Nasir auf die Stirn küssen.
„Du bist noch jung, Nasir, noch so jung. Es nützt niemandem, wenn wir hierbleiben.”
„Sie werden doch was merken, wenn du das Schlauchboot losmachst.”
„Ach, guck dir das dumpfe Vieh doch an”, Abdallah deutete mit einem Kopfrucken zu den Leiberklumpen auf den Planken, „bis die was kapieren, sind wir schon wieder im Hafen. Und wenn sie Ärger machen... die hier wird sie auf Abstand halten.” In Abdallahs Hand lag plötzlich eine Pistole wie ein scharzes Ungeziefer.
Einer der Männer am Trinkwasserbehälter richtete sich auf und schaute in ihre Richtung. Der Mann trug eine Brille und sein Gesicht sah aus wie gefroren.
„Nein, ich bleibe hier. Wir dürfen das nicht... wir dürfen das nicht”, wiederholte Nasir, denn weiter wusste er nicht.
Ächzend richtete Abdallah sich auf.
„Wie du willst”, antwortete er, während er über Nasir hinweg ins Dunkel blickte, das sich zwischen sie und die lybische Küste geschoben hatte. Nasir klammerte sich an die Pinne, als würde der Wind ihn sonst wegwegen, wie einen Krümel Sand.
Tatsächlich schien es niemanden zu kümmern, dass Abdallah zum Schlauchboot ging und an den Tauen fummelte. Erst als es mit hartem Knall aufs Wasser platschte, entstand Bewegung, - wie ein riesiges, schwarzes Tier, unter dessen Haut viele kleinere Tiere anfangen zu buckeln und hin und her zu huschen. Stimmen wurden laut. Nasir konnte sehen, wie Abdallah ins Schlauchboot kletterte und ein Tauende über die Bordwand schleuderte. Eine Welle schlug gegen das Heck. Das Spritzwasser prasselte auf Nasirs Poncho. Dicht an der Bordwand entlang glitt das Schlauchboot dem Heck entgegen. Nasir zitterte, als führen sie durchs Eismeer. Er beobachtete, wie Abdallah an der Startschnur riss. Im nächsten Moment heulte der Außenborder auf. Der Mann mit der Brille, der vorhin am Trinkwassertank gestanden hatte, kam auf Nasir zu. Er bewegte den Mund, als würde etwas rufen. Nasir ließ die Pinne los und stand auf. Als das Schlauchboot auf seiner Höhe war, sprang er.
Schnell war die Salima im Dunkel verschwunden. Auch die Schreie hörte man bald nicht mehr. Nasir versuchte, in sich selbst zusammenzuschrumpfen, zu einem Sandkorn zu schrumpfen, das der Wind über das Meer blies. Vielleicht würde er dann eines Tages – wenn er wieder zu Menschengestalt gewachsen war – dem Mann mit der Brille begegnen, er würde Nasir lächelnd auf die Schulter klopfen und ihm erzählen, dass damals alles gut gegangen sei und dass er sich keine Sorgen machen solle.