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Die Kiste
War er wirklich so ein Feigling?
Danny starrte die Kiste an.
Wie oft schon war er um sie herumgeschlichen, mit klopfendem Herzen und feuchten Händen.
Wie oft schon hatte er seine Mutter gefragt, wann diese alte Truhe denn nun endlich auf den Sperrmüll käme.
Wie oft schon hatte ihn sein Bruder Meiko geärgert und ihm scheußliche Geschichten vom Schwarzen Mann erzählt, der sich angeblich in der Kiste versteckte.
Danny glaubte nicht an den Schwarzen Mann. Vor ihm fürchtete er sich nicht. Nur vor der Kiste.
Die Luft im Verschlag war stickig. Eine Fliege surrte um Dannys Kopf, doch er bemerkte sie nicht. Seine Augen fixierten das dunkle Holz.
Danny hätte sich gerne eingebildet, dass Ratten in der Kiste lebten oder dass sie moderig roch. Sein Vater jedoch, der hier regelmäßig beim Gartenhaus aufräumte, hatte ihm immer wieder versichert, dass sie leer und lediglich leicht verstaubt war.
Wie oft der Junge auch einen Blick riskierte, nie entdeckte er irgendwelche ekligen Tiere, die seine Abscheu verständlicher gemacht hätten.
Da war nur die Kiste und sonst nichts.
Bist ein Feigling, sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Halt die Klappe, entgegnete eine andere. Aber Danny wusste, dass die erste Stimme nicht schweigen würde. Denn sie hatte Recht.
Alle seine Freunde hatten vor irgendetwas Angst. Manche vor großen Hunden, manche vor einem Gewitter und wieder andere vor dem fiesen neuen Hausmeister. Diese Ängste konnte Danny verstehen. Sie waren unangenehm; jedoch nichts, wofür man sich zu sehr schämen musste.
Aber eine Kiste? Eine alte, noch nicht einmal vermoderte Kiste? Danny ballte die Hände.
Das letzte Wochenende kam ihm ins Gedächtnis, als er nachts in seinem zerwühlten Bettzeug aufgewacht war. Im ersten Moment hatte er sich nicht entsinnen können, wovon er geträumt hatte, doch dann war die Erinnerung über ihn gekommen.
Er wagte es nicht, sich auszumalen, wie Meiko reagieren würde, wenn er erführe, dass sein kleiner Bruder mittlerweile schon nachts an diese verdammte Kiste dachte. Er hatte ihn schon beim Grillfest ständig mit seiner Furcht aufgezogen, als Danny sich weigerte sich auf die Truhe zu stellen um an das oberste Regal zu gelangen. Der Junge verzog das Gesicht, als er sich an Meikos gellendes Gelächter erinnerte.
"Das muss aufhören", flüsterte er. "Das geht einfach nicht so weiter."
Er atmete tief ein und machte einen Schritt auf die Kiste zu. Seine Knie fühlten sich weich an, aber wenigstens wurde ihm nicht übel. Noch nicht. Seine Hand zitterte leicht, als er sie ausstreckte.
"Ganz ruhig", redete er auf sich ein und blies seinen Pony aus der Stirn. Als er den Deckel der Kiste berührte, zuckte er zusammen.
Mach weiter!, schrie eine Stimme in ihm und noch ehe er sich im Klaren darüber war, ob die erste oder die zweite der beiden gerufen hatte, hatte seine Hand den Deckel geöffnet und nach oben gestemmt. Danny unterdrückte einen Aufschrei, indem er sich auf die Lippen biss. Seine Kleidung war von Schweiß durchnässt; dicke Tropfen rannen ihm über das Gesicht.
Hör bloß nicht auf!, feuerte jemand in seinem Innern ihn an und Danny beschloss darauf zu hören.
Wenn du es heute nicht wagst, wirst du es niemals wagen, sagte er sich und er spürte, wieviel Wahrheit in diesen Worten steckte. Sein Shirt klebte an seiner Haut, als er sich schwankend in winzigen Schritten auf die Kiste zubewegte. Seine Atmung kam pfeifend und unkontrolliert, das Blut pulsierte in seinen Ohren. Vor seinen Augen verschwamm alles und nur undeutlich erkannte er den Holzrand, über den er sein schweres Bein hinweghob. Mit einem erstickten Stöhnen polterte Danny kopfüber in die Kiste.
*
Dunkelheit. Stille. Danny schlug die Augen auf und erkannte nur Schwärze. Vorsichtig tastete er mit den Händen am Holz entlang. Die Truhe war eng, aber er hatte zu beiden Seiten noch genug Platz, um sich leicht hin und her zu bewegen.
Sein Herzschlag hatte sich beruhigt. Seine Atmung war flach. Er verspürte keine Angst.
Ein Glücksgefühl durchströmte ihn; er hatte keine Angst! Er lag in der gottverdammten Kiste und hatte keine Angst! Sein Lachen verwandelte sich in ein Krächzen und er hustete. Zu wenig Luft; er musste den Deckel wieder öffnen.
Den Deckel öffnen und gleich zu Meiko laufen, frohlockte er, als seine Hand plötzlich auf etwas Glitschiges stieß. Würmer? Schnecken? Danny schrie auf und fuhr in die Höhe. Sein Kopf stieß mit voller Wucht gegen den Deckel. Der Junge sackte zusammen und fiel zurück.
*
"Ich vorne, du hinten, auf drei - eins, zwei, drei!" Ächzend wuchteten Meiko und sein Vater die schwere Kiste in die Höhe und schleppten sie die paar Schritte zum wartenden Laster.
"Immer mal rein damit", brummte der Fahrer und die beiden Träger hievten die Truhe auf die Abstellfläche zum restlichen Sperrmüll.
Meiko grinste, als der Wagen startete. Sein kleiner Bruder würde sicher Freudenschreie ausstoßen, wenn er davon erfuhr.