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Die KonMari-Methode
»Mehr Butter!« Daniel wedelte mit seiner Brezel durch die Luft und seine Mutter wich geübt aus.
Ihr Bruder Bernd hob eine Augenbraue. »Was ist das Zauberwort?«
»Hokuspokus!« Daniel strahlte seinen Onkel an, dann kehrte der sture Gesichtsausdruck zurück, den dieser bereits aus seiner Kindheit kannte. »Mehr Butter!«
»Nein, das ist es nicht.« Trotzdem zuckte Bernds Mundwinkel zu einem Lächeln hoch.
Daniels Vater legte eine Scheibe Schinken auf die aufgeschnittene Brezel. »Dann vielleicht Abrakadabra?« Er grinste Daniel an, der das Wort sofort zu wiederholen versuchte.
Bernd seufzte.
»Wenn du nicht Zauberwort gesagt hättest, würde ich ja ›Lingardio Liviosa‹ vermuten.« Bernd blinzelte seine Schwester ungläubig an. »Harry Potter?« Er schüttelte den Kopf, aber Sarah machte unverdrossen weiter. »Der Zauberspruch für Levitation. Damit könnte sich Daniel die Butter selbst holen.« Sie grinste ihren Sohn an. »Nicht wahr? Wutschen und wedeln.« Sie erlöste Bernd, holte die Butter und bestrich großzügig Daniels Brezel.
»Danke!« Er strahlte seine Mutter an und aß glücklich weiter.
Sie lächelte »Bitte schön.«
Bernd schüttelte den Kopf. »›Bitte‹ ist für einen Zweijährigen zu kompliziert?«
Sarah rollte mit den Augen. »Haben Mum und Dad uns ständig ermahnt ›Bitte‹ zu sagen?«
»Das sagst du nur, weil Papa uns so oft die Geschichte erzählt, dass dein Zauberwort mit zwei ›T‹ ›flott‹ war.«
»Und keiner von uns beiden kann sich daran erinnern. Zeigt aber nur, dass es nicht so wichtig ist, darauf zu pochen, schließlich bist du ein ganz toller Bitte-Sager. Und Daniel ist doch bereits ein ganz toller Danke-Sager.« Sie sah sich suchend auf dem Tisch um. »Wo ist eigentlich der Honig?« Bernd reichte ihn ihr und sie strahlte ihn an. »Danke schön.«
Er ließ den Kopf hängen.
»Daniel, iss deine Brezel auf, dann können wir auf den Spielplatz gehen.« Daniels Vater stand auf und zwinkerte Sarah zu. »Mami hat bestimmt noch mehr tolle Litaneien für Onkel Bernd auf Lager und wir müssen uns ja nicht alle langweilen.«
»Darf ich mit?« Bernd sah ihn hoffnungsvoll an, erntete aber lediglich Gelächter.
»So.« Sarah stellte ihrem Bruder eine Tasse Kaffee hin und setzte sich zu ihm aufs Sofa. »Willst du mir jetzt erzählen, was es mit dieser ›Ich esse nur Obst zum Frühstück‹- und ›Bitte Süßstoff für den Kaffee‹-Sache auf sich hat? Die ›Oh, nur vollfette Milch?‹-Sache nicht zu vergessen.«
»Muss halt ein wenig abnehmen.«
Sarah sah an ihm rauf und wieder runter. »Wo? Oder einfacher: Wer sagt das?«
Bernd zupfte an seinem Pulli herum.
»Muss ich mich durch raten?«
»Wahrscheinlich rätst du nicht sehr lange.«
»Miss Dauer-Diät?«
»Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du sie so nennst.«
Sarah kniff die Augen zusammen, stieß die Luft aus und nickte dann. »Du hast recht.«
Bernd hob eine Augenbraue. »Das war zu einfach.«
»Wenn sie die eine ist, die dich glücklich macht, sollte ich mich darüber freuen, dass du sie gefunden hast.«
Er schwieg.
»Sie ist doch die eine, die dich glücklich macht, oder?«
Er schwieg weiter.
»Ihr seid seit drei Jahren zusammen. Du solltest inzwischen wissen, ob sie es ist.«
Stille.
Bernd verschränkte die Arme und starrte auf den unberührten Kaffeebecher vor sich. »Und wenn nicht?«
»Wenn du es nicht weißt?«
»Wenn sie es nicht ist.«
»Du bist bereits groß. Beantworte dir die Frage selbst.«
Bernd schloss die Tür auf. »Alice?«
Stille antwortete ihm.
Gewohnheitsmäßig hängte er seine Jacke auf, legte den Schlüsselbund in das dafür vorgesehene Körbchen – auf keinen Fall daneben – und stellte seine Schuhe in das diesem Paar zugewiesene Fach.
Bernd sah sich um und in jedem Möbelstück, jedem Bild, jedem genau auf seinem Platz stehenden Objekt sah er Alice.
Gab es hier irgendetwas, das nur ihm gehörte?
Langsam durchstreifte er die Wohnung. Sein Proteinpulver? Nein, das hatte Alice ihm gekauft. Er nahm die Dose in die Hand und drehte sie hin und her. Aber es schmeckte wirklich gut. Sie hatte monatelang recherchiert und ihn mit Geschmacksrichtungen beschossen. Trotz seines Augenrollens, Schulterzuckens und der ausweichenden Antworten hatte sie nicht aufgegeben. Er runzelte die Stirn. Sie hatte gestrahlt, als er es das erste Mal probierte und auf ihre Frage, ob es ihm schmecke, genickt hatte. Wann hatte sie das letzte Mal wegen etwas gestrahlt, das er getan hatte? Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Bauch breit.
Er öffnete den Schrank mit den Tassen. Vor Monaten hatte Alice seine aufgereiht, damit er jede einzelne berührte, um festzustellen, ob sie ihn glücklich machte. Er hatte mit den Schultern gezuckt. Sie hatte eine davon hochgehoben und erklärt, dass sie dann wegmüssten. Hatte sie ihm hingehalten und weitererklärt, dass er sich jetzt bei jeder bedanken müsse wie bereits bei seinen Kleidungsstücken. Daran hatte er sich noch gut erinnert und war mit einem pauschalen ›Danke‹ aus der Wohnung geflüchtet. Sollte sie doch diesen Organisationswahn ausleben, es würde sicher vorbeigehen. Das ungute Gefühl breitete sich von seinem Bauch auf den Brustkorb aus.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss.
»Alice?«
»Wer sollte es sonst sein?« Ein Klirren, ein leises Schleifen, dann trat sie in die Küche und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Türstock.
»Ich habe nachgedacht.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ebenfalls ›Hallo‹.«
Kurz spielte er mit dem Gedanken abzuwinken und sich vor den PC zu setzen, dann nickte er. »Hi. Hattest du einen schönen Vormittag?«
Alice musterte ihn argwöhnisch. »Ich habe Martina beim Putzen geholfen. Du erinnerst dich? Die tränenreiche Trennung?«
Bernd biss sich auf die Lippen. »Sag mal … apropos putzen … wo sind denn meine Tassen gelandet?«
Alice starrte ihn an. »Ich habe sie weggeworfen, sie waren dir nicht wichtig. Hast du das vergessen?«
»Da war die Tasse mit Daniel dabei.«
Alice nickte, beobachtete ihn. »Jedes Mal, wenn du das Bild darauf angesehen hast, hast du gelächelt. Obwohl du da den panischsten Gesichtsausdruck hast, den ich je bei dir gesehen habe.«
Unwillkürlich lächelte Bernd. »Er war so klein.« Dann leckte er sich über die Lippen. »Hast du die Tasse weggeworfen?«
Alice’ Blick hing auf seiner Hand und erst jetzt bemerkte er, dass er sie geballt hatte. Mühsam entspannte er sie, Alice’ Blick wanderte zurück zu seinem Gesicht. »Ich dachte mir schon, dass du nur keine Lust hattest, das Schritt für Schritt durchzugehen.« Er folgte ihr ins Arbeitszimmer, wo sie eine mit ›Erinnerungen‹ gelabelte Box aus dem Schrank zog. »Hier.« Sie lächelte leicht. »Die würde ich doch nie wegwerfen.«
Erleichterung überschwemmte ihn. Er drehte die Tasse in der Hand. »Ich denke, ich habe das Konzept jetzt verstanden.«
Alice’ Mine hellte sich auf. »Echt? Wow! Willst du jetzt doch das Buch lesen? Es ist echt hilfreich.«
»Alice?«
Verwirrt drehte sie sich zu ihm um.
»Mache ich dich glücklich?«
Ihr Mund bewegte sich, doch kein Wort kam heraus.
»Das ist eine einfache Frage, Alice. Mache ich dich glücklich?«
»Es … es geht dabei um Gegenstände. Nur um Gegenstände!«
Bernd kniff sich in die Nasenwurzel. »Wir leben schon eine ganze Weile nur noch nebeneinander her. Ich …« Er dachte nach und nickte dann. »Ich bin in dieser Beziehung nicht mehr glücklich.«
Alice starrte ihn an. Bernd wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, sie beruhigen, aber sie wich aus. »Du wirst mich jetzt nicht anfassen, um zu überprüfen, ob ich dir Freude bereite!«
»Das hatte ich nicht vor! Dieses Konzept ist deine Sache, nicht meine.«
»Aber du benutzt es gerade gegen mich!« Sie flüchtete aus dem Arbeitszimmer und Bernd lief ihr ins Wohnzimmer nach.
»In den letzten Monaten hast du genau zwei Mal wegen mir glücklich ausgesehen. Als mir der Shake geschmeckt hat und gerade eben, als du dachtest, ich würde mit dir auf diesen Marie-Kondo-Zug aufspringen.«
»Du benutzt den Shake bereits seit einem Jahr!«
Bernd zuckte zusammen. Wie lange lebten sie schon so nebeneinander her? »Das macht es nur noch schlimmer.«
Alice warf die Hände in die Luft und ließ ihn stehen.
»Geh mir jetzt bitte nicht aus dem Weg.«
»Wenn du mein Konzept gegen mich anwendest, was spricht dann dagegen, dass ich dein Konzept gegen dich anwende?«
»Alice, wir müssen darüber reden. Bist du denn glücklich? In letzter Zeit hast du ständig Veränderungen vorgenommen. Marie Kondo für unsere Wohnung. Proteinshake für mich. Bouldern, neuer Haarschnitt, neue Mädelsabende für dich …«
»Ich hab nen anderen geküsst.« Alice wandte den Blick zur Seite und legte eine Hand über ihren Mund.
Bernd starrte sie an. Er sollte sich aufregen. Wütend sein. Irgendetwas fühlen. Doch da war nur Leere. »Die Mädelsabende sind aber schon Mädelsabende.« Ausgelaugt ließ er sich auf das Sofa sinken.
Sie nickte müde und setzte sich in den Sessel daneben. »Wir gehen nur Essen.«
Bernd rieb sich über das Gesicht. »Ich werde ausziehen. Martina hat noch nichts Passendes gefunden, oder? Sie könnte bei dir einziehen.«
»Mal sehen.« Alices Gesichtsausdruck verspannte sich.
»Ist sie etwa unordentlich?«
»Das werde ich nicht kommentieren.« Stille. »Du musst nicht ausziehen.«
Bernd seufzte. »Doch. Sonst machen wir einfach weiter wie bisher. Das tut uns beiden nicht gut.«
Alice lächelte freudlos. »Es war nicht immer so, oder?«
»Nein.« Er lachte auf. »Weißt du noch, wie wir uns auf Martinas Hochzeit durch den Gin probiert haben mit dem Ziel, das Aroma schneller als der andere zu erkennen?«
Sie grinste. »Gegen Ende waren wir beide ziemlich schlecht. Aber ich hatte einen Treffer mehr als du.«
Bernd schloss das Gartentor hinter sich und atmete tief den Grillgeruch ein. Zufrieden schlenderte er durch den Garten, nahm Gesprächsfetzen auf und angelte sich eine mit Wassertröpfchen bedeckte Bierflasche aus einer Kiste. Seine Schwester arrangierte gerade Salate auf einem Tisch, ihr Mann stand am Grill.
»Hey.« Er ließ den Verschluss der Flasche plöppen.
»Ah, schön, dass du gekommen bist.« Sarah musterte ihn und lächelte. »Du siehst gut aus.« Sie deutete auf seine Augen. »Entspannt.«
Bernd nickte. »Ja, mir geht es tatsächlich richtig gut.« Er deutete auf eine Brünette in einem hellgrünen Sommerkleid, die etwas abseits stand. »Wer ist das?«
Sarahs Blick folgte seinem Finger. »Eine Kollegin. Neu in der Stadt.«
»Hat deinen Mama-Instinkt geweckt?«
Sarah streckte ihm die Zunge raus. »So ungefähr.«
Daniel kam angerannt, zog die Frau an der Hand zu einer halbhohen Mauer und deutete auf allerlei Krimskrams darauf.
»Ich gehe ihr mal helfen.«
»So eine selbstlose, gute Tat.«
Bernd ignorierte Sarahs letzte Worte und näherte sich der Mauer.
»Pusteblasen!«
»Was willst du?« Die Frau musterte hilflos die Sachen.
»Pusteblasen!« Daniel hopste auf und ab, wedelte mit den Händen herum und in seinen Augen sammelten sich bereits Tränen.
»Ich arbeite ja dran! Pusteblasen … Pusteblasen … Blasen … Pusten. Ah, du meinst Seifenblasen?« Hoffnungsvoll streckte die Frau dem Kleinen die blaue Röhre mit dem gelben Deckel entgegen.
»Danke!« Daniel riss ihr die Seifenblasen aus der Hand und rannte zu seinen Freunden.
»Vom Zauberwort hat er aber auch noch nix gehört.« Die Frau schüttelte den Kopf.
Bernd lachte.