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Die Landschaft der Knochen

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28.12.2009
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Die Landschaft der Knochen

Sie stellt die Tasse vor mich hin und nimmt sich eine Zigarette aus meiner Schachtel. Für einen Moment betrachtet sie den Filter, liest den Schriftzug – CAMEL – dann zuckt sie mit der Schulter und sagt: Hast du mal Feuer?
Ich nicke und reiche ihr das Zippo.
Dein Bruder, sagt sie leise und öffnet die Schutzkappe. Der … ich weiß nicht.
Ich dachte, die Ärzte sagen, `s sei alles wieder in Ordnung?
Sie nimmt einen Zug und schüttelt den Kopf. Das kann ja sein, das wird schon seine Richtigkeit haben, wenn die das sagen.
Was meinst du dann?
Der hat jetzt fast ein halbes Jahr lang zu Hause gesessen … Sie sieht mich lange an, legt die Zigarette in den Aschenbecher. Geh‘ ihn ruhig mal besuchen. Der braucht Gesellschaft. Das Alleine sein, das is‘ nix für den.
Ich nehme ein Schluck Kaffee, stelle die Tasse zurück auf den Tisch. Mutter nimmt immer zwei Löffel zu viel Pulver. Ölaugen auf der schwarz schimmernden Oberfläche. Zum Abschied schließe ich sie in den Arm. Wir stehen im engen, schmalen Flur. Auf der Kommode liegt immer noch der Zeitungsartikel über die Freisprechung letztes Jahr. Mein Bruder steht lächelnd neben seinem Gesellenstück, einem aufwändig gestalteten Brandschrank, der an diesem Abend mit dem ersten Platz prämiert wurde.
Stumpfsinnig, sagt meine Mutter und fährt mit den Fingerspitzen über den Artikel. Der wird mir noch stumpfsinnig vom vielen Rumsitzen.
Ich fahr‘ gleich rüber, versprochen.
Sie öffnet die Wohnungstür. Und grüß mir die Lisa.
Mach ich, sage ich und bleibe im Treppenhaus stehen, bis das Licht hinterm Spion erloschen ist. Ich lehne mich gegen das Geländer, gehe Stufe für Stufe ins Erdgeschoss. Draußen vor den Mülltonnen steht Herr Cyron. Er schiebt die Altpapiertonne unter den Verhau, hebt die Hand und sagt: Na, Jung, warste dinge Mutter besuchen?
Muss ja auch mal sein.
Na sicher, sagt er und schürzt die Lippen. Und? Wie läuft der Laden? Rentiert et sich schon?
Rentieren, nee, das können se verjessen, sage ich und schnalze mit der Zunge. Die Leute schmeißen heute doch alles direkt weg, da is nix mehr mit reparieren, und neu, neu kaufen die bei Saturn oder im Media Markt. Die lassen sich von mir beraten, sagen `Vielen Dank` - und weg sindse.
Ja, Jeiz is eben jeil, sagt der alte Cyron und klopft mir auf die Schulter. Sportschau fängt gleich an. Ich wünsch dir wat!
Effzeh wieder auf’m Abstiegsplatz?
Hör mir bloss auf mit denen – nur Driss, alles nur Driss, wat die da zusammenspille. Nächstes Jahr geht’s wieder nach Sandhausen.
Wir lachen beide. Er winkt noch einmal und zieht die Haustür zu. Ich gehe an den Mülltonnen vorbei über die Straße. Aus den Schornsteinen der KEPEC ziehen dichte Rauchschwaden. Den Wagen habe ich im Industriegebiet vor dem Getränkeexpress geparkt, ganz hinten neben den Einkaufswagen. Ich bleibe vor dem Eingang stehen. Die Neonreklame ist kaputt, das Licht flackert. Hinter der Milchglasscheibe sehe ich Schemen. Ich zögere, mache einen Schritt nach vorne – die Tür geht automatisch auf. Leise Musik dringt aus den Boxen. Hinter der Kasse sitzt ein junger Typ mit Wollmütze und starrt auf das Display seines Handys. Ich gehe zu den Kühlschränken und nehme einen Sechserpack Mühlen Kölsch aus dem untersten Fach. Der Junge sieht kurz auf das Bier, tippt einen Betrag in die Registrierkasse ein und sagt: 5,29. Ich lege einen Zehner in die Plastikschale. Er nimmt ihn, lässt ihn in die Schublade fallen und zählt mit einer Hand das Wechselgeld ab.

Das Bier stelle ich auf den Beifahrersitz und starte den Motor. Die Straßen sind frei, kaum Verkehr. Ich fahre an der Grundschule vorbei, biege am neu gebauten Kreisverkehr ab, den Seidenberg hinunter. Ab der Hälfte nehme ich den Gang raus, lasse den Wagen im Leerlauf rollen. Die Flutlichter im Stadion sind eingeschaltet. Mittelrheinliga. In die Stichstraße links. Graues Mietshaus. Ich drücke die Klingel an der Haustür, ein lauter Ton schrillt durch das ganze Treppenhaus. Nach dem sechsten oder siebten Mal höre ich seine Stimme an der Gegensprechanlage.
Ja?
Ich bin’s, dein Bruder. Stille. Er atmet ein, atmet aus, dann klickt der Türöffner. Im Erdgeschoss stinkt es nach Abfall und nassem Hund. Ich lasse das Licht ausgeschaltet. Hinter den Wohnungstüren gedämpfte Geräusche. Fernseher, Musik, Lachen. Auf einem Weichholzregal im Gang liegen Schuhe – alte Ledersandalen, Sneaker, verdreckte Gummistiefel. Die Wohnungstür steht einen Spalt breit offen. Auf dem Mülleimer in der Diele stapeln sich Pizzakartons. Der Fernseher läuft. Ich schließe die Tür hinter mir.

Er sitzt auf der Couch, die Beine ausgestreckt, seine nackten Füße liegen auf einem Sitzkissen. Die Jalouisen sind runtergelassen, einzelne Lamellen verbogen. Das Fenster verschlossen. Auf dem Boden unter dem Tisch steht Leergut. In einer 1.5 Liter PET-Flasche schimmert eine hellgelbe Flüssigkeit.
Was guckste?, frage ich und sehe auf die Mattscheibe. Zwei Bären stehen auf ihren Hinterläufen, die mächtigen Oberkörper erhoben, sie gebärden sich drohend, bereit zum Kampf.
`ne Doku, sagt er. Ich stehe vor der Couch, wir beide sehen auf den Bildschirm. Dann räuspert er sich, hebt den Kopf und sieht mich an. Ich guck' gerne so Dokus, `s gibt da echt abgefahrenes Zeug manchmal …
Ja, sage ich und setze mich neben ihn. Die Bären kämpfen nicht. Sie stieren sich an, kommen sich näher, bleiben Kopf an Kopf voreinander stehen, aber nichts passiert, sie gehen einfach auseinander, verschwinden wieder im Dickicht. Im Regal neben dem Fernseher steht die Playstation, die wir vor ein paar Jahren gemeinsam gekauft haben. Kabel zusammengerollt, die Controller liegen neben der Konsole.
Wie geht‘ s dir?, frage ich, ich betrachte sein Gesicht dabei, und da ist etwas mit seinen Augen, sie sehen eingefallen aus, alt und müde, der Blick starr.
Er nimmt die Fernbedienung von der Couchlehne, fährt mit dem Daumen langsam über die Knöpfe.
Ja, sagt er leise. Muss.
War vorhin noch bei Mutter. Ihr geht’s auch gut so weit.
Ja, die Mutter, wiederholt er und nickt. Dann schaltet er um auf einen Sportkanal. Eishockey.
Waren auch schon ewig nicht mehr in der Kölnarena …
Haie sind doch nix mehr, sagt mein Bruder. Und Jonesy ist auch nicht mehr da.
Ja, der Jonesy, das war einer ...
Mein Bruder schaltet in den nächsten Kanal – es läuft eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg. Männer in SS-Uniformen. Panzer. Hitler. Hast du Kippen?, fragt er. Klar, sage ich und hole die CAMEL aus der Jackentasche. Er nimmt mir die Schachtel aus der Hand, ich reiche ihm mein Plastikfeuerzeug. Mutter raucht wieder, sagt er und zündet sich eine Zigarette an.
Ja, ich weiß.
Er nimmt einen tiefen Zug, behält den Rauch lange in der Lunge. Die hatte doch schon zwanzig Jahre aufgehört …
Manchmal fängt man mit so `nem Scheiß eben wieder an, keine Ahnung.
Der is‘ einfach langweilig. Er nimmt noch einen tiefen Zug.
Kann sein. Ich zeige auf die Playstation im Regal. `ne Runde Fifa zocken?
Er schüttelt den Kopf. Nee, sagt er. Geht nich‘ mehr …
Ich dachte, die Ärzte haben gesagt, das alles wieder okay is?
Alles okay, wiederholt er. Dann hebt er seine Hand, spreizt Zeige und Ringfinger ab, dreht sie langsam hin und her. Ich sehe die Narben - grobe Risse im Gewebe, immer noch rot unterlaufen. Die Gelenke sind weg, da is nix mehr drin. Die hab’n Gewebe aus’m Arm genommen und das damit … Er atmet Rauch aus. Nich‘ mal `ne Flasche kann ich richtig aufdrehen, und im Daumen, da ist gar kein Gefühl mehr drin, nichts. Der Nerv ist kaputt, da kommt auch nichts mehr wieder, das bleibt so, also was soll da alles okay sein?
Scheiße, das wusste ich ja nicht. Warum hast du nichts gesagt?
Was hätt‘ das geändert? Ändert doch nichts, oder?
Nein, aber …
Aber was? Die Hand, die is‘ verkrüppelt, und das wird die bleiben, bis ich in der Kiste liege. Er starrt mich an, seine Lippen feucht und zusammengekniffen. Dann sinkt er zurück auf das Kissen. Is‘ jetzt so, sagt er noch. Ich ziehe an der Zigarette, ich ziehe so hart, dass sie fast ein Drittel abbrennt. Der Tabak knistert. Im Fernsehen Hitler bei einer Rede, den Oberkörper vorn übergebeugt, das Gesicht verzerrt.
Und was meint der Kelzenbach?, frage ich nach einer Weile.
Was soll der schon meinen, der Kelzenbach? Der weiß auch nich‘, wie es weitergeht. Muss man einfach sehen. Ich konnte ja nix machen, die letzten Monate. Dreimal haben die operiert. Und dann immer die gleiche Scheiße. MD, BG, Unterlagen einreichen, Unfallrente beantragen, was weiß ich nich‘ alles. Baustellen hab’n wir genug, die Arbeit, die is ja da. Aber …
Ja, sage ich. Kann ich mir vorstellen.
Er lässt die Kippe in eine offene Flasche fallen, es zischt kurz. Danach schaltet er um auf einen anderen Kanal. Wieder Eishockey. Wir sitzen nebeneinander, ich halte die Zigarette in der hohlen Hand, spüre die Hitze der Glut. Es läuft die Zusammenfassung eines NHL-Spiels, Maple Leafs gegen Bruins. Wir hören dem englischsprachigen Kommentator zu. Seine sonore Stimme kippt, als er: John Tavares with the backhand, scoooores! schreit. Die Maple Leafs gewinnen in Overtime.
Willst du `n Bier? Ich hab‘ welches unten im Auto, hatt‘ ich extra beim Getränkeexpress gekauft, total vergessen. Ich lasse die halb gerauchte Zigarette in die gleiche Flasche fallen und stehe auf. Mühlen-Kölsch, ich kann grad runtergehen. Was sagste, biste dabei?
Ich bin hier, sagt mein Bruder, ohne mich anzusehen. Ich geh nirgendwohin.
Im Flur mache ich das Licht an, blicke in das Schlafzimmer, ein schmaler, langer Raum der an den Hinterhof grenzt. Das französische Bett, Laken und Decke liegen zerknüllt am Fußende, Laptop, Briefe, technische Zeichnungen auf dem Boden verteilt. Hinter dem Schreibtisch, gegenüber dem Fenster, eine große, leere Stelle. Ich kann noch die Umrisse an der Wand sehen, da, wo der Sonnenschein auf die Raufasertapete eingewirkt hat. Wo is`n der Schrank?
Ich höre, wie er sich auf der Couch bewegt, ein leises, unterdrücktes Husten. Ich bleibe für einen Moment in dem Raum stehen, sehe aus dem Fenster, auf die Wiese im Hof, die Grashalme erhellt durch das grelle, zuckende Licht der Fernsehapparate. Die Hecke, den Rest Stadtmauer, die Siedlung dahinter – zweistöckige Genossenschaftshäuser, von deren Fassaden die Farbe abblättert. Dann drehe ich mich um, bleibe in der Wohnzimmertür stehen. Der Schrank, wiederhole ich. Was hast du mit dem Schrank gemacht?
Ach, macht mein Bruder und legt die Füße hoch. Sperrmüll.
Sperrmüll?
War sowieso viel zu groß, das Ding.
Ich sehe mein Bruder, wie er bei der Freisprechung neben mir sitzt, direkt am Gang, in seinem alten Kommunionsanzug, und als sein Name aufgerufen wird, senkt er kurz den Blick, fast verschämt, aber dann lächelt er und zuckt mit der Schulter, als habe er es nicht anders erwartet.
Okay, sage ich leise und mache das Licht im Flur aus. Geh‘ grad runter, ja?
Er schweigt. Er bleibt vor dem Fernseher sitzen. Ich lasse die Haustür angelehnt.

Draußen ist es kühl, in der Luft liegt schon der Geruch von Regen. Der Himmel hat die Farbe von nassem Silber. Ich schließe die Fahrertür auf, lasse mich auf den Sitz gleiten, umfasse mit einer Hand das Lenkrad. Für einen Moment bleibe ich so sitzen, im gelblichen Licht der Armaturen, dann schließe ich die Tür und es wird wieder dunkel. Das Bier steht im Fußraum. Ich beuge mich über die Mittelkonsole, reiße die Umverpackung auf und ziehe eine Flasche heraus. Das Glas ist eiskalt. Kondenswasser auf dem Etikett. Ein Kater überquert die Straße, sein Körper geduckt, die Bewegungen geschmeidig. Ich klemme mir die Flasche zwischen die Schenkel und starte den Motor. Der Diesel springt mit einem kurzen Ruck an. Im Radio ein Song von Creedence Clearwater Revival. Bad Moon Rising. Die erste Gang kratzt, der Schaltknüppel ist so kalt wie das Glas. Ich fahre. In den zweiten Gang, den dritten, der Motor läuft gleichmäßig, der Duster rollt leise den Tönnisberg hinab. Unten an der Kreuzung halte ich vor dem STOP-Schild. Rechts der neu eröffnete Asiate. Das Geschäft ist längst geschlossen, nur der gedämpfte Lichtschein der Reklame erhellt noch den Häuserblock. Ich war mit Lisa letzte Woche dort. Sie hat ihr Gericht mit Stäbchen gegessen - Reis mit Garnelen in Erdnusssauce. Ich hatte Frühlingsrollen und dazu ein dünnes Bier. Als ich anfahre und die Kreuzung überquere, beginnt es zu regnen. Nieselregen, der die Frontscheibe vernebelt. Der Wind verweht das braun verfärbte Laub. Die Straßen leer. Nur das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt und John Fogerty’s Stimme aus dem Radio. In den Kreisverkehr, links abbiegen, am Affenfelsen vorbei. Auf einem der großen, gelb angestrichenen Balkone steht ein Raucher, die Glut seiner Zigarette ein einsamer, rot flirrender Punkt in der Dunkelheit. Über die Kaiserstraße, am Knast vorbei. Hinter der Unterführung halte ich mit laufendem Motor am Straßenrand, kurbele das Seitenfenster herunter, schmecke die Abgase in der Luft. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen, denke an nichts. Zumindest versuche ich es. Dann lege ich den Rückwärtsgang ein.

Er steht an der nächsten Ampel, die Hand auf dem Drücker, den Blick Richtung Himmel. Der Wind zerrt an seinem Bademantel, bläht die Hälften auseinander. Regen tropft aus seinem langen, blonden Haar. Ich halte auf dem Bürgersteig, stelle den Motor ab. Als ich aussteige, nehme ich das Bier mit. Das Glas ist immer noch eiskalt. Ich halte ihm die Flasche hin, aber er dreht sich nicht um, sieht mich nicht an. Ich öffne die Flasche mit der Kante meines Zippos. Der Kronkorken landet in einem Rinnsal neben dem Gulli. Schließlich nimmt er die Flasche und lächelt schief. Wenn du mit Holz arbeitest, also so richtig, den ganzen Tag lang, von morgens bis abends – weißt du, was ich meine?, dann … keine Ahnung, dann riechst du irgendwann danach, dein Schweiß, deine Haut, deine Haare, alles, dann ist es so … er hält inne und schüttelt den Kopf. Vater sagte immer, ich rieche wie ein Baum.
Wir beide lachen, leise, fast tonlos, und dann nimmt er den ersten Schluck.
Warum hast du das mit dem Schrank gemacht?
Der Regen läuft seinen Hals hinunter, verschwindet im Ausschnitt des T-Shirts, der Stoffrand ist dunkel vor Nässe. Er führt die Flasche mit seiner gesunden Hand an die Lippen, schließt die Augen und trinkt einen Schluck, dann noch einen. Ganz langsam setzt er die Flasche wieder ab, lässt sie bis auf Hüfthöhe gleiten. Jeder kann so einen Schrank bauen, sagt er dann. Das ist nichts. Du brauchst nur einen Plan, einen Plan, das ist alles.
Der Regen wird stärker. Unser Atem kondensiert. Wir schweigen.
Komm, reden wir drinnen. Reden wir drinnen weiter.
Ja, sagt er und nickt.

Ich gehe los, ein, zwei Schritte. Er steht immer noch da, im strömenden Regen, die Flasche Bier in der einen Hand, die andere auf den Ampelmast gelegt, sanft, fast zärtlich.

 
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viel stärker.

Ach nee, das glaube ich nicht. Das siehst du eventuell so, was ja auch okay ist. Ich sehe das allerdings etwas anders.

Im Moment habe ich das Gefühl, dass da ganz viel in deinem(!) Kopf ist.

Natürlich, es ist ja auch meine Geschichte. Ich könnte das selbstverständlich auch zurückgeben: Über was wir hier reden, woran wir uns aufhängen, das ist alles in deinem Kopf. Du würdest den Text einfach nur gerne so sehen und lesen, wie du ihn geschrieben hättest.

Das lässt mich das Haupt kratzen, der macht nix falsch, der Bruder ist nicht genervt, erstaunlich.
Warum sollte der etwas falsch machen? Warum sollte der Bruder genervt sein? Vielleicht wäre das in einer Geschichte von dir so. Bei mir ist das eben nicht so.

 

Warum sollte der etwas falsch machen? Warum sollte der Bruder genervt sein? Vielleicht wäre das in einer Geschichte von dir so. Bei mir ist das eben nicht so.
Stimmt. Haken dran. Deine Geschichte. Und ja, bei mir würde er ihm auf die Nerven gehen. :D

 
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Hallo @jimmysalaryman!

Ein paar ganz subjektive Eindrücke meinerseits! Eine sehr stimmungsvolle, bildreiche, tolle Geschichte, so habe ich es zumindest empfunden.

Für mich ist das erstens eine Geschichte über Hände. Über den Verlust von Selbstbewusstsein und Eigenwürde eines Menschens, dessen Gesellenstück gestern prämiert und heute zu Sperrmüll degradiert. Und vielleicht über die Unfähigkeit, diesem Verlust angemessen zu begegnen, ihn in Worte zu fassen, kurzum: Über Frust aus Hilflosigkeit. Die vielen, alltäglichen Handgriffe - Lenkrad, Zippo, Kölsch im Kiosk - gewinnen vor diesem Hintergrund an Bedeutung und fördern die Tristesse des Bruder-Daseins hinter zugezogenen Jalousien. So habe ich das zumindest verstanden. Denn vieles, was deine Protagonisten tun, benötigt ein oder zwei Hände.

Sie stellt die Tasse vor mich hin und nimmt sich eine Zigarette aus meiner Schachtel. Für einen Moment betrachtet sie den Filter, liest den Schriftzug – CAMEL – dann zuckt sie mit der Schulter und sagt: Hast du mal Feuer?
Ich nicke und reiche ihr das Zippo.
Dein Bruder, sagt sie leise und öffnet die Schutzkappe. Der … ich weiß nicht.

Schon hier, am Anfang. Alles Hand-lungen (haha [Flachwitz aus]).

Zweitens ist das eine Geschichte über Bewegung, Stillstand führt in die Agonie (mir ist leider kein besseres Wort eingefallen), über etwas aufbauen und Nicht-mehr-aufbauen-können:

Das Bier stelle ich auf den Beifahrersitz und starte den Motor. Die Straßen sind frei, kaum Verkehr. Ich fahre an der Grundschule vorbei, biege am neu gebauten Kreisverkehr ab, den Seidenberg hinunter. Ab der Hälfte nehme ich den Gang raus, lasse den Wagen im Leerlauf rollen. Die Flutlichter im Stadion sind eingeschaltet. Mittelrheinliga. In die Stichstraße links. Graues Mietshaus. Ich drücke die Klingel an der Haustür, ein lauter Ton schrillt durch das ganze Treppenhaus. Nach dem sechsten oder siebten Mal höre ich seine Stimme an der Gegensprechanlage.

Ich finde die Fahrt zum Bruder sehr wichtig für die Geschichte - die Protagonisten bleiben ja hinter ihren Verwandtschaftsrollen versteckt, Mutter, Bruder, Bruder, während rheinische Lokalitäten wie der Seidenberg erwähnt werden. Als bewege sich in der Stadtgeographie mehr als in der eigenen Familie. Der neu gebaute Kreisverkehr scheint für mich das einzige Element von Aufbruch zu bedeuten, die Mittelrheinliga - nunja, das klingt nach der Fußballprovinz und Stochern auf Rasen am Rande der Spielfähigkeit, aber auch nach Kampf, Hoffnung und "So-einen-Scheiß-haben-die-noch-nie-gespielt" und trotzdem geht man zu jedem Heimspiel brav hin. "Gegensprechanlage" stellt die Brüder für das Gespräch auf, für mich hat dieses Wort immer etwas "Hier ist blau und da ist rot und die Grenze befindet sich exakt hier."
Und dann folgt das Gespräch mit dem Bruder, der eine Doku über Braunbären anschaut, die doch nicht attackieren und kämpfen. Da steckt ein hoher Symbolgehalt und ein weiter Interpretationsspielraum drinne, aber: Das wirkt bei dir nie künstlich oder aufgesetzt, anders gesagt: Es passt einfach. Vielleicht ist das auch die Stärke deiner Geschichte(n), die Details reflektieren die Beziehungen der Charaktere, ohne das sie aufgesetzt, überkünstelt wirken, sie existieren unabhängig von der Situation. Beispiele gibt es ja viele, aber ich fühlte mich spontan etwas an Usher von Edgar Allan Poe erinnert. Aber gut, das ist wahrscheinlich literarisch ein sehr grobholziger Vergleich. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt.

Wie geht‘ s dir?, frage ich, ich betrachte sein Gesicht dabei, und da ist etwas mit seinen Augen, sie sehen eingefallen aus, alt und müde, der Blick starr.
Er nimmt die Fernbedienung von der Couchlehne, fährt mit dem Daumen langsam über die Knöpfe.
Ja, sagt er leise. Muss.

Vielleicht ist das zu banal, aber das erste, was mir auffiel: Keine Anführungszeichen. Finde ich super. Als könnte der Bruder an diesem Ort zu seinem Bruder keine anderen Worte sagen. Eine Zwangsläufigkeit des Dialogs. Naja, was sollen sie auch sonst sagen? Eben. Besonders stark finde ich dabei den letzten Satz.

Ja, sagt er leise. Muss.
Ja, sagt er leise, muss.
"Ja", sagt er leise: "Muss."

Da steckt in so einem kleinen Satz dieser ganze Frust des Handwerkers drin. In dieser kleinen Pause vor dem "Muss". Gut, vielleicht übertreibe ich, aber wenn ich deine Geschichte, warum auch immer, auf einen Satz reduzieren müsste: Ich würde diesen Satz nehmen. Die Pausen halte ich für wichtiger als das Gesagte. Unsicherheit, Hilflosigkeit, Scham, Trauer, Frust, Überfrust, Familie, da braucht man Zeit, um irgendein Wort auszuwählen.

Wir sitzen nebeneinander, ich halte die Zigarette in der hohlen Hand, spüre die Hitze der Glut.

Das provoziert die Frage, ob die Nerven an der Hand des Bruders ebenfalls geschädigt sind. Im Grunde kontrastiert ja jede Handbewegung und jede sensorische Empfindung, egal von wem und für was, mit der verbleibenden Handmotorik des Bruders.

Der Schrank, wiederhole ich. Was hast du mit dem Schrank gemacht?
Ach, macht mein Bruder und legt die Füße hoch. Sperrmüll.
Sperrmüll?
War sowieso viel zu groß, das Ding.

Hier fragte ich mich, wie der Bruder den Schrank zum Sperrmüll gebracht hat. Andererseits scheint in jeder Stadt ein eigenes Sperrmüllsystem zu existieren, vielleicht gehen die ja im Rheinischen in die Wohnung, aber: Ich kann mir richtig, richtig gut vorstellen, wie der Bruder mit Ellenbogen und Fußtritten den Brandschrank zur Straße tritt. Wie sich die Wut über die körperliche Behinderung am Gesellenstück entlädt.

Im folgenden Absatz beschreibst du ausschließlich die Umgebung, die Autofahrt, außer einer Lisa und ein Essen beim Asiaten, der Ich-Erzähler tritt nur einmal auf. Konnte mir super vorstellen, wie er einfach nur nachdenkt. Einfach nur denkt. Am Asiaten im Rheinland steuert die Geschichte auf die zentrale Frage zu, kehrt er zurück oder nicht. Ich denke, dass beide Varianten - es gibt noch Hoffnung oder es gibt keine Hoffnung - zu deiner Geschichte klangvoll gepasst hätten. Mir gefällt aber deine gewählte besser. Deine Geschichte zeigt, man kann einen Ansatz finden, aus dieser Erstarrung, aus dieser Hilflosigkeit zu entkommen und das geschieht ausgerechnet mit Einlegen des Rückwärtsgangs. Vielleicht ist das auch zu viel interpretiert. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.

Somit ist deine Geschichte drittens auch eine von Aufbruch, von Planung und Frustüberwindung:

Jeder kann so einen Schrank bauen, sagt er dann. Das ist nichts. Du brauchst nur einen Plan, einen Plan, das ist alles.

Tja. Dann ab zu Physio- und Ergotherapie. Wobei, es geht hier ja nicht nur um das medizinische.

*****
Lieber @jimmysalaryman, ich habe deine Geschichte sehr, sehr gerne gelesen. Du kannst es einfach, du schaffst eine tolle Atmosphäre und flechtest die Details gekonnt ein. So bleibt deine Geschichte keine Ansammlung von Effekten und Tricks, sondern bildet etwas Ganzes ab, eine Mischung von Stimmung, Beziehung, Frust, Selbstbewusstsein und Selbstbetrachtung, sprich von der oft schmierigen und superkomplexen Realität.

Aber - mir gefällt der Titel nicht. Ich finde auch "Landschaft" für Deine reduzierte, realitätsnahe Geschichte unpassend. Das hat etwas weites, harmonisches, diffus begrenzbares, kulturelles. Kurz dachte ich einfach nur an "Handarbeiten" oder simpel "Muss", aber zufrieden wäre ich damit auch nicht. Aber ja, subjektive Meinung.

Lg aus Leipzsch,
kiroly

 

@kiroly

danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar. Ja, es ist natürlich auch eine Geschichte, in der es um das Tun geht, also um die Physis. Verfall ist ja dem Menschen vorprogrammiert, den einen ereilt es früher, den anderen später, für mich stellt sich immer nur die Frage, wie man damit umgeht. Das hier, in dem vorliegenden Text, ist ja eine recht spezielle Situation. Viele scheinen gar nicht zu wissen, wie perfekt ihr Körper eigentlich funktioniert, also im Sinne der alltäglichen Praxis - arbeiten, Auto fahren, ein Essen zubereiten, all das passiert ja ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Erst wenn die Sinne nachlassen oder wir einen Unfall haben, spüren wir diese Einschränkungen. Ich denke, da liegt auch ein wenig die Tragik drin, dass man das alles einfach so voraussetzt. Durch diesen Arbeitsunfall hier, wird der Bruder ja ein anderer Mensch, er muss sich anders damit auseinandersetzen, und das nach einem so radikalen Bruch.

Ist schön, wie du diesen Text liest, und vor allem auch die Dialoge, die Pausen und alles. Ich will jetzt nicht da drauf rumreiten, nach dem Motto: GENAUSO habe ich das gewollt, aber es ist halt schön, wenn eine Intention dann eben doch erkennbar ist, wenn der Text wirkt und nachwirkt. Und natürlich sind hier auch Tricks drin, aber ich versuche sie, zu reduzieren, ein Text darf nicht nur das sein, nicht nur aus einem erzählerischen Kniff bestehen.

Der Titel, damit hast du Recht, ich finde den auch mittlerweile behämmert, mir fällt aber auch echt kein anderer, wirklich passender, guter ein, ich überlege da noch.

Ja, hat mich sehr gefreut, und ich bin weiterhin sehr gespannt und neue Texte von dir.

@Rosemary

vielen Dank auch dir. Ich glaube, ob du ein Neuling bist und im Kritik geben geübt bist, spielt eigentlich keine große Rolle, eine Lesermeinung ist immer irgendwie wichtig.

Gruss, Jimmy

 

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