Mitglied
- Beitritt
- 02.09.2007
- Beiträge
- 16
Die Legende von J. M.
„Opa, wer ist J. M.?“, fragte der Enkel seinen Opa beim Betrachten eines alten Fotos.
Auf dem Foto waren zwei männliche Personen abgebildet, die vor einem Schiff standen. Den Mann auf der rechten Seite erkannte der Enkel, auch wenn dieser jetzt viel älter war. Doch er kannte den Mann, der an der Seite seines Opas war, nicht. Auf dem Rahmen des Fotos waren die Worte „J. M. – Möge er in Frieden ruhen“ eingeprägt. Der Enkel blickte zu seinem im Schaukelstuhl sitzenden Opa hoch.
„J. M.“, wiederholte dieser leise und blickte von seiner Zeitung auf. „Ja, das war ein tapferer junger Mann. Tapferer als wir alle zusammen“, sagte er nach einer kurzen Pause.
„Sogar tapferer als du, Opa?“, wunderte sich sein Enkel.
„Oh ja, viel tapferer als ich je hätte sein können“, seufzte er, dann warf er seinem neugierigen Enkel ein kurzes Lächeln zu und widmete sich wieder seiner Lektüre.
Doch das Interesse des Enkels wurde gerade erst geweckt und er konnte es nicht glauben, dass sein Opa, der doch nie eine Gelegenheit auslässt, um Geschichten aus seinen alten Seemannsjahren preiszugeben, bei dieser hier keine Anstalten macht sie zu erzählen.
„Möchtest du mir die Geschichte, die hinter dem Bild steckt, denn nicht erzählen?“
Doch die Antwort war nicht die, die er erwartet hatte.
„Och, nein, mein kleiner Johnny. Heute nicht mehr, ich bin schon ziemlich müde.“
Das genügte dem Enkel nicht, sondern spornte ihn nur noch mehr an. Also stellte sich der Enkel vor ihn und schaute ihn mit den größten Augen, die er in der Lage war zu erzeugen, an und ergänzte diesen unwiderruflichen Ausdruck durch einen perfekten Schmollmund.
„Bitte, Opa, ich möchte sie so gern hören“, brachte er durch seine verformten Lippen hervor.
Sein Opa schaute von seiner Lektüre hoch und sah, dass es seinem Enkel sehr ernst war und dieser nicht so schnell aufgeben würde. Also seufzte er ein weiteres Mal.
„Das Schiff im Hintergrund das war meine Schwalbe“, begann er die Geschichte.
„Ich habe gerade einen neuen Steuermann bekommen, frisch aus der Ausbildung. Sein Name war J. M. Wir schwammen von Detroit über den Eriesee nach Buffalo. Unsere Besatzung war wohl auf und wir hatten die besten Passagiere, die man haben kann. Wir hatten keine Proble-me mit ihnen, keine nervigen Gäste, die mit allem unzufrieden waren und so...“
Der Enkel lauschte seinem Opa aufmerksam. Er war fasziniert wie sein Opa diese Geschichte erzählte, so hatte er ihn noch nie reden hören. Der Enkel hing so sehr an den Lippen seines Großvaters, dass er sich selbst zu den gut gelaunten Passagieren begab. Leise vor sich hin pfeifend, auf dem Deck der Schwalbe, gesellte er sich zu einer kleinen Gruppe von Leuten, die den jungen J. M. fragten wie lange sie denn noch fahren würden. Der schaute nach vorn und schaute in die Rund‘: „Noch dreißig Minuten ... halbe Stund‘!“ Und alle waren sie glücklich und zufrieden.
„Und dann kam der Moment der alles verändern sollte“, drang die Stimme des Großvaters durch die Vorstellung seines Enkels.
Doch dieser nahm die Stimme nur noch im Hintergrund wahr, denn im Vordergrund brach Geschrei aus dem Schiffsraum aus. „Feuer!“ war es was da klang, ein Qualm aus Kajüt und Luke drang. Flammen überall und sie hatten noch eine zwanzigminütige Fahrt vor sich.
Und die Passagiere brachen in Panik aus und stürmten wild durch einander. Johnny wusste nicht wohin, alles ging so schnell und alle liefen in verschiedene Richtungen. Doch dann hörte er wieder die Stimme seines Opas, doch diesmal kam sie von dem Mann auf dem Foto. Die jüngere Version seines Großvaters forderte freundlich aber bestimmt alle auf, sich am Bug-spriet zu versammeln, dort wo der wenigste Qualm war. Johnny sah seinem Opa zu, wie er vergeblich versucht die Leute zu beruhigen. Doch ein Jammern wurde laut: „Wo sind wir? Wo?“ Und die Uhr drohte mit weiteren fünfzehn Minuten in diesem Chaos.
Zwischen den vielen Leuten und dem bleibendem Rauch eingeklemmt, fiel es Johnny schwer zu atmen. Je schwieriger es wurde, desto mehr Angst bekam er. Um ihn herum machten die Menschen hektische Bewegungen und schrien durcheinander. Er versuchte sich einen Weg raus aus dieser wilden Menge zu erkämpfen. Egal was dort vorne auf ihn wartete, er musste aus dieser Masse raus. Wie in einem Dschungel aus Lianen schob er auf seinem Weg in die geheimnisvolle Freiheit Beine und umherfuchtelnde Arme auseinander. Die Leute um ihn herum bekamen davon nichts mit. Ein Taschendieb hätte sich hier einen großen Lohn verdienen können, wenn er nicht selbst in lauter Panik verloren wäre. Als Johnny endlich keine groben Hindernisse mehr im Weg waren, stand er vor einer Wand von Qualm, welcher ihn zu verschlingen schien. Doch dann erkannte er vor ihm die Umrisse einer Figur. Diese war groß und anscheinend auf etwas fixiert, das in der Weite vor ihm lag. Aber das konnte nicht sein, denn hier war es schon kaum auszuhalten, wie konnte dann noch etwas oder gar jemand weiter hinten ihm Qualm stehen? Und da hörte er zum zweiten Mal auf diesem Schiff die Stimme seines jüngeren Großvaters durch ein Sprachrohr, welches die Person vor ihm in der Hand hielt.
„Noch da J. M.?“
„Ja Herr. Ich bin!“
Und da wurde es Johnny schlagartig klar, dass jemand genau in dieser Sekunde, am anderen Ende des Schiffes, das Schiff steuern musste. Gefangen zwischen dem Qualm und der eigen auferlegten Pflicht die Passagiere und die Besatzung gesund ans Ufer zu bringen.
Das Schiffsvolk jubelte: „Halt aus! Hallo!“
Und Buffalo war in zehn Minuten in Sicht. Doch der Qualm blieb hartnäckig und sog jede Sekunde mehr frische Luft ein. Johnny schnaufte und griff sich am Bein seines Opas fest. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie dieser arme Mann da vorne sich tapfer am Steuer fest-krallte und versuchte für die Anderen seinen spindeldünnen Lebensfaden noch ein paar Momente weiter zu halten.
„Noch da J. M?“
Und als Antwort schallt’s mit ersterbender Stimme: „Ja Herr, ich halt’s!“
Und beim kaum hörbaren Klang dieser dünnen, kraftlosen, verlorenen Stimme, stieg in Johnny die Angst noch höher. Er drückte seinen Körper noch fester an das standhafte Bein. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er konnte diese auch nicht halten, sodass sie rasch über seine Wangen liefen. Seine Augen schließend und nach Luft ringend, flüsterte er hilflos: „Ich will noch nicht sterben.“
Gerettet alle. Nur Einer fehlt.
Der Enkel schlug die Augen auf und fand sich auf dem Boden des Wohnzimmers wieder. Er lag zu den Füßen seines Opas. Der Enkel schaute zu diesem auf, doch sein Opa schien es gar nicht zu bemerken, sondern schaute nur stur geradeaus und murmelte in einem monotonen Ton die Geschichte weiter: „Und da waren wir dann. Die Glocken erfüllten die ganze Stadt, doch das war nicht nötig, denn die ganze Stadt nahm am Trauermarsch teil. Kein Aug‘ im Zuge, das tränenleer. Wir waren erfüllt von Ehrfurcht und Dankbarkeit. Der Mann, den wir gerade zu Grabe trugen, hatte uns allen das Leben gerettet. Und was tat ich? Ich, Kapitän des Schiffs? Der Vater der Schwalbe? Ich ging vom Schiff und ließ meine Tochter und diesen armen jungen Mann alleine sterben. Er hatte sein ganzes Leben vor sich und schied so früh aus dieser Welt. In diesem Moment lag er tot in diesem Sarg. Und was machte ich? Ich lief quicklebendig den Weg zum Friedhof, um ihm, unserem Held, unserem Retter, die letzte Ehre zu erweisen. Was war ich doch nur für ein Feigling gewesen. Welcher Kapitän verlässt sein Kind, wenn dessen letzte Stunde schlägt? Welcher Kapitän lässt einen anderen für sich sterben. Nur ein feiger, nichtsnutziger Angsthase wie ich! Einer der Angst vor Tod hat. Doch was bleibt einem vom Leben, wenn man mit ansieht, dass jemand für dich sein Leben lässt, sein kostbares, junges Leben. Jetzt kann ich nichts mehr tun. Ich konnte nur diese Totenfeier so aufwändig wie möglich gestalten, um wenigstens etwas für ihn zu tun. Wir legten den Sarg in ein Blumenbeet und schlossen das Grab mit weiteren Blumen. Auf dem Sarg verewigten wir schließlich mit goldener Schrift, wie es einem Mann wie ihm gebührt, seine Heldentat. Es war das Einzige was wir tun konnten. Heute können wir nur noch versuchen ihn durch unsere Worte ewig am Leben zu erhalten.“
hielt er das Steuer fest in der Hand,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron‘,
er starb für uns, unsre Liebe, sein Lohn,
John Maynard!