- Beitritt
- 16.03.2015
- Beiträge
- 4.215
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 44
Die Kinder schlafen
Wahrscheinlich steckt sich Sabrina gerade die restlichen Strähnen unter das ausgeblichene Kopftuch, als sie ruft: „Wie lange brauchst du da oben eigentlich noch?“
„Suche nur den Sonnenschirm. Bin gleich wieder unten“, sage ich.
„Ich gehe mir Kippen holen.“
„Aber bleib schön im Schatten, Süße! Und creme dich ein! Was ist mit den Kindern?“
„Die schlafen.“ Sabrinas Stimme klingt gedämpft. Sie hat sich den Mundschutz umgelegt.
Im Dachgeschoss irrende Staubkörner reizen meine Nase. Leidige Stauballergie. Diesen unheilvollen Virus, wie er zurzeit kursiert, fangen wir uns nicht ein. Sabrina schützt sich gut, die Kleinen dürfen nicht raus und ich muss wohl immun sein.
Mein Handy klingelt. Unterdrückte Nummer. „Ja …“, grunze ich.
„Ich bin’s.“
„Du schon wieder. Lass mich in Ruhe.“
„Hör mir nur einmal zu! Der Virus breitet sich aus. Ihr müsst zu uns, sofort!“
„Ja, und dann?“ Ich werde lauter. „Ich musste meine Heimat schon mal aufgeben, als der große Schaufelradbagger kam. Vater hat bis zum Ende um den alten Hof gekämpft, hat für seine Familie gekämpft. Wenn er noch lebte, würde er sich nicht wieder vertreiben lassen!“ Eine Träne vermischt sich mit dem Schweiß auf meiner Wange. „Dir war ja alles egal. Hast auf Biotech und Genetik gemacht und dich hinter deinen Mikroskopen versteckt. Hältst dich für was Besseres, werter Herr Doktor! Dabei habt ihr uns ja alles eingebrockt!“
„Verstehe doch! Es geht nicht um den Hof. Es geht um euer Leben!“
„Wir bleiben hier! Bis zum Ende. Für Vater.“ Ich schaue nach draußen. Vertrocknete Felder; verdorben, vergiftet. Heruntergelassene Rollläden, zugenagelte Fenster und Türen. Eine Geisterstadt. Nur die Hartgesottenen sind geblieben oder die, die nichts mehr zu verlieren haben. Und Viehkadaver. Irgendeiner hat die Außenrolladen und die Wände besprüht – ‚Das Ende naht’ und all so apokalyptische Sprüche.
„Ihr müsst zum Sammellager nach Gladbach. Habt ihr noch Benzin? Sonst geht zu Fuß. Haltet euch von den großen Straßen fern. Ich besorge euch alle Papiere, bringe euch nach Köln. Ihr bekommt Kategorie I, wenn ihr Glück habt sogar II. Besser so, als …“
„Besser als was?“
„Sie werden Kleinenbroich … evakuieren!“ Seine Stimme überschlägt sich. „Und die anderen verseuchten Dörfer.“
„Wir bleiben hier, Herr Doktor! Keiner nimmt mir die Kinder weg. Oder den Hof. Ich pfeife auf Sammellager. Auf Isolierstation. Auf deine Seuche, die Hitze. Ich setz mich gleich auf die Terrasse, dreh mir ‘ne Tüte und genieße die Sonne.“
„Sei doch vernünftig. Wir haben Medizin.“
„Ihr werdet nie ein Gegenmittel finden. Irgendwann werden alle krepieren.“
„Verbarrikadiert euch. Wir …“
Ich werfe das Handy aus dem Fenster und wundere mich über den Geruch frisch gemähten Grases. Gegenüber bewässert der völlig vermummte Kloeters seinen Rasen. Was macht der sich die Mühe?
Drei Gestalten versuchen, sein Gartentor aufzuhebeln. Einer, der mich an unseren Wirt Verhoeven erinnert, steigt über den Zaun und reißt sich dabei die Hose ein. Die beiden anderen, die ich oft beim Verhoeven kiffen gesehen habe, folgen ihm. Ich habe verdammt nochmal ihre Namen vergessen.
Kloeters ist aufmerksam geworden und dreht sich um. Die drei völlig high Erscheinenden wanken auf ihn zu.
„Verschwindet, ihr Suffköppe“, brülle ich und schmeiße das erstbeste Buch hinunter, das ich im Regal unter dem Fenstersims finde. Sonnenstrahlen reflektieren am goldenen Einband. Die Bibel landet vor den Füßen des Dritten. Er hebt sie auf und schaut auf das Kreuz. Es hilft nichts: Aus toten Augen starrt er mich an und humpelt dann weiter.
Kloeters hat sich ins Gartenhäuschen verbarrikadiert. Verhoeven rüttelt an der Tür, schnappt sich einen Spaten und schlägt das kleine Glasfenster ein. Der zweite hämmert gegen das Haus, bis seine Hände bluten; der Ungläubige schlägt mit der Bibel die Regenrinne ab.
Verhoeven attackiert mit dem Spaten das Häuschen. Holzsplitter sausen ihm um die Ohren. Einer, so groß wie ein Schuh, bleibt in seinem Auge stecken. Unbeirrt verrichtet er sein Werk weiter. Die beiden anderen stoßen die Regenrinne durch das Fenster und versuchen wohl, Kloeters mit dem stahlummantelten Ende aufzuspießen.
Was soll ich tun? Und wo bleibt Sabrina? Ich muss runter!
In der Haustür bleibe ich stehen. Die dichte Hecke dämpft Kloeters’ Schreie. Ich muss Sabrina finden, darf nicht so weit vom Haus weg. Die Kinder. Aus ihrem Zimmer war kein Laut zu hören. Wie lange habe ich schon nicht nach ihnen geschaut?
Dann ein ohrenbetäubendes Poltern; ein letzter Schrei. Jetzt riecht es nach Benzin. Ich ahne Fürchterliches. Mehrere Zündungsversuche, bis der Rasenmähermotor bedrohlich aufjault. Ich halte meine Ohren zu.
Sabrina stolpert heran. Sie hat einen Gummistiefel verloren, ihr Rock ist eingerissen, der Mundschutz klebt an der Stirn. Ihre Haut ist rot; die Augen weit geöffnet, starr wie die einer Puppe. „Was ist passiert?“ Schweigen. Blut fließt ihr ins Gesicht. „Sag’ doch was!“ Dasselbe Schweigen. Apathisch steht sie da.
Ich schiebe sie in den Flur, lehne sie an die Wand und drehe mich noch einmal um. Der Rasenmäher ist verstummt. Hinter der Hecke ist Gestöhne zu hören.
In der Stube hieve ich Sabrina auf ihren Lieblingssessel, tupfe mit einem Taschentuch über ihre Bisswunde. Sabrina sieht nicht so aus, als würden ihr der Biss oder die herunterhängenden Hautfetzen an den Armen was ausmachen. „Sabrinchen! Was ist passiert?“ Es ist, als würde ich eine Antwort von einem ausgestopften Tier verlangen. Sabrina schließt die Augen. „Halt durch!“
Ich patsche ihr auf die Wange. Noch einmal. Fester. Sie reißt die Augen auf, packt meine Linke und verbeißt sich in sie. Ich stoße sie auf den Sessel zurück.
Plötzlich springt sie auf und umspannt mit beiden Händen meine Gurgel. Wie im Reflex ramme ich ihr ein Knie in den Magen. Sie landet auf dem Boden. Wir werden später wohl doch in die Stadt zum Arzt müssen, denke ich, als ich das Blut sehe, das aus ihrem Hinterkopf fließt und unschöne Muster auf den Fliesen hinterlässt.
Unbeeindruckt versucht Sabrina, sich aufzustützen. Ich presse ihr ein Fuß auf die Brust, drehe mich zum Schrank. Beinahe verliere ich das Gleichgewicht, als sie an meinem Fuß zerrt. Ich schüttle die Hände wie einen lästigen Köter ab und verstärke den Druck; sie keucht immer lauter.
Mit einer Hand wühle ich in der Schublade, bis ich zwei Stricke gefunden habe. Ich setze mich rittlings auf Sabrina und schlage so lange mit der Faust auf ihr Gesicht ein, bis sie fast ohnmächtig wird. Endlich erschlaffen ihre Glieder. Mir gelingt es, ihre Arme und Beine zu fesseln. Ich hoffe, dass die Kinder nicht von ihren unartikulierten Lauten oder dem Fluchen wach werden, und stopfe ihr schließlich Taschentücher in den Mund.
„Sabrinchen …“, wimmere ich. Erst jetzt bemerke ich, dass sie mir ein Stück Fleisch aus der Hand herausgebissen hat. Sie schaut mich wie eine vom Teufel Besessene an. Ich überlege, ob ich ihr zum Ruhigstellen mit dem Rutenbesen einen überbraten soll.
Was für Gedanken habe ich? Wieso tue ich das meiner Frau an?
Woher hat sie diese Kraft? Und seit wann flucht das Miststück so und beißt mich?
Aus dem Kinderzimmer höre ich keinen Laut. Den Kindern geht es gut. Wie soll ich ihnen erklären, dass ich ihre Mama geknebelt und sie ans Schlafzimmerbett gefesselt habe?
Ich stecke mir einen Joint an, den ich in Sabrinas Rocktasche gefunden habe, und überlege die nächsten Schritte.
Draußen wird es laut. Durch das Oberlicht der Tür sehe ich dutzende Menschen in sämtliche Richtungen laufen. Ich erkenne nicht, wer Gejagter oder Jäger ist.
Geräusche von Rotoren; dünne, trockene Äste an den Bäumen brechen ab, fegen über die Straße. Der Boden bebt, als führe ein Mähdrescher durch mein Haus.
Sirenengeheule, Megaphonrufe.
Befehle und Kommandos. Panisches Geschrei. Vereinzelt fallen Schüsse.
Keine Kommandos mehr, nur noch Schüsse. Schüsse.
Irgendetwas explodiert.
Mein Kopf dröhnt. Pochende Schmerzen. Ich spüre meine Gliedmaßen nicht. Zuerst fällt das Hasch auf die Fliesen, dann mein Körper.
Ich nehme stumpfe Schritte und Gemurmel wahr. Rieche noch den süßlichen Duft meines Shits, der irgendwo neben mir liegen muss. Aus trüben Augen erkenne ich weiße Gestalten, die sich über mich beugen. Kleine Sterne grellen auf. Mir ist es völlig egal, dass die Engel mich in meiner Unterwäsche gefunden haben. Hauptsache, sie kommen mich holen. Und meine Frau. Und unsere Kinder.
Glubschaugen hinter Glas begaffen mich. Ich sehe Schläuche, höre rhythmisches Atmen. Handschuhe zerreißen mein Unterhemd. Mir wird eine Spritze in die Herzgegend gestoßen. Panik steigt in mir auf. Die Aliens wollen mich töten.
Zuerst wird es warm. Schließlich kalt. Meine Augen zucken letztmalig. Ich werde müde.
Jemand sagt: „Am Bett gefesselt haben wir eine Frau gefunden. Kategorie 0. Was soll mit dem Mann geschehen?“
„Labor! Sehen Sie sich doch seine Haut an. Unversehrt, zart wie ein Babypopo. Und die Wunde! Fast wieder verheilt …“ Dann flüstert die gleiche, mir seit Kinderzeiten vertraute Stimme: „Womöglich haben wir es gefunden.“ Eine warme Hand streichelt meinen Kopf. „Und jetzt alle raus! Höchste Sicherheit beim Abtransport!“
Ich werde hochgehoben. In meinem Kopf herrscht ein großes Durcheinander. Mein Blut pulsiert, das Herz rast. Ich versuche, meinen Mund zu öffnen. Will was sagen.
Jetzt höre ich eine andere Stimme: „Aber das Familienfoto … da unter dem Kruzifix … Was ist mit den beiden Kindern? Sollen wir sie nicht suchen?“
„Nein.“
„Aber, Herr Doktor …“
„Paul und Emilia haben wir schon vor Wochen rausgeholt.“