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Thema des Monats Die letzte Ausfahrt

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19.12.2015
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Die letzte Ausfahrt

Die letzte Ausfahrt
Nasir schreckte aus kurzem Schlummer hoch. Er schlug die Augen auf und lauschte. Ein Geräusch, - als würden Heuschrecken über das Segeltuch kriechen, unter dem er auf seiner Matte lag. Nasir wusste, dass es die Sandkörner waren, die auf das Segel rieselten. Von der Wüste trug der Gibli den Sand bis hierher an die Küste und Abdallah behauptete, dass der windige Arm des Gibli sogar über das Meer reiche und Europa mit dem gelben Wüstensand bestreue.
Dafür war das Segel da: Als Schutz gegen den Sand, gegen Spritzwasser und gegen die Sonne, wenn Abdallah und er tagsüber auf der Rückfahrt waren. Einen Mast gab es schon lange nicht mehr. Die Salima war alt und der Mast war längst an irgendeinem Strand vermodert. Bereits Jahre bevor Abdallah in den Besitz des Bootes gekommen war, war die Salima durch den Einbau eines Motors in etwas verwandelt worden, das hässlicher und schneller war als das ursprüngliche Fischerboot.

Es war aber nicht das Rieseln des Wüstensandes, das Nasir geweckt hatte. Er hörte Nicolas und Abdallahs Stimmen.
„Wie viele sind im Lager?”, fragte Abdallah.
„Bis zum Rand voll.”
„Dann bring 120.”
„So viele diesmal?”
„Was willst du, Nicola? Dir kann es doch egal sein.”
„Ist es auch. Du wirst schon wissen, wie viele in dein Boot passen.”

Nasir wartete, bis Nicola gegangen war; dann kroch er unter dem Segel hervor und sprang auf den Steg. Im sternenlosen Schwarz schwamm eine dunstige Mondsichel. Unter plätscherten und gurgelten Wellen. Nasir trat an Abdallahs gebeugte Gestalt heran.
„Er hat recht, 120 sind zu viele. Wenn wir es nicht schaffen...”
Abdullah fuhr herum, als hätte Nair ihn mit einem glühenden Eisenstab berührt.
„Bist du neuerdings allwissend? Muss ich mich von einem Grünschnabel belehren lassen?”
Nasir wich zurück.
„Entschuldige, ich danchte nur...” Nasir verstummte und sah den Älteren erschrocken an. Aber dann zupfte ein Lächeln an Abdallahs Mundwinkeln, wie es meistens der Fall war, wenn er Nasir sah. Sie waren nicht verwandt. Doch nachdem Nasirs Eltern eines Tages spurlos verschwunden waren, hatte er sich des Jungen angenommen. Und dank Abdallahs Fürsorge konnte Nasir Geld verdienen und sich um seine jüngere Schwester kümmern.
„Sieh mich an, Nasir, ich bin alt, sieh meine Hände an, es ist keine Kraft mehr darin. Oft kann ich die Fahrten nicht mehr machen.” Er drehte die Handflächen nach oben und steckte sie Nasir hin.
„Und die Polizeiboote. Es wird mir zu gefährlich. 120 Leute, das macht eine Menge Geld.”
Dann ließ Abdallah seine Stimme wieder hart werden:
„Und wenn du Angst hat, bleib hier. Ich setz einen von den Kerlen an die Pinne. Wäre nicht das erste Mal.”

Vom schwarzen Himmel hob sich das tintenschwarze Meer ab. Das dritte Schwarz: der Bootskörper, der sich wie ein lebendiges Wesen auf und ab bewegte. Sie mussten nicht lange warten. Bald kamen Stimmen und Geräusche aus dem Dunkel. Nicht viel mehr als ein Schlurfen und Murmeln, als wäre es bloß eine Handvoll Menschen. Die Schlepper achteten darauf, dass die Leute übermüdet waren. Das schwächt den Willen und macht sie gefügig, hatte Abdallah gesagt.
„Los, aufs Boot mit euch”, zischte Abdallah, als der Tross an ihm vorbeizog, „Beeilung, Beeilung!” Nasir sah in ihre Gesichter. Ja, sie waren müde. Man hätte sie zur Schlachtbank treiben können und sie hätten sich kaum gewehrt. Manche erwiderten den Blick, dann schaute Nasir weg und warf einen Blick auf Abdallahs Profil. Seine Lippen bewegten sich still. Er zählt, dachte Nasir, Männer, Frauen und Kinder jeweils gesondert. Später würde es wie immer Streit mit Nicola wegen der Zahlen geben. Als die letzten eingestiegen waren, suchte Nasir nach den Markierungen für den Tiefgang. Ein einzelner Strich war noch über der Wasserlinie zu sehen.

Tuckernd schob der Diesel sie in blinder Dienstbarkeit gegen die Dünung Richtung Norden. Nasir saß an der Pinne und schaute auf die Klumpen von Leibern, die versunken auf den Planken kauerten. Fast wäre er eingedöst, als plötzlich Abdallah neben ihm auftauchte.
„Es kommt Wasser ins Boot. Die ganze Bilge steht schon voll. Wir liegen zu tief. Wenn der Wind noch stärker wird...”
„Soll ich die Lenzpumpe anschalten?”, fragte Nasir.
„Bist du taub?”, zischte Abdallah, „die läuft schon die ganze Zeit. Ich mach das Schlauchboot los.”
„Das Schlauchboot?”
„Herrje, ja, das Schlauchboot! Wir machen uns aus dem Staub, Wenn die Wellen ins Boot schlagen, saufen wir ab wie ein Stein. Wir sind noch nicht weit draußen. Mit dem Schlauchboot geht’s.”
„Und die Leute?”, fragte Nasir, als würde er immer noch nicht begreifen.
„Die können meinetwegen zu Allah beten.”
„Das dürfen wir nicht tun.”
„Was willst du denn tun, du Schwachkopf? Hier mit den anderen absaufen?”
„Ich... ich weiß nicht.”
Abdallah beugte sich noch tiefer, als wollte er Nasir auf die Stirn küssen.
„Du bist noch jung, Nasir, noch so jung. Es nützt niemandem, wenn wir hierbleiben.”
„Sie werden doch was merken, wenn du das Schlauchboot losmachst.”
„Ach, guck dir das dumpfe Vieh doch an”, Abdallah deutete mit einem Kopfrucken zu den Leiberklumpen auf den Planken, „bis die was kapieren, sind wir schon wieder im Hafen. Und wenn sie Ärger machen... die hier wird sie auf Abstand halten.” In Abdallahs Hand lag plötzlich eine Pistole wie ein scharzes Ungeziefer.
Einer der Männer am Trinkwasserbehälter richtete sich auf und schaute in ihre Richtung. Der Mann trug eine Brille und sein Gesicht sah aus wie gefroren.
„Nein, ich bleibe hier. Wir dürfen das nicht... wir dürfen das nicht”, wiederholte Nasir, denn weiter wusste er nicht.
Ächzend richtete Abdallah sich auf.
„Wie du willst”, antwortete er, während er über Nasir hinweg ins Dunkel blickte, das sich zwischen sie und die lybische Küste geschoben hatte. Nasir klammerte sich an die Pinne, als würde der Wind ihn sonst wegwegen, wie einen Krümel Sand.
Tatsächlich schien es niemanden zu kümmern, dass Abdallah zum Schlauchboot ging und an den Tauen fummelte. Erst als es mit hartem Knall aufs Wasser platschte, entstand Bewegung, - wie ein riesiges, schwarzes Tier, unter dessen Haut viele kleinere Tiere anfangen zu buckeln und hin und her zu huschen. Stimmen wurden laut. Nasir konnte sehen, wie Abdallah ins Schlauchboot kletterte und ein Tauende über die Bordwand schleuderte. Eine Welle schlug gegen das Heck. Das Spritzwasser prasselte auf Nasirs Poncho. Dicht an der Bordwand entlang glitt das Schlauchboot dem Heck entgegen. Nasir zitterte, als führen sie durchs Eismeer. Er beobachtete, wie Abdallah an der Startschnur riss. Im nächsten Moment heulte der Außenborder auf. Der Mann mit der Brille, der vorhin am Trinkwassertank gestanden hatte, kam auf Nasir zu. Er bewegte den Mund, als würde etwas rufen. Nasir ließ die Pinne los und stand auf. Als das Schlauchboot auf seiner Höhe war, sprang er.

Schnell war die Salima im Dunkel verschwunden. Auch die Schreie hörte man bald nicht mehr. Nasir versuchte, in sich selbst zusammenzuschrumpfen, zu einem Sandkorn zu schrumpfen, das der Wind über das Meer blies. Vielleicht würde er dann eines Tages – wenn er wieder zu Menschengestalt gewachsen war – dem Mann mit der Brille begegnen, er würde Nasir lächelnd auf die Schulter klopfen und ihm erzählen, dass damals alles gut gegangen sei und dass er sich keine Sorgen machen solle.

 

Hi tortitch,
Ja die gefällt mir deutlich besser, obwohl mir der Schluss zu schnell geht. Das ist ja das zentrale Element in Nasirs Konflikt, dass er es nicht schafft, sich für die Flüchtlinge einzusetzen und dass im letzten Moment die Angst siegt. Das finde ich, solltest du stärker herausarbeiten und damit bekäme Nasirs Charakter auch mehr Tiefe.

lg
Bernhard

 

Hi tortich und ein gutes neues Jahr!

In meinen Augen hat deine Geschichte ganz klar gewonnen, sie ist plausibler geworden und der innere Konflikt von Nasir ist besser zu verstehen. Sie erscheint mir auch nicht mehr so - wie anfangs - aus einer moralisch 'erhöhten' Position geschrieben, sondern bleibt glaubhafter bei den Protagonisten.
Kleiner Tippfehler:

„Entschuldige, ich danchte nur...”

Grüße,

Eva

 

Hallo tortitch,

ich kenne nur die überarbeitete Version und die gefällt mir ganz gut.
Ein aktuelles Thema, das durchaus seinen Platz in der Literatur finden muss. Ist eine schwierige Gratwanderung, das zum einen glaubhaft und zum anderen nicht zu belehrend rüberzubringen. ich finde, dir gelingt das zu großen teilen sehr gut. Einzig das Ende kippt da für mich raus. Den letzte Abschnitt, den würde ich unbedingt umschreiben. Da kommt er dann doch raus, der Zeigefinger.

Ansonsten habe ich noch ein paar Stilistische Sachen rausgepickt

Abdullah fuhr herum, als hätte Nair ihn mit einem glühenden Eisenstab berührt.
muss es der glühende Stab sein? Also ich finde diesen Vergleich albern
„Bist du neuerdings allwissend? Muss ich mich von einem Grünschnabel belehren lassen?”
braucht es den ersten Satz? Würde weiter verknappen. der zweite reicht doch vollkommen aus, da ist auch die wichtige Information drin - grünschnabel

Aber dann zupfte ein Lächeln an Abdallahs Mundwinkeln, wie es meistens der Fall war, wenn er Nasir sah.
zu lang und und nicht nötig
Sie waren nicht verwandt. Doch nachdem Nasirs Eltern eines Tages spurlos verschwunden waren, hatte er sich des Jungen angenommen. Und dank Abdallahs Fürsorge konnte Nasir Geld verdienen und sich um seine jüngere Schwester kümmern.
schnell den Hintergrund reingerutscht für den Leser. Könnte man sicher eleganter lösen
Sieh mich an, Nasir, ich bin alt, sieh meine Hände an, es ist keine Kraft mehr darin. Oft kann ich die Fahrten nicht mehr machen.” Er drehte die Handflächen nach oben und steckte sie Nasir hin.
sehr poetisch der erste Teil
In meinen Händen ist keine Kraft mehr. Oft kann ich ...
Vielleicht würde er dann eines Tages – wenn er wieder zu Menschengestalt gewachsen war – dem Mann mit der Brille begegnen, er würde Nasir lächelnd auf die Schulter klopfen und ihm erzählen, dass damals alles gut gegangen sei und dass er sich keine Sorgen machen solle.
und hier kommt es wirklich deftig. das hast du bisher so schön umschifft. kippt aus Perspektive und ton
"Unter plätscherten und gurgelten Wellen."
Unten
Entschuldige, ich danchte nur...

Nasir saß an der Pinne und schaute auf die Klumpen von Leibern, die versunken auf den Planken kauerten.
das Bild ist toll, der reim jedoch nicht. streich versunken ohne Ersatz - braucht es nicht. Klumpen ist ein starkes Bild - dazu kauern: reicht vollkommen
zu den Leiberklumpen auf den Planken,
hier wiederholst du das wort klumpen. Ja, es ist toll, verliert aber durch die Wdh an Kraft.

gern gelesen

grüßlichst
weltenläufer

 

Hey tortitch,

und an dieser Stelle auch von mir ein herzliches Willkommen!

Ich habe die Geschichte sehr interessiert gelesen. Erst wollt ich auch so eine Stil - und Fehlerliste basteln, aber dann habe ich gesehen, die hast Du ja schon bekommen, kann ich mir also sparen. Und anhand der Kommentare habe ich auch gesehen, dass Du hier ordentlich dran rumgewerkelt haben musst. Auf mich wirkt die Geschichte weder moralisierend noch zu sehr erklärend. Am spannendsten war für mich der Punkt, dass man die Leute übermüdet auf die Boote schickt, damit sie ruhig und willenlos sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich kauf das sofort.
Und das Ende fand ich auch gut. Wie Nasir da hofft, es möge doch gut für die Menschen ausgehen. Wie er in der Hoffnung sein "Seelenheil" sucht. Das ist ein sehr menschlicher Zug. Sorry ich kann nicht, aber bitte schafft es, damit ich mich nicht als Mörder fühlen muss. Dahingehend könnte man die Stelle, wo es darum geht 120 sind zu viel - doch muss gehen, bin alt und wird immer gefährlicher - noch ein wenig schärfen, dieser Stelle ein bisschen mehr Raum und Schärfe geben, dann käme auch das Ende noch "feiger" rüber. Kannst ja mal drüber nachdenken, musst aber nicht.

Doch, ist eine feine böse Geschichte geworden.
Beste Grüße, Fliege

 

Hallo tortich,


das ist eine eindringliche Schilderung und was mir gut an deiner Geschichte gefällt, ist die Dichte, mit der du das Thema angehst. Da ist kein Satz zuviel geschrieben und auch der kleine Handlungsausschnitt ist von dir gut gewählt worden.

Du schreibst auch recht plastisch, jedenfalls konnte ich deinen Protagonisten gut folgen.

Ich konnte allerdings mit dem Abdallah nichts anfangen, weil mir da wesentliche charakterliche Züge an ihm fehlten. Einerseits scheint er ein herzensguter Mann zu sein, denn er zieht ja einen Jungen groß, obwohl er es eigentlich nicht müsste, andererseits ist er der brutale Egoist, der nur an das Geld denkt und menschenverachtend über die Flüchtlinge redet.
Da passt etwas nicht für mich zusammen, auch wenn ich weiß, dass das Leben nicht Schwarz oder Weiß ist. Ich zweifele keine Sekunde daran, dass es solche Menschen wie Abdallah gibt und ich weiß, dass im wirklichen Leben man beides sein könnte: liebevoll zum einen und menschenverachtend zum anderen.

Aber in einer Kurzgeschichte solltest du dem Leser eine kleine Brücke bauen, da möchte man Erklärungen haben, warum jemand so und nicht anders gestrickt ist.

Ein weiteres Problem ist nochmals Abdallah, der mir viel zu schnell aufgibt, als sein Ziehsohn sich von ihm abwenden möchte. Da fehlt eine Ecke Erzählung. Das ist an dieser Stelle:

„Wie du willst”, antwortete er, während er über Nasir hinweg

Und ein weiteres Problem ist Nasir, dessen Sprung auf das Schlauchboot mir zu überraschend kommt, weil in seinen Gedankengängen dazu vorher nichts auftaucht. Allerdings enthält die Geschichte auf diese Weise am Ende einen großen Überraschungsmoment.

Folgende Dinge sind mir noch innerhalb deines Textes aufgefallen:

Unter plätscherten und gurgelten Wellen
Unten
als hätte Nair ihn
Nasir
„Entschuldige, ich danchte
dachte
steckte sie Nasir hin.
streckte
du Angst hat
hast
wegwegen
wegwehen
zu einem Sandkorn zu schrumpfen,
ich würde dieses "schrumpfen" ersatzlos streichen, es gibt dadurch keine unschöne Wortwiederholung.

Lieben Gruß

lakita

 

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