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Die Lady und der Bussard
Als Heiko das Hinterzimmer von Lucky Lukes Bordell betrat, wäre er beinahe über eine Leiche gestolpert. „Heilige Scheiße!“ Eine schwarzhaarige Frau lag vor ihm. Sie trug ein enges Top, Minirock, High Heels. Ein Loch klaffte unter dem rechten Auge, entblößte Fleisch und Knochen. Blut glänzte im Schein dunkelblauer Neonlichter. Heiko erstarrte.
Ein Mann saß in dem Raum, im Schatten, schwang auf einem Bürostuhl hin und her und richtete eine Knarre auf die Tür. Heiko zuckte zurück, erwartete einen Knall.
Der Mann ließ den Arm sinken. „Ach, du bist's“, sagte er. „Du musst mir mit der Hure helfen.“ Er deutete mit dem Kinn zur Toten.
„Luke, bist du wahnsinnig?“, fragte Heiko. „Was ist das hier? Was …?“
„Sorry“, sagte Luke.
„Was … also … scheiße.“ Heiko starrte auf Lukes Pistole.
Lucky Luke legte die Knarre auf den Tisch. „War ein Versehen.“ Er zündete sich eine Zigarette an.
„Ha… Hast du mich deswegen angerufen?“ Er konnte die Tote nicht länger ignorieren. Ihr Gesicht war bleich, die Augen glasig und anklagend. Heiko schmeckte Galle und presste einen Handrücken vor den Mund, um nicht zu erbrechen. Die Luft roch nach Parfüm und kaltem Rauch. „Ich muss gleich kotzen.“
Luke zog an seiner Kippe und blies lässig Qualm aus Mund und Nase. „Komm runter, ich wollt's ja nich, aber die hat mich so angesehen, so wild und wütend, ja, als wollt se mich anfallen. Sowas haste noch nicht gesehen. Musste mich doch verteidigen. Dabei wollt ich nur, dasse die Hüften kreisen lässt. Man muss seine Mädels testen, weißte. Die Kunden, die sind sonst angepisst. Lucky Luke, sagen se dann, du hast mich verarscht, deine Nutten sind scheiße, die haben keinen Bock auf meinen Schwanz. Sowas wüsst ich gern vorher, weißte. Und diese da“, er schnippte Asche Richtung Leiche, „die Irre ist durchgedreht, als ich gesagt hab, sie soll ma ihre Titten zeigen.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Sowas haste noch nich gesehen.“
„Deswegen hast du sie abgeknallt?“
Luke zuckte mit den Schultern. „War Notwehr.“ Er räusperte sich, drehte sich weg.
Haarsträhnen hingen der Frau ins Gesicht. Heiko stieß mit seiner Fußspitze gegen ihren Arm und hoffte, sie würde zucken, blinzeln, irgendwas. Stattdessen kippte ihr Kopf zur Seite. Sie glotzte ihn an. Heiko glaubte, der süßliche Geruch von Verwesung läge in der Luft. „Ich muss hier raus.“ Er stürmte aus dem Zimmer, den Blick auf seine Schuhe gerichtet.
Die Bar des Bordells war verlassen. Keine Kunden, keine Nutten. Es war still. Verschiedene Flaschen füllten die Regale. Harter Alk und Sekt, ordentlich aufgereiht. Die Bardame stand hinter dem Tresen und polierte Gläser. Als sie Heiko erblickte, sagte sie: „Wir haben noch nicht geöffnet.“
Heiko setzte sich auf einen Hocker und hielt sich am Tresen fest, als würde er umfallen, wenn er es nicht täte. „Whiskey on the rocks“, sagte er.
Die Frau lehnte sich vor, lächelte und hauchte: „Haben noch nicht geöffnet.“
„Ist schon gut, Laura“, sagte Luke. Er schlenderte durch den Raum, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, ein Lächeln auf den Lippen. „Der Drink geht auf mich.“
Laura stöhnte, griff ein Glas aus dem Schrank, holte Eis aus dem Gefrierfach. Luke schmiss eine lederne Handtasche auf den Tresen, während er sich setzte.
„Wem gehört die?“ Laura kniff die Augen zusammen, beäugte ihren Boss mit halbgeöffnetem Mund. „Ist noch jemand hier?“
„Sei nich immer so neugierig.“
Laura legte den Kopf schief. „Achso?“
„Haste nichts zu tun?“
„Ich poliere Gläser und wische die Theke.“
„Du könntest die Klos schrubben.“
Laura knallte ein Glas vor Heiko auf die Theke und goss Whiskey ein. „Dafür bin ich nicht zuständig, das hab ich dir schon mal gesagt.“
„Kriegst mehr Geld.“
„Wie viel?“
„Einen Euro die Stunde.“ Luke packte die Whiskeyflasche am Hals. „Mehr is nich drin“, sagte er. Laura reichte ihm ein Glas, das sie gerade poliert hatte. Luke kippte so lange Whiskey hinein, bis es randvoll war. Dann nickte sie langsam und sagte: „Okay, ich mach’s. Aber das nächste Mal sagste gleich, dass ihr euch allein unterhalten wollt. Halt mich nicht für blöd.“ Dann zwinkerte sie Heiko zu und ging.
Luke sah Laura auf den Hintern, bis sie die Tür zu den Pissoirs aufriss und verschwand. Er lächelte, als wäre er in angenehmen Erinnerungen versunken.
Heiko räusperte sich, fragte: „Was willst du mit der Handtasche?“ Er stürzte den Whiskey hinunter, der in der Speiseröhre brannte. Es fühlte sich gut an, normal. Doch das Bild der glotzenden Toten verschwand nicht.
„Ich will wissen, ob die irgendwas … Problematisches dabeihat“, sagte Luke und öffnete die Tasche.
Heiko beugte sich zu ihm rüber. „Drogen?“
„Ja, sowas.“
Das Leder roch neu. Im Inneren ging ein kleines Lämpchen an. Lippenstift, Taschentücher, eine Bürste, ein Portemonnaie. Heiko nahm es heraus. „Lass mich das machen“, sagte er, während er die Geldbörse aufklappte, nur um etwas zu tun.
„Das Weib kam vorgestern zu mir.“ Luke musterte das Etikett der Whiskeyflasche, knetete die Finger. „Hab die vorher noch nie gesehen.“
Die Schrift des Personalausweises war im Halbdunkel schwer zu entziffern. Heiko verengte die Augen und hielt sich den Personalausweis dicht vors Gesicht. „Gabriella Carrato.“
„Italienerin, hm?“
„Sie war einundzwanzig.“ Heiko steckte den Ausweis zurück in das Portemonnaie, nippte erneut am Whiskey und verzog das Gesicht, als das Brennen wiederkehrte. Er hustete und fragte: „Warum hast du mich nun angerufen? Was willst du von mir? Nur den Abend versauen?“
Luke verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Leiche muss weg, bevor wir aufmachen.“
„Wann ist das?“
„Halbe Stunde. Kann nich riskieren, dass jemand mitbekommt, dass hier ne Leiche rumliegt. Weißt ja, wie voll das hier werden kann.“
„Und du erwartest, dass ich dir bei der Scheiße helfe?“
„Ich wüsste nich, wer sonst.“
Heiko stützte die Ellenbogen auf den Tresen und rieb sich mit beiden Händen die Stirn. „Wo soll sie denn hin?“
„Ich kenne da jemanden.“
„Wen?“
„Buckel-Ben.“
„Was?“
„Ja, er hat 'ne krumme Wirbelsäule. Arbeitet in der verlassenen Gießerei vor der Stadt, weißte. Lässt da günstig Leichen verschwinden. Frag mich nicht, wie er das anstellt.“
Heiko drehte das Whiskeyglas und betrachtete die Eiswürfel, die hin und her trieben, gegen das Glas stießen und klirrten. „Hör mal“, sagte er, „damit will ich nichts zu tun haben. Halt mich aus deinen Geschäften raus.“
„Wie lange kennen wir uns nun schon, hm?“
Heiko hob den Zeigefinger. „Komm mir jetzt nicht damit. Sandkastenfreunde hin oder her, ich werde keine Leiche für dich durch die Stadt kutschieren.“ Er stand auf, der Hocker scharrte über den Boden. „Danke für den Drink und für den Schreck, ich geh dann jetzt.“ Er marschierte Richtung Tür, erwartete, dass Luke ihm nachrief. Heiko hatte drei Schritte getan, da fragte Luke: „Wie geht es Alexa und dem Ungeborenen? Sie is im dritten Monat, oder?“
Heiko hielt inne, drehte sich um. „Was soll das jetzt?“
Luke grinste. „Wie viel verdienst du als … Büromensch?“
„Genug.“
„Ja, für Alexa und dich vielleicht, aber wenn ihr dann zu Dritt seid … Hab gehört, Kinder sind teuer.“
Heiko schnaubte. „Du willst mich kaufen.“
„Ich mach dir nur ein freundschaftliches Angebot.“ Luke erhob sich, ging auf Heiko zu, legte die Hände auf seine Schultern. „Zwanzigtausend.“
Heiko riss die Augen auf. „Für eine Fahrt?“
Luke nickte. „Wir sind quasi Brüder. Dir kann man vertrauen, und Vertrauen ist wertvoll, weißte. Bei uns ist da 'ne Stelle frei. Als Cleaner.“
„Das ist ein Witz.“
„Nein, nein.“ Luke packte Heiko am Nacken, ging mit ihm zurück zum Hinterzimmer. „Überleg doch mal, pro Fahrt zwanzig Ocken. Da kommt für den Junior richtig was zusammen. Davon kann ein Bürohengst nur träumen, weißte.“
Manchmal wünschte sich Heiko, er wär woanders; auf einer Insel in der Karibik vielleicht, wo immer die Sonne schien und Papageien in Palmenkronen krächzten. Keine Überstunden, keine ewige Plackerei, um Rechnungen bezahlen zu müssen. Irgendwann würde er seine Alexa nehmen und das Kind und auswandern. Ein neues Leben auf Aruba. Ja, das klang schön. Nach Urlaub, der nie endet. Aber den Traum wollte er anders verwirklichen, nicht so, nicht mit Verbrechen. Heiko sagte: „Dieses eine Mal helfe ich dir. Du hast mich damals oft aus der Scheiße gezogen, als ich ...“
„Scheiß Drogen, hm? Hätte dir nichts geben sollen. War meine Schuld.“
„Egal, du hast mir geholfen, als es mir dreckig ging. Bin dir was schuldig. Aber dann sind wir quitt.“
„Sicher.“ Luke zwinkerte.
Heiko schloss die Augen, atmete durch. In seinem Schädel hämmerte es, seine Schläfen schmerzten. Er rieb sich die Lippen. „Dann fahren wir jetzt besser.“
„Wir?“ Luke zog die Augenbrauen zusammen, als verstünde er nicht. „Du musst alleine los.“
„Warum denn das?“
„Is wie Probearbeit. Musst allein klarkommen, später kann ich ja auch nich ständig neben dir sitzen.“
„Ich habe den Job doch gar nicht angenommen.“
Luke grinste nur und gab Heiko einen Klaps auf die Schulter. „Na, du packst das schon. Dauert nicht lang. Wir verfrachten die Kleine in deinen Kofferraum, ich rufe Buckel-Ben an und sage, ein Freier wär durchgedreht, dann fährst du rüber, und weg isse. Das klappt schon, wirst sehen.“
Die Autobahn war leer. Heikos grüner Golf rollte sanft durch die Nacht, leere Coladosen auf der Rückbank, eine Leiche im Kofferraum. Die Tachonadel verharrte knapp unter dem Tempolimit. Bloß nicht blitzen lassen, keinen Verdacht erregen. Im Radio spielte ein Popsong. Heiko sah in die Seitenspiegel. Er hielt Ausschau nach einem blauen Blinken, wartete auf das Ertönen von Sirenen. Als er nichts erspähte, alles still war - vom Motorengeräusch und einer trällernden Katy Perry abgesehen -, da trommelte er auf dem Lenkrad herum und pfiff zum Takt, als wollte er einem unsichtbaren Beifahrer weismachen, dass alles in bester Ordnung sei, dass er nur durch die Nacht fuhr, weil es ihm Spaß machte.
Als sein Smartphone klingelte, zuckte er zusammen. Er schielte aufs Display, sah den Namen, legte den Kopf in den Nacken, stöhnte. „Verflucht.“ Er drehte die Lautstärke des Radios höher. Dann wischte er über das Display und klemmte das Smartphone zwischen Ohr und Schulter. „Hey Schatz, was gibt’s?“, fragte er. Er musste brüllen, um die Musik zu übertönen.
„Wo bist du?“, fragte Alexa.
„Ein Kollege aus dem Büro schmeißt eine Überraschungsparty. Er wurde befördert. Sehr laut hier.“
„Wann kommst du nach Hause?“ Alexa klang erschöpft. Das war sie seit Schwangerschaftsbeginn häufig.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Heiko.
„Nein, ich musste kotzen, und jetzt kann ich nicht schlafen.“
„Oh … äh, okay. Ich versuche, mich bald vom Acker zu machen. Ein paar Minuten bleib ich noch. Aus Höflichkeit.“
„Und dann kommst du?“
Heiko näherte sich der Abfahrt, die zur Gießerei führte. „Ich …“ Er blinkte, obwohl niemand zu sehen war, und fuhr von der Autobahn. „Nein, Gregor“, sagte er zur Windschutzscheibe, „für mich keinen Ouzo, ich muss noch fahren.“
Alexa sagte nichts, nur Rauschen.
Heiko überlegte kurz, sagte dann: „Ich habe einem Freund versprochen, ihn nach Hause zu fahren … ihn und seine Freundin. Sind sehr nett, du würdest sie mögen. Sie wohnen in der Vorstadt. Ich fahr sie hin, dann komm ich zu dir. Versprochen.“
„Gut. Soll ich dir Pizza bestellen?“
Heiko hatte nicht wirklich Appetit, das brachte das Fortschaffen einer Leiche wohl mit sich, dennoch sagte er: „Oh ja, sehr gerne. Die große mit Oliven.“
„Weiß ich doch. Bis gleich.“
„Ja, bis gleich.“
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“ Kussgeräusche, dann Stille. Heiko warf das Smartphone auf den Beifahrersitz und fühlte sich schlecht. Er wusste nicht, ob er Alexa jemals angelogen hatte.
Die alte Gießerei lag nahe eines Waldes. Bäume verdeckten die Sterne, die Äste waren dünn und blattlos. Heiko fuhr auf das Gelände und machte das Scheinwerferlicht aus. Das hatte er in einem Film gesehen, das machten Verbrecher so. Eins mit der Nacht werden. Der Golf rollte über Kieselsteine, die unter den Rädern knirschten. Das rechteckige Gießereigebäude war nur spärlich beleuchtet. Die Fenster waren schwarz und glanzlos. Nahe des Eingangs stand ein älterer Herr. Als Heiko ihn erblickte, winkte der Mann bereits. So viel zur Tarnung.
Heiko hielt an und stieg aus dem Wagen und reichte dem Greis die Hand. „Heiko. Bin nicht erfreut, Sie zu sehen.“
Der Alte nickte. Er trug ein kariertes Nachthemd und beige Sandalen. Er hatte eine Hakennase und Blumenkohlohren und machte einen geschundenen Eindruck. Er erinnerte Heiko an Bilder befreiter Juden, die ausgemergelt und mit stechendem Blick aus Konzentrationslagern marschierten. Ben hatte tatsächlich einen Buckel. Seine Haltung war krumm, er humpelte. „Kannst mich duzen“, sagte er krächzend. Er roch nach Pisse und Pfefferminzsalbe.
„Okay.“
Ben breitete die Arme aus. „Hab's mir auf der Couch gemütlich gemacht, als Lukasz anrief. Zu schade.“
„Tut mir leid, dass wir dich stören mussten.“
„Hm. Wo isse?“
„Im Kofferraum.“
„Aufmachen.“ Als hätte er den Befehl an sich selbst gerichtet, schlurfte Buckel-Ben zum Golf und riss die Klappe auf. Er beäugte die Leiche und nickte, obgleich es nicht viel zu beäugen gab. Heiko wollte nicht riskieren, dass Gabriella sein Auto vollblutete. Alexa würde gewiss den kleinsten Tropfen bemerken. Also hatte er gemeinsam mit Luke Gabriella gleich in drei Lagen Bettwäsche eingewickelt. Als Heiko die kalten Arme der Leiche erfasste, da war ein Kribbeln durch seinen Körper gefahren. Er hatte sich geschüttelt, sich vor der fahlen Haut geekelt. Und vor sich selbst.
Ben fragte: „Ist sie hübsch?“ Er beugte sich in den Kofferraum und begutachtete den rötlichen Stoff. Dort, wo Gabriellas Kopf war. „Lukasz sagte, sie sei Italienerin. Die sind doch hübsch?“
Heiko zog die Augenbrauen zusammen. „Ja … doch, durchaus.“
„Also?“
„Sie ist tot, von ihrem Gesicht ist nicht mehr viel übrig.“
„Zu schade.“ Der Alte atmete schwerfällig, wirkte betrübt. „Was ist mit ihrem Körper? Hat sie eine gute Figur?“
„Darauf habe ich eher weniger geachtet.“
„Na, ich werd's ja sehen.“ Ben grinste und entblößte drei gelbe Zähne. Mehr hatte er nicht. Heiko gefiel dieses Grinsen nicht.
Gemeinsam hievten sie Gabriella aus dem Kofferraum. Ben legte sie sich über die Schulter. Dann hing sie da wie ein eingerollter Teppich. Ben tätschelte ihren Hintern. „Sie ist noch warm und weich“, sagte er und grinste wieder.
„Was passiert jetzt mit ihr?“, fragte Heiko.
„Sie verschwindet, mehr musst du nicht wissen. Is besser für beide.“ Er schickte sich an, in die Gießerei zu gehen, im dunklen Eingang zu verschwinden. Auf der Treppe, die in das Gebäude führte, blieb er stehen und drehte sich um. „Wie heißt die Kleine überhaupt?“
„Ist das wichtig?“
Ben streichelte ihren Arsch. „Für mich schon. Das macht die Sache persönlicher.“
Heiko zuckte mit den Schultern. „Gabriella Carrato.“
„Carrato?“ Bens Hand entfernte sich vom Hintern der Toten. Er versteifte sich, stand grader, aufrechter. Er blickte nervös gen Himmel, hielt Ausschau nach etwas.
Heiko tat es ihm gleich; aber da war nichts. Kein astronomisches Ereignis, kein Flugzeug, kein Vogel. Nur Sterne und der Mond. Ben fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sagte: „Das ist nicht gut, ganz und gar nicht.“ Er nickte kaum merklich, wirkte dabei wie ein Wahnsinniger. „Du solltest jetzt gehen, Junge. Schnell, verpiss dich. Der Bussard …“ Seine Stimme zitterte. „Ja, der Bussard sieht alles.“ Ben drehte sich um - schneller, als Heiko ihm zugetraut hätte -, schleppte die Leiche in das Gebäude und verschwand in der Finsternis.
Heiko blieb neben seinem Golf stehen, sah sich um. Die Laternen erhellten den Eingang der Gießerei nur spärlich, ansonsten herrschte Schwärze. Am Waldesrand raschelte etwas. Heiko kniff die Augen zusammen. Er glaubte, die Schwingen eines großen Vogels zu hören. Der Bussard, der alles sah und wusste, dass Heiko ein Verbrecher war, der Komplize eines Mörders. Der Bussard würde auf ihn niederstürzen, ihm die Augen aushacken. Heikos Herz raste, Blut rauschte in seinen Ohren. Er riss die Tür seines Golfes auf, setzte sich hektisch ans Lenkrad, startete den Wagen, legte den ersten Gang ein. Das Auto rollte langsam vom Hof. Heiko schaltete das Scheinwerferlicht erst wieder an, als die Gießerei im Rückspiegel mit der Nacht verschmolz.
Am nächsten Tag stand Heiko in der Tür seines Badezimmers, lehnte sich gegen den Rahmen. Alexa stand vor ihm, sah in den Spiegel, richtete sich die Haare. „Zu Bett“, sagte sie mit weinerlicher Stimme. Dann wurde ihr Gesicht ernst, ihre Stimme tiefer, dramatischer. Sie wiederholte: „Zu Bett.“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Nein, irgendwie fühl ich's noch nicht.“ Sie drehte sich um, lächelte. „Was meinst du?“
Heiko betrachtete Alexas Bauch, der noch flach war, sah ihre schwarzen Haare, dachte an die Italienerin. „Hm?“
Alexa sagte: „Lady Macbeths letzte Worte, ich will ihnen etwas Eigenes verleihen, meine persönliche Note.“
„Und?“
„Ich weiß nicht, wie. Traurig oder nachdenklich, mit kräftiger Stimme oder einem Flüstern. Was meinst du?“
„Keine Ahnung, ich mag Shakespeare nicht.“
„Banause.“ Sie nahm ihr Parfüm, das in der goldenen Flasche, und schüttelte es. Das tat sie jedes Mal. Als würde es dadurch besser riechen.
Während sie das Parfüm auftrug, sagte Heiko: „Na, bis zur Erstaufführung wirst du deine persönliche Note schon finden.“
„Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht.“ Das Stück war Alexa wichtig, das wichtigste ihres Lebens. Sie spielte seit ihrer Schulzeit im Theater, hier und da, meist kleine Rollen. Als ihr die Rolle als Lady Macbeth vom Off-Theater angeboten wurde, hatte sie nicht gezögert. Und je näher der Tag der Erstaufführung rückte, desto nervöser wurde sie.
Alexa trug etwas Lippenstift auf und sagte: „Die Probe wird nicht lang dauern, bin zum Abendessen wieder da. Soll ich was vom Chinesen mitbringen?“
„Wenn du willst.“
Sie zog die Augenbrauen zusammen, betrachtete Heiko im Spiegel. „Sag, stimmt was nicht? Bedrückt dich was?“
„Nein, also, schon.“ Er richtete den Blick auf seine Füße. „Ich … ich soll befördert werden.“
Alexa ließ den Lippenstift sinken. „Das sind doch tolle Neuigkeiten, warum also das lange Gesicht?“
„Der Job wär nicht ganz einfach, ich müsste viel fahren, zu anderen Zweigstellen, auch nachts, damit ich morgens da aufkreuzen kann.“
„Was ist das denn für ein Job?“
„So ein Compliance-Ding. Ich müsste sicherstellen, dass in den Betrieben alles sauber abläuft, sich alle an die internen Regeln halten.“
„Hört sich nach einer Menge Verantwortung an.“
„Ja. Aber Verantwortung wird gut bezahlt.“
Alexa sagte: „Und du meinst, das Geld ist so viel Stress wert?“
„Stress? Nein, das ist nicht das Problem.“ Heiko ging auf sie zu, sah sie an. Ihre Haut wirkte im grellen Licht des Badezimmers unnatürlich blass. Heiko dachte an die Italienerin, berührte Alexas Wange. Sie war warm und weich, nicht wie Gummi, nicht tot. Er sagte: „Wenn ich diesen Job annehme, ich weiß nicht, ob ich dann für dich da sein kann, wenn das Kind kommt. Ich kann nicht ständig unterwegs sein.“
„Darum geht es dir?“
„Ja. Ein vernünftiger Mann tut sowas nicht.“
„Das verstehe ich, Schatz. Aber wir verdienen nicht viel, du kannst nicht abstreiten, dass wir Geld brauchen.“
„Schon, aber …“
Sie küsste ihn, er sprach nicht weiter. Sie nahm seine Hände, sagte: „Für unser Kind wäre gesorgt. Das ist zumindest eine Überlegung wert, meinst du nicht? Und du musst das ja nicht jahrelang machen.“ Ihr Atem war ganz nah an seinem Mund, ein warmer Hauch auf seinen Lippen, der nach Erdbeere roch. Auch, wenn es nur der Lippenstift war. Er küsste Alexa erneut, länger diesmal, ihre Zungen berührten sich.
Als der Kuss endete, sagte Alexa: „Ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät.“ Sie ging an ihm vorbei in den Flur, zog sich Schuhe und Jacke an. „Ach ja, heute Morgen ist ein Umschlag für dich gekommen. Er liegt im Wohnzimmer.“
„Von wem? Ich habe nichts bestellt.“
„Keine Ahnung. Steht jedenfalls kein Absender drauf.“ Sie nahm ihre Schlüssel, öffnete die Haustür. „Überleg dir das mit deinem Job. Ich bin sicher, zusammen kriegen wir das alles hin. Andere schaffen's ja auch.“
Nachdem Alexa gegangen war, schlenderte Heiko ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein brauner Umschlag. Heiko setzte sich auf das Sofa, nahm das Kuvert in die Hand. Es war prall und schwerer, als er erwartet hatte. Es war Geld darin, haufenweise Zwanziger. Und eine Notiz. Als kleines Dankeschön für deine Freundschaft, LL. Heiko blätterte durch das Geld, legte dann den Umschlag zurück auf den Tisch. Er wirkte wie ein Fremdkörper, wie etwas, das nicht hierhergehörte, nicht zwischen lila Zierkissen, Vorhängen mit Blümchenmustern und dem Geruch seiner Frau, der am Sofa haftete. „Blutgeld“, sagte Heiko. „An meinen Händen klebt Blut, und es lässt sich nicht fortwaschen, nicht mit zwanzigtausend Litern.“ Er lauschte, als erwarte er ein Urteil, als würde der Fernseher jeden Augenblick anspringen, und ein Richter aus einer dieser Gerichts-Shows würde ihn beäugen und sagen, er hätte sich mit Skorpionen eingelassen, gehöre bestraft. Und dann würden sich Buchstaben auf dem Bildschirm formen. Was getan ist, ist getan. Heikos Spiegelbild im Fernseher veränderte sich. Er trug eine Krone, im Hintergrund waren Palmen und das Meer. Alexa stand neben ihm, hielt einen Jungen bei der Hand. Sie sahen glücklich aus.
Das Telefon klingelte. Festnetz. Heiko stand auf, nahm ab. „Hallo.“
„Heiko Fährmann?“ Die Stimme war die eines alten Mannes und wirkte vage vertraut.
„Ja. Mit wem spreche ich?“
„Ich bin's, Ben. Du musst in die alte Gießerei kommen.“
„Was? Warum?“
„Es gibt da ein Problem mit der toten Italienerin.“ Buckel-Ben klang angespannt.
„Woher hast du meine Nummer?“
Ben schwieg kurz, sagte dann: „Stehst im Telefonbuch.“
„Und was für ein Problem gibt es?“
„Schwer zu erklären. Am besten, du kommst her. Jetzt sofort. Es ist verdammt dringend.“
Das Innere der Gießerei war dunkel. Keine Sonnenstrahlen trafen auf die Betonböden der verlassenen Räume, die von einer Staubschicht bedeckt waren. Es regnete. Heiko ging durch eine große Halle, die einst voller Arbeiter gewesen sein musste. Nun war sie leer. Sogar die Maschinen waren fort. Der Geruch nach Rost und Öl war geblieben. Heiko hörte seine Schritte von den Wänden widerhallen, während er nach Ben suchte. Er fand ihn nicht im ersten Raum, auch nicht im zweiten. Heiko war allein mit dem Trommeln des Regens. Als er auf eine Stahltreppe stieß, die in das zweite Stockwerk führte, hörte er hinter sich ein metallisches Klicken. Und die Stimme eines Mannes. Er hatte einen italienischen Akzent. „Hände hoch und langsam umdrehen.“
Heiko verkrampfte, sein Magen zog sich zusammen. Er hob langsam die Hände, drehte sich um, blickte in die Mündung einer Pistole. Der Italiener nickte zur Treppe. „Rauf da.“
Buckel-Bens Leiche saß auf einem zerschlissenen Bürostuhl. Ein dunkelrotes Loch klaffte auf seiner Stirn, ein Rinnsal Blut lief über sein Gesicht, über seine krumme Nase und die aufgerissenen Augen. Hinter ihm hatte jemand etwas an die Wand geschrieben. Mit seinem Blut. Vendetta.
Neben Ben stand ein älterer Mann, der aussah, als wäre er ein Anwalt. Schicker Anzug, polierte Schuhe. Nur die Knarre in seiner Hand trübte das Bild. Vor seinen Füßen lag eine leere Patronenhülse. Der Mann lächelte. „Hallo, Heiko.“ Er deutete einladend auf einen zweiten Bürostuhl. „Setz dich doch.“ Er sprach perfektes Hochdeutsch.
Der andere Italiener drückte Heiko den Lauf seiner Knarre ins Kreuz. „Beweg dich.“
Heikos Beine fühlten sich schwer an, als wären sie Ballast, der ihm nicht gehorchen würde. Und doch trugen sie ihn zu dem Stuhl und er setzte sich langsam, darauf bedacht, keine unerwartete Bewegung zu machen. Kalter Schweiß klebte unter seinen Armen. „Was … was soll das?“ Seine Stimme klang fremd und dumpf. Er zwang sich, den älteren Mann anzusehen. „Sind Sie … der Bussard?“
Der Mann lachte, so laut, dass Heiko unwillkürlich zusammenschrumpfte. „Hast du das gehört, Claudio? Ich, der Bussard.“
Claudio kicherte, dann traf sein Blick Heikos und seine Miene wurde wieder steinern.
Der Alte sagte: „Nein, Junge, ich bin nicht der Bussard. Wenn ich es wäre, wärst du schon tot.“ Er stand vor einem Fenster, war kaum mehr als eine Silhouette vor grauem Hintergrund. „Ich bin Enzo. Ich unterhalte mich gern mit Leuten.“ Er ging auf Heiko zu, beugte sich zu ihm herunter. „Wenn du verstehst.“ Er zückte eine Zigarettenschachtel, hielt sie Heiko unter die Nase. „Nur zu.“
Heiko schluckte, sagte: „Ich rauche nicht mehr.“
„Sehr weise.“ Enzo steckte sich eine Kippe in den Mund. „Stört es dich, wenn ich rauche?“
Heiko wusste nicht, was er sagen sollte.
Enzo nickte nur, zündete die Zigarette an. Nach zwei Zügen fragte er leise, fast einfühlsam: „Warum habt ihr sie umgebracht?“
„Wen?“
„Ich warne dich, komm mir nicht so.“
„Ich … es war ein Unfall, Lukasz hat …“
Enzo hob die Knarre, richtete sie auf Heikos Stirn. „Unfall? Die Polen knallen die Tochter meines Bosses ab und nennen es Unfall?“ Enzo sah Heiko lange in die Augen, dann lächelte er. „Nun, Buckel-Ben hier hat gesagt, dass du für Lukasz arbeitest. Irgendwas musst du wissen. Oder meinst du, Buckel-Ben hat gelogen? Das tun Männer selten, wenn ein Messer in die Nähe ihrer Eier kommt.“
„Ich weiß nicht, warum Lukasz das getan hat, wirklich.“
Enzos Arm zuckte, Heiko schloss die Augen. Doch es ertönte kein Knall, er spürte keine Schmerzen. Enzo ließ den Arm sinken und sagte: „Na, warum Lukasz und sein Luden-Daddy das getan haben, ist unwichtig.“ Enzo zeigte auf die blutige Schrift an der Mauer. „Vendetta, Blut für Blut. Der Sohn des Polacken für die Tochter des Bussards. So einfach ist das.“
Heikos Finger gruben sich in die Lehnen des Stuhls. Er fragte: „Und was wollt ihr von mir? Ich habe die Leiche nur hergefahren, nur ein einziges Mal für Lukasz gearbeitet. Bitte, ich bin nur ein Kumpel.“
„Oh, das wissen wir.“ Enzo lächelte, es wirkte fast väterlich. Aber die Augen blieben kalt und berechnend. „Hast du dein Handy dabei?“
„Mein … was?“
„Claudio, der Mann ist schwerhörig“, sagte Enzo.
Claudio sagte: „Soll ich ihm Schrauben durch die Hoden jagen? Funktioniert besser als jedes Hörgerät.“
Enzo nickte. „Ja, das kann nicht schaden.“
Heiko riss die Augen auf. „Halt, nein, nicht. Ja, ich habe mein Handy dabei.“
Enzo lächelte wieder, entblößte seine weißen Zähne. „Sehr gut. Ruf deinen Freund an.“
„Lukasz?“
„Um welchen deiner Freunde geht es hier denn, hm?“ Seine Stimme wurde scharf. Als müsste er seinen Zorn gewaltsam im Zaum halten. „Wir wissen nicht, wo er sich versteckt. Ich sag dir was. Find es für uns raus, dann darfst du dein beschissenes Leben behalten. Sind schließlich keine Unmenschen. Nicht wie die Polacken, nein.“
Claudio sagte: „Sind alles besoffene Wilde.“
Enzo sagte: „Tu das für uns, dann lassen wir dich in Frieden. Und Lady Macbeth auch.“
„Was?“
„Hast mich schon verstanden. Das wäre wahrlich ein schwerer Schlag für das Theater, vor allem so kurz vor der Erstaufführung.“
Claudio verschränkte die Arme. „Eine Tragödie.“
„Woher wisst ihr das alles?“
Enzo sagte: „Facebook.“
Claudio nickte. „Ihr Jungs solltet mal eure Privatsphäre-Einstellungen ändern. Brauchten nur Lukasz' Profil checken, um euch alle zu finden.“
Heiko rieb sich die Stirn, atmete tief ein. „Okay, okay, ihr habt gewonnen, ich mach alles. Nur lasst Alexa aus dem Spiel.“
Claudio sagte: „Nur ein Anruf, amico.“
„Jetzt?“
Enzo schnaubte. „Nein, an Heiligabend, dann kannst du ihm gleich frohe Weihnachten wünschen.“ Er wandte sich an Claudio. „Ich werde langsam zu alt dafür, fürchte ich. Waren die Arschgeigen schon immer so schwer von Begriff?“
Claudio zuckte mit den Schultern. „Glaub nicht.“
Heiko hob die Arme. „Okay, ich rufe ihn an.“ Seine rechte Hand wanderte zu seiner Hosentasche. „Ich hole nur das Handy raus.“
Enzo sagte: „Siehst mir eh nicht aus, als hättest du 'ne Knarre dabei, stronzo.“
Heiko wählte die Nummer, es piepte, dann erneut. Er fühlte sich schlecht, als würde Enzo ihm einen Dolch überreichen, den Heiko in den Rücken seines besten Freundes rammen müsste, wieder und wieder, besudelt von Blut. Es piepte immer noch. Gerade als Heiko glaubte, auf die Mailbox sprechen zu müssen, erklang ein müdes „Hallo“.
„Luke?“
„Was los, Heiko? Bin voll im Arsch, war 'ne lange Nacht. Ist's wichtig?“
„Ziemlich. Ich möchte mit dir sprechen.“
„Worüber?“
„Das Jobangebot. Ich denke, ich werde es annehmen, aber ich habe noch einige Fragen.“
„Sehr gut, das ist genau das Richtige für dich, das hab ich im Urin. Was willste noch wissen?“
„Wie wär's, wenn wir uns persönlich treffen? Alexa ist gerade im Theater, ich hätte Zeit.“
Luke antwortete nicht. Heiko sagte: „Ich bringe Wodka mit. Komm, wir machen uns einen schönen Abend, Amigo.“
Luke schlug auf etwas, wahrscheinlich einen Tisch, und sagte: „Scheiße, Mann.“ Amigo war ihr Codewort, seit Schulzeiten schon. Wenn Gefahr im Anmarsch war, brauchte man nur Amigo zu sagen, schon wusste der andere Bescheid. Hatte sie oft vor Ärger mit Lehrern und Eltern bewahrt, die was gegen das Rauchen und Saufen und das Angucken von Pornoheften gehabt hatten. Luke fragte: „Die Italiener?“
„Ja.“
„Hör zu, ich versteck mich bei Laura. Wir sind zusammen, weißte.“
„Ich verstehe.“
„Sie soll die Scheiße nich mitkriegen. Die Carrato-Schlampe, sie wollte mich erpressen, zur Polizei gehen und denen einen anonymen Tipp geben, alles sagen, all die Verbrechen und so, wenn ich meine Läden nich den Itakern überschreibe. Keine Ahnung, ob die Beweise hatte, aber riskieren wollt ich's nich.“
„Achso. Klar, ich bringe Karten mit. Doppelkopf? Klingt gut.“
„Sag den Makkaronis, ich würde mich im Golden Lady verschanzen. Da warten dann ein paar Jungs auf sie. Und Blei.“
„Alles klar, so machen wir's.“
„Danke, Bruder.“
„Kein Ding, bis dann.“ Heiko legte auf. Sein Schädel brummte, ihm war übel. Luke hätte ihn früher nie in Gefahr gebracht, erst recht nicht Unbeteiligte wie Alexa. Luke hatte sich verändert, war eine Schlange, die alles vergiftet. Und wie er über Tote sprach, so als wäre das nichts. Er würde Heikos Familie immer wieder schaden, immer häufiger versuchen, Heiko in seine Geschäfte zu ziehen. Leiche über Leiche, Blut, Gedärm und Leid. Heiko würde so enden wie Buckel-Ben, ohne Alexa, ohne Kind, einsam und irre.
Enzo fragte: „Und?“
Heiko nickte langsam. „Er ist bei einer Frau, sie heißt Laura, Nachname weiß ich nicht. Sie arbeitet als Bardame in einem seiner Puffs. Seine Männer werden abgelenkt sein, euch im Golden Lady erwarten. Ihr habt freie Bahn.“
„Sehr gut. Na, wir finden schon raus, wer diese Laura ist.“
Claudio sagte: „Besser du lügst nicht. Du darfst gehen, aber wenn wir wiederkommen müssen, geht's übel für dich aus.“
Enzo packte Heiko bei den Schultern, sein Gesicht kam Heikos ganz nahe. Der Qualm der Kippe zog in seine Nase, er musste husten. Enzo sagte: „Wenn du uns verarscht, bringen wir dich und deine ganze Sippe um, verstanden?“
Claudio grinste. „Ganz klassische Vendetta. Tabula rasa.“
Heiko senkte den Kopf, entgegnete nichts.
Enzo steckte die Knarre weg. „Hier, damit du es nicht vergisst.“ Er drückte die Kippe auf Heikos Hand aus. Schmerzen schossen durch den Arm, Heiko keuchte, schrie aber nicht, das wollte er Enzo nicht gönnen. Der Italiener erhob sich, ging zur Treppe. „Gut. Wir sind dann fertig. Claudio, nimm den Buckligen mit. Den lassen wir den Polacken als Geschenk da. Ist ja bald Weihnachten.“
Heiko saß in seinem Auto. Es war so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte. Seine Hände zitterten, die verbrannte Stelle war rot wie ein Stopp-Schild. Heiko kramte sein Handy hervor.
„Ja?“, erschallte es am anderen Ende.
„Schatz, was macht die Probe?“
Alexa sagte: „Ist gerade vorbei. Lief ganz gut.“
„Das ist schön.“ Er schwieg kurz, überlegte sich die nächsten Worte. „Sag, was hältst du von Urlaub?“
„Jetzt? Im November?“
„Klar, warum nicht?“
„Wohin?“
Die zwanzigtausend Euro wollte er nicht ausgeben, die waren für sein Kind. Mühsam angespartes Geld, das wäre in achtzehn Jahren leichter zu erklären. Für den Moment musste der Notgroschen herhalten. „Vielleicht Rügen, da wollte ich immer schon hin.“
„Du spinnst doch.“
„Nein, ich meine es ernst.“
„Warum jetzt? Warum Rügen?“
Er brauchte Abstand, zu den Italienern und zu Lucky Luke. Er wollte nicht in den Krieg hineingezogen werden, der in den nächsten Stunden anbrechen würde. An der Ostsee würden ihm die nächsten Schritte schon einfallen. „Komm schon, das wird toll. Wir können eine Auszeit gut gebrauchen.“
„Was ist mit deiner Arbeit? Und meinen Proben?“
„Schatz, nur eine Woche. Ich habe mir schon freigenommen. Und am Meer überkommt dich vielleicht die Inspiration. Du weißt schon, für deine Lady Macbeth. Das werden die im Theater sicher verstehen.“
Kurzes Schweigen, dann: „Lass uns zuhause darüber reden, ja?“
„Okay.“
„Bis dann.“
Heiko legte auf, und dann erschrak er. Luke saß auf dem Beifahrersitz. Ein Dolch steckte in seinem rechten Auge, seine Wange war voller Blut. Mit steinerner Miene musterte er Heiko.
Heiko zwang sich, wegzusehen, blickte in den Rückspiegel, sah sein blasses Gesicht, den Schweiß auf seiner Stirn. Er sagte: „Das ist nicht echt, nur Luft. Du bist tot.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Schon tot.“
Luke verschwand nicht, würde es nicht, nicht heute, nicht morgen, nie.
Die Sonne ging unter, versank langsam hinter der Ostsee. Heiko und Alexa spazierten am Strand, unter ihren Schuhen nasser Sand, das Meer zur Linken, Strandkörbe und Hotels zur Rechten. „Schön hier“, sagte Alexa. „So ruhig.“ Es waren kaum Leute da. Nur zwei weitere Menschen waren am Strand, schwarze Punkte, weit entfernt am Horizont.
„Ja“, sagte Heiko. Anders als daheim, dachte er. Heute kam es in den Nachrichten. Schießerei im Wohnblock, hieß es. Zwei Tote, Mann und Frau, Lukasz und Laura. Jemand hatte mit Blut Vendetta an die Wand geschrieben.
Alexa sagte: „Ich bin froh, dass du diese Idee hattest.“
„Ich auch, Schatz.“ Die Wellen rauschten. Der Wind war stechend kalt, aber das störte Heiko nicht. Die Luft roch nach Salz, nach der Weite des Meeres, nach Sorglosigkeit. In der Ferne kreischte eine Möwe. Heiko sagte: „Ich werde den Job nicht annehmen.“
Alexa fragte: „Was? Warum denn nicht?“
Heiko nahm Alexa bei der Hand. „Die Leute da, die in den Toppositionen, die gehen über Leichen. Das führt nur zu bösem Blut. So bin ich nicht, so will ich nicht werden. Das ist es nicht wert.“ Sie küssten sich. Alexas Haare wehten ihm ins Gesicht, streichelten über seine Wange. „Wir finden schon noch andere Wege.“
Alexa lächelte. „Wenn du meinst.“
Zusammen beobachteten sie den Sonnenuntergang, Arm in Arm. „Aber schade um die Kohle“, sagte Alexa.
Heiko sagte: „Ja, doch du hast es damals selbst gesagt.“
„Hm?“
„Andere Familien schaffen es auch.“
Die zwei Menschen am Strand kamen näher, es waren Männer. In der Ferne hupte ein Auto. Heiko hob den Kopf. Keine Vögel am Himmel, keine Bussarde. „Schatz, hast du Hunger?“
„Nein. Obwohl … auf Italienisch hätte ich Lust.“
Heiko lachte. „Nee, ich hab erstmal genug davon.“ Heiko senkte den Blick, betrachtete seine Hände. Die Finger fühlten sich klebrig an, als wären sie voller Blut. Heiko sah zum Meer, zu den orangefarbenen Wolken über den Wellen. „Manches lässt sich nicht einfach wegwischen. Was getan ist, ist getan“, sagte Heiko.
„Was hast du gesagt?“
„Nichts. Schatz, lass uns gehen, ich erfriere.“
Die Gestalten kamen immer näher, es waren keine Italiener. Einheimische, dachte Heiko, sicher Einheimische. Ihre Gesichter wirkten ernst, sie musterten Heiko. Ihre Hände waren in den Taschen ihrer Mäntel vergraben. Es konnten keine Polen sein. Oder hatten sie Lukasz' Handy gefunden? Rausbekommen, dass Heiko ihn verraten hatte? Hatten die Italiener geplaudert, um den Frieden mit Lukes Vater wiederherzustellen? Ich sehe Gespenster, das ist nicht echt, nur Luft.
Alexa sagte: „Na gut, gehen wir.“
Er fragte: „Willst du irgendwo hin, Liebste?“
Alexa schlang die Arme um seinen Hals, lächelte. „Ich bin hundemüde. Es gibt für mich nur noch einen Weg.“ Die Männer hatten sie fast erreicht. Heiko hörte ein metallisches Klicken.
Alexa hauchte, liebevoll und gleichzeitig erleichtert, so als wäre ein große Last von ihr gefallen: „Zu Bett.“
Der größere Mann zückte eine Kamera und fotografierte den Sonnenuntergang.