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Die Kehrseite von vielem
Der Brief in ihrer Jackentasche schien mit jeder Minute schwerer zu werden. Als sie ihn aus dem Briefkasten geholt hatte, war er noch leicht, ein normales Stück Papier, einfach eine Einladung. Auf dem Weg zur Kanzlei fühlte sie ihn deutlich. Schwer, heiß, unangenehm ziehend wie ein Bauchschmerz.
Im Büro überreichte die Sekretärin ihr die Terminliste und die Unterschriftenmappe. Wanja warf beides auf den Schreibtisch, von wo die Ordner zusammen mit einem Stapel Akten auf den Boden rutschten. Sie ließ den Papierberg liegen. Fälle, dachte sie. Ich habe keine Lust mehr, mich um Fälle anderer Leute zu kümmern. Wieder griff sie nach der Einladung. Ein Klassenfest nach zwanzig Jahren. Und dieses Mal im März.
Wolken ballten sich über der Stadt, flaumige, schneeweiße Gebilde. Schäfchenwolken, dachte sie und fuhr auf der Scheibe die Umrisse nach. Ihr Finger hinterließ einen schweißigen Abdruck. Sch machte sie, als wollte sie ein Kind beruhigen, und noch einmal sch, bis der Laut sich zu einem scharf zischenden Ton zugespitzt hatte.
Wenn sie an Tim dachte, sah sie nie sein Gesicht. Immer nur den Rücken. Die olivbraune, samtene Haut, die trägen Bewegungen, wenn er sich aus dem Bett erhob, um weiterzumalen, den Finger, der schnell noch über seine Schulter fuhr, bevor Tim zu weit weg war; und jedes Mal wunderte sie sich, dass es ihr Finger war.
Als sie Tim das letzte Mal sah, an jenem merkwürdigen Märztag, lief neben ihm Manou. Ihre wunderschöne, goldfarbene Freundin Manou. Ihr Rücken passte so seltsam gut zu seinem, dass es weh tat.
Sie hätten sich verliebt, hatten sie gebeichtet. Zwei treuherzige Hündchen, die nicht anders konnten, als zuzubeißen. Vom Balkon aus hatte sie ihnen hinterhergeschaut. Einträchtig wiegten sie sich davon, erst langsam, dann immer schneller und leichter. Ihre Rücken waren kleiner geworden, zwei Dreiecke im selben eleganten Rhythmus, makellos, ebenmäßig. Aber ebenmäßig waren auch Kamelärsche, wenn sie zum Horizont schaukelten. Am liebsten hätte sie ihnen hinterhergerufen, sie sollten sich verpissen. Doch sie schwieg, denn das taten sie ja schon. Und sie war ahnungslos gewesen, ein gutgläubiges, dickwolliges, sommersprossiges ...
Schaf, zischte sie, dummes, kleines Schaf, Frühlingsschaf. Viel zu viele Schs hatte der verdammte Frühling mit seinen Schneeglöckchen. Sie drehte die Klimaanlage ein paar Grad kühler und stellte das Gesteck mit den zarten, weißen Blüten, das ihr eine Kollegin geschenkt hatte, direkt in den Luftzug.
Für Trauer war keine Zeit geblieben, damals, als Tim und Manou sie verließen. Das Leben geht weiter, sagten die Eltern, die Kollegen, alle, die ihr und Tim ein Jahr zuvor zur Hochzeit gratuliert hatten. Du bist erst zwanzig. Geh in eine andere Stadt, vergiss den Verrat.
Also setzte Wanja ihr Leben fort oder webte ein neues, wer wusste das schon, ohne ihren Mann und die beste Freundin. Und tatsächlich, es schien haltbar, das Leben, wenn auch aus einem weniger leuchtenden Stoff.
Sie formte Körper und Karriere, bis nichts mehr an das dickliche Mädchen von einst erinnerte, heiratete, kaufte sich einen Golden Retriever, erfüllte dem Mann den Kinderwunsch. Nach einer Weile trennten sich ihre Wege. Den Hund behielt sie.
Noch einmal blickte Wanja auf die buntbedruckte Einladung in ihrer Hand. Es knisterte, so heftig faltete sie das Papier zusammen.
Das Treffen war in einem Seitengebäude der Schule, in die sie vor Jahren gegangen waren. Tim, Manou und sie. Der Hof war leer, ein Mülleimer lag umgekippt auf dem Boden, daneben kullerte eine Coladose. Letzte Sonnenstrahlen ließen den Sandstein der Fassade glühen.
Wanja blickte auf ihre Armbanduhr. Als die Tür hinter ihr zufiel, blieb sie einen Moment stehen, atmete tief ein und trat nach vorne, wo die Tische in einem lockeren Rund standen. Gesichter wandten sich ihr zu. Sie wartete, bis das Gemurmel verstummt war, zog langsam ihre Jacke aus, legte sie über den Arm, strich wie zufällig über den flauschigen Stoff und schob ein Bein nach vorn, um die Strümpfe und die teuren Pumps zu betonen. Dann lachte sie, weil sie sich vorkam wie ihr eigener Werbeclip und weil sie für einen Moment nicht mehr wusste, was sie hier wollte.
Tim war da, allein, er saß an einem der Randtische im Halbschatten, als gehörte er nicht richtig dazu.
Eine Freundin von damals, die Frau, die sie angeschrieben hatte, rauschte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Wie schön, dass sie gekommen sei, nach so vielen Jahren, und so erfolgreich und elegant. Das Murmeln im Saal schwoll an und wieder ab, als die Hände der anderen Frau sie zu einem Platz inmitten der Tische geleiteten. Blicke strichen über sie hinweg, um gleich darauf zurückzukehren. Wellenmurmeln dachte sie, Wellenblicke. Alles kehrte wieder. Irgendwann. Aber es tat weh, was da wiederkehrte. Ihr Herz pochte in einem unregelmäßigen Rhythmus, als säße hinter ihrem eigentlichen noch ein anderes, ein kleineres Herz. Sie bestellte ein Glas Sekt, scherzte mit dem Kellner, als kenne sie ihn seit Jahren. Plauderte mit diesem und jener, erkannte alle, auch wenn das Aussehen ihrer ehemaligen Klassenkameraden nicht mehr zu den Namen und Plänen von einst zu passen schien, so sehr hatten Behäbigkeit und Alter verfremdend nüchterne Schichten auf die Gesichter gelegt. Sie fragte sich, ob es den anderen mit ihr genauso erging.
Immer, wenn sie nach links schaute, spürte sie Tims Blick. Später, als sie am Buffet stand, drehte sie sich zu ihm um. In den Händen einen Teller, direkt vor dem Bauch. Wie eine Opferschale, und dabei waren es doch nur Karotten und Bratenfleisch.
Studenten-Bourguignon. Das erste Essen, das sie und Tim in ihrer kleinen Dachwohnung gekocht hatten. Die Karotten waren ihr angebrannt und als sie traurig war, weil sie es doch schön haben wollte für Tim, hatte er Zucker darauf gestreut und gesagt, alles, was anbrennt, wird karamellisiert. Ganz einfach. In jener Nacht liebten sie sich, bis er auf einmal einen Hustenanfall bekam, mitten beim Vögeln, und so darüber lachen musste, dass sie mitlachte und beide sich schließlich auf dem Bett kugelten. Damals hatte sie geglaubt, dass es immer so sein würde. Bitteres süß machen, lieben und husten und lachen.
Tim stand auf und kam auf sie zu.
„Neben mir ist noch Platz.“
„Und Manou?“
„Später.“
Er schob ihr den Sitz zurecht, nahm den Teller, gab ihr ein Glas Sekt. Seine Hand berührte ihre ein wenig zu lang.
Als sie saß, erhob sie das Glas. „Auf mein Leben“, sagte sie. „Und vielleicht auf deines. Hustest du mit Manou auch?“
Er stutzte, nippte dann doch. „Wie ist es dir ergangen?“
„Gut. Sehr gut“, antwortete sie.
„Du siehst auch gut aus.“
„Ja“, sagte sie und musterte ihn. Sein Gesicht war hager, zwischen den Augenbrauen klaffte eine senkrechte Falte.
„Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Er rieb mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel, als hätte er ihren Blick bemerkt.
„Stimmt.“
„Du führst eine große Kanzlei, habe ich gehört.“
„Ja.“
„Und privat?“ Er betonte das Wort, verlieh ihm eine intensive Bedeutung, ein Gefangener zum Beispiel würde Freiheit so aussprechen.
„Auch ja.“ Sie karikierte seinen Tonfall, registrierte, wie in seinen Augen etwas Trübes aufglomm. „Und du?“, fragte sie.
„Lehrer. Hier am Gymnasium.“
Sie blickte auf, tat erstaunt. „Hier? Wo du Schüler warst?“
Er rückte an seinem Stuhl. „Ich hab mich beworben. Konrektor.“
„Das freut mich für dich.“
„Warum klingt das, als würd ich alten Weibern die Fußnägel schneiden?“
Sie lachte. „Nein, es freut mich wirklich. Immerhin Ferien. Und nicht so viele“, sie wischte mit der Hand durch die Luft, „Herausforderungen.“ Sie lachte noch einmal und winkte dem Kellner. „Und was macht Manou? Hausfrau?“
Tim antwortete nicht. Als der Kellner herbeigeeilt war, dankte sie ihm und sagte: „Mir gefällt, wie Sie Ihren Job angehen.“
Der Kellner nickte, lächelte und brachte in Windeseile ein neues Glas. Als er wieder gegangen war, sagte sie: „Der wird nicht lang hier festhängen.“
„Woher willst du so was wissen?“
„Man sieht es. Genauso, wie man es sieht, wenn jemand stagniert. Wann kommt übrigens Manou?“
Tim schloss für einen Moment die Augen. „Weiß nicht, irgendwann.“ Er schluckte. „Du hast dich verändert“, fuhr er fort. „Früher … “
„Früher … was? Wäre ich schüchterner gewesen?“
„Ja.“
„Oder hätte einen anderen Geschmack gehabt?“ Sie streifte spielerisch mit dem Schuh an seinem Bein entlang. Er verzog irritiert den Mund und rückte mit dem Stuhl ab. Als sie kicherte, rückte er wieder näher.
„Das auch“, sagte er.
„Man lernt dazu.“ Sie hob ihr Glas.
„Trinkst du nicht ein bisschen zu schnell?“
„Vielleicht. Aber“, sie tippte ihm auf die Brust, „ich wäre nichts geworden in meinem Beruf, wenn ich nur vorsichtig wäre. Wenn man wirklich gut sein will, muss man sich was trauen. Und ein bisschen spielen. Früher wusstest du so was.“
„Das sagt sich so leicht.“
„Noch leichter lässt es sich tun. Wie wär's damit?“
„Womit?“
„Mit einem kleinen Spiel.“
„Was gibt’s hier schon zu spielen. Schau dich um.“ Er wies auf die anderen Gäste.
„Dann passen wir die Herausforderung der Umgebung an. Hier reicht es, wenn wir einfach rausgehen. Nicht miteinander, aber doch so, dass man uns beide sieht.“
Er schüttelte den Kopf. „Das soll eine Herausforderung sein?“
„Einfach rausgehen mit der Ex? Vor aller Augen? Wie der Bohemien von damals? So viel Fantasie braucht man jetzt nicht, um zu ahnen, worin die Herausforderung bestehen könnte.“ Er starrte sie so verblüfft an, dass sie laut herauslachte. „Ich mach nur Spaß. Aber ich würde die Spießermäulchen hier wirklich mal gern schnattern hören, wenn wir das tun. Früher hätte dir das gefallen. Aber vielleicht willst du ja Rücksicht nehmen. Auf Manou.“
Tim schwieg.
„Und so schweigsam warst du auch nicht.“ Sie rückte an ihrem Glas. „Ich glaube, du hast es nur ein einziges Mal geschafft, etwas Unerwartetes zu tun.“ Sie hob die Hand, um den Kellner zu rufen.
„Schon gut.“ Tim erhob sich und ging hinaus; sie folgte ihm. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie anschwellendes Gemurmel.
Der Gang war lang und schmal, rechts hingen riesige, bunte Gemälde, links verlief eine Glasfront mit tiefen Fensterbänken aus Kunststein, auf denen sie als Schüler gerne gesessen hatten. Sie in der Mitte; ein dicker, blonder Tropfen, nichtsahnend, zwischen den dunklen Pfeilen Tim und Manou. So, als ob sich das nie ändern könnte. Ein Bild fiel ihr auf, helle, unwirkliche Pastellfarben, die sich zu einem Gebirgsmassiv mischten, im Vordergrund Steppe. Mitten darin eine einsame Gestalt, die sich den Berghängen näherte. Ein sehnsüchtiges Bild. Sie malen schön, die Schüler von heute, dachte sie. Sie deutete auf das Steppenbild. „So ähnlich hast du früher gemalt.“
„Es ist von mir.“
Sie nickte. „Gibt es eigentlich die Dachterrasse noch? Wo wir früher geraucht haben und die Lehrer haben nicht gerafft, wo der Geruch herkam? Lass uns raufgehen. Oder hast du“, sie zögerte, „Angst?“
Wortlos führte er sie zu der Tür am Ende des Ganges, die den Aufgang zur Dachterrasse versperrte, und schloss auf.
Als sie die Stufen hinaufstieg, spürte sie seinen Blick auf ihren Hüften. Endlich. Sie schwang das Becken noch mehr, spürte die Pobacken gegeneinander reiben, seinen Blick auf ihrem Hinterteil, wie er das Hin und Her unter dem seidigen Stoff verfolgte.
Der Dachgarten lag im Dunkeln. Nur ein paar Sterne waren zu sehen. Wind pfiff, es war kalt.
Sie kicherte und sagte: „Fast wie früher, nur dunkler. Schade, dass wir keine Zigaretten haben.“
Sie lehnte sich weit über das Geländer und breitete die Arme aus, als wollte sie abheben. „Heho, ihr alle“, schrie sie. Schnell zerrte er sie zurück.
„Du bist wirklich sehr vorsichtig geworden, mein Lieber.“ Sie zog die Schultern hoch. „Kalt ist mir, Pullover her.“
Er stutzte. „Das hast du früher immer gesagt, sogar bei dreißig Grad. Du spinnst. Immer noch.“ Er lachte, zog den Pullover aus und legte ihn ihr über die Schultern, seine Hand streifte ihre Brust. Er stand so dicht, dass sie seinen Atem spürte. Spannung hing zwischen ihnen, ein harter, kleiner Ball, der direkt in den Bauch drückte, schmerzhaft und doch gut. Ihre Brustwarzen richteten sich auf, gleich, gleich hatte sie ihn.
Hinterher würde sie zu ihm sagen, dass es ganz nett war.
Er nahm sie an die Hand und zog sie zu der Wand am Ende der Dachterrasse. „Hier ist es wärmer“, sagte er und legte die Hände auf ihre Schultern. „Was ist jetzt wirklich mit der Herausforderung?“ Seine Stimme klang rau.
„Du kennst sie doch schon.“
Fahrig glitt er über ihre Arme, die Brust, der Pullover fiel zu Boden. Mit einem Ruck schob sie Tim von sich weg. „Nicht hier.“ Sie wies auf eine Lampe ein paar Schritte weiter. „Dort drüben. Im Licht. Wenn du dich das traust.“
Als es hell wurde, sah sie sich wie von fern auf einer hochstehenden Bühne, mitten im Scheinwerferlicht, eine schlanke, blonde Frau in den Armen eines Mannes. Ob noch jemand sie sah, so weit oben?
Er packte sie an den Hüften und zog sie eng an sich. Sein Atem streifte ihre Nase, roch er nach Bratenfleisch? Der Kuss schmeckte überraschend, da war nichts Vertrautes, aber auch nichts, das sie nicht gekannt hätte. Mit einer Hand griff er in ihr Haar, verzwirbelte es zu einem Knoten, mit der anderen schob er ihren Rock hoch. Sie wurde feucht, dieses Haareverknoten, wie nebenbei, das hatte er früher immer gemacht. Sie strich ihm über die Brust, spürte die körnige Haut, dann packte sie sein Hinterteil, zerrte ihn abrupt an sich heran und biss ihn in den Hals. Tim schrie auf und presste sich die Hand vor den Mund. Wanja schob sie zur Seite und nahm seinen Kopf in beide Hände. „Ich will in deine Augen sehen. Wenn du kommst. Und du in meine. Die ganze Zeit.“ Als er endlich in sie eindrang, hielt sie ihn mit ihrem Blick fest, fixierte das dunkelschillernde Braun der Iris, den grünen Rand, bis die Farben zu einem Brei verschwammen, dachte, das müsste ein endloser, tosender Moment werden, doch dann schweifte ihr Blick ab, konnte nicht halten, schweifte zur Wand, wo nur eine Spinne saß, eine Spinne mit kurzen, dicken Beinen und während Tim in sie hineinpumpte, wanderte die Spinne über den fleckigen Verputz, bis sie endlich in einer dunklen Ecke verschwand.
Als er fertig war, küsste Tim sie beiläufig auf den Mund, murmelte, er habe immer bedauert, dass der Kontakt so abgebrochen sei, sie antwortete, manchmal seien die Küsse noch das beste, dann drehten sich beide weg.
Die Tür zum Festsaal quietschte. Köpfe wandten sich ihr zu, nickten, nickten heftiger, als hinter ihr Tim auftauchte, dann nickten sie wieder in andere Richtungen, als wäre nichts geschehen. Die beiden Stühle, auf denen sie vorher gesessen hatten, waren immer noch leer. Manou war nicht gekommen.
Wanja setzte sich, zog den Rock glatt und prüfte ihr Make-up im Spiegel. Tim schob sich neben sie, sein Mund sah fettig aus. Blitzschnell fuhr er mit der Zunge über den Rand der Lippen. Einmal, zweimal, eidechsenartig. So schmale Lippen, dachte sie, warum habe ich das nie bemerkt? Sie klappte ihren Spiegel zu. „Da hast du ja Glück gehabt, dass deine Frau nicht gekommen ist.“
„Manou“, er stockte und sprach dann so schnell weiter, dass sie ihn kaum verstand, „wird nicht kommen.“
Die Enttäuschung war heftig. Ein Gewicht, das sich jäh auf sie legte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie Manou unbedingt hatte sehen wollen. Viel mehr als Tim.
„So ist das.“
„Ja.“
„Dann hoffe ich doch“, sie wies auf die nickenden Köpfe, von denen manche verstohlen herüberblickten, „dass die ihr nichts sagen.“
„Das werden sie nicht.“
„So?“
„Ich hab dir nicht die Wahrheit gesagt, Manou geht nicht aus. Nie. Schon lange nicht mehr. Die anderen hier wissen das.“
Sie griff nach ihrem Sektglas, drehte den Stiel zwischen ihren Fingern hin und her, dann leerte sie das Glas in einem Zug. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht dachte ich, das wäre egal. Vielleicht dachte ich auch, du wärst wegen mir da.“ Ohne sie anzusehen, fuhr er leise fort: „Wir hatten es doch schön zusammen.“
„Hatten wir das?“ Wanja lachte. „Aber das ist alles so lang her. Du täuschst dich, wenn du meinst, ich hätte das da oben wegen dir oder wegen damals gemacht.“ Sie schlug die Beine übereinander, dass ihr Rock nach oben rutschte. „Manchmal habe ich so verdammt Lust.“ Sie strich sich über den Schenkel. „Ich sollte wirklich mehr auf Qualität achten.“
Tim wandte sich ab, sein Atmen klang schwer. „Das sagst du doch jetzt nur, weil du immer noch sauer auf mich bist.“ Er sah sie wieder an. „Können wir das nicht einfach abschließen?“
„Es ist doch abgeschlossen. Ich wollte euch nur noch einmal sehen. Zusammen. Den Konrektor und die Hausfrau im Glück.“
Er schaute nach unten. „Es tut mir leid, dass ich dich damals so verletzt habe.“
Als sie ging und noch einmal zurücksah, saß er noch immer da, den Kopf gesenkt, die Schultern verkrampft, als gehörten sie nicht zu ihm.
Es war leicht, die Adresse von Tim und Manou herauszubekommen. Ein ruhiges Viertel mit engen Sträßchen, alten Häusern und einer Reihe rosa blühender Bäume. Es war früh am Morgen, nur ein paar Leute führten ihre Hunde aus. Der Taxifahrer setzte Wanja vor einem mehrstöckigen Mietshaus ab. Im Flur roch es nach frischer Farbe. Die Briefkästen waren mit Werbeverboten beklebt. Keine kostenlosen Zeitungen, keine unerwünschte Werbung, kein, kein, kein; pro Briefkasten mindestens dreimal. Einen Aufkleber gegen unerwünschte Besuche gab es nicht.
Tim öffnete, er sah aus, als hätte er sie erwartet.
Sie stellte ihren Fuß auf die Schwelle. „Nur ein kurzer Abschied. Unter sehr alten Freunden. Nichts Schlimmes.“ Ihr Lächeln kam ihr selbst falsch vor.
„Du musst mit mir vorlieb nehmen. Manou geht es nicht gut.“
„Ich komme aber zu euch beiden.“
„Ich möchte sie nicht beunruhigen.“
„Das fällt dir ja früh ein. Aber keine Sorge, ich will sie einfach nur sehen.“
„Es geht ihr wirklich nicht gut.“
„Was ist denn überhaupt los, warum verlässt sie nie das Haus? Ist sie krank? Keiner sagt irgendwas, egal, wen ich frage.“
„Sie ist nicht krank, aber ...“
„Ich will sie doch nur mal sehen. Weiß sie überhaupt, dass ich da bin?“
„Nein, ja, schon … “, er druckste herum, „sie will einfach keine Menschen sehen. Warum musst du überhaupt kommen? War dir das gestern Nacht nicht genug?“
„Keine Angst, ich erzähle ihr nicht, was ihr verlogener, kleiner Konrektor so treibt. Sie war meine beste Freundin. Du hast sie nur durch mich kennen gelernt. Und dann habt ihr euch mir weggenommen. Was weißt du schon, wie das damals war?“
„Mein Gott, das ist Jahre her.“
„Ich will sie sehen, so wie ich dich sehen wollte. Vorher gehe ich hier nicht weg.“
„Es ist besser. Wirklich.“
„Ist es dir egal, dass sie nicht mehr das Haus verlässt?"
„Wanja, es reicht."
"Was hast du davon, wenn du sie vor mir versteckst?"
"Das grenzt jetzt an Hausfriedensbruch."
"Mach dich nicht lächerlich, du vergisst, dass ich Anwältin bin." Als sie ihn zur Seite schob, gab er auf.
„Bitte, tu ihr nicht weh“, sagte er und ging vor ihr her durch einen Flur mit braungetüpfeltem Teppichboden, dessen Ränder über die Fußleisten nach oben ragten. Auslegeware, dachte sie, dafür haben sie mich eingetauscht, Auslegeware, die noch nicht mal richtig passt.
In dem Zimmer am Ende des Ganges herrschte erdrückende Hitze. Es war fast leer, ein paar Bilder, ein Regal voller Bücher. Direkt vor dem Fenster stand mit dem Rücken zu ihr ein hoher, breiter Sessel.
Es war merkwürdig, man hörte nichts, kein Atmen, kein Rascheln, kein Scharren. Die Gestalt in dem Stuhl blieb einfach sitzen und rührte sich nicht. Wanja sah zu Tim. Der nickte und wies ihr den Weg in den Raum. Wanja schloss die Augen und ging auf den Sessel zu, sie fühlte sich wackelig, als könnte sie jeden Moment irgendwo anstoßen. Sie hatte immer geglaubt, sie könnte Tim nicht verzeihen, dabei zählte Manou viel mehr. Eine Erinnerung kam ihr in den Sinn. Manou, wie sie vor ihr stand in einer viel zu weiten Latzhose, die Haare hochgebunden zu einer chaotischen Rolle, aus der Locken herauszipfelten. Mit einem frechen Grinsen spuckte sie Schimpfwörter für den Mathelehrer aus, für den Fall, dass er ihr wieder eine Fünf gab. Arschkrapfen, Dampfkacker, Schleimhorni, Krawattenbomber, Formelpupser. Und das Beste war, drei davon hatte sie tatsächlich an den Mathemann gebracht. Manou, so wild und so schön. So hatte sie immer sein wollen. Genau so. Knallorangefarbene Lippen wie Manou? Her damit, auch wenn Wanja aussah wie ein kotzender Clown. Einen Röschentanga? Über den dicken Arsch gezurrt, warum nicht. Manou war immer mit ihr gewesen und trotzdem schneller - ein Pfeil eben und kein Tropfen.
Als Wanja die Augen öffnete, stand sie vor dem gepolsterten Sessel. Die Gestalt darin war Manou und sie war es nicht. Sie war unförmig fett. So sehr, dass es weh tat, sie anzusehen. Da saß keine Frau, da lagerte ein menschlicher Wal, konturlos, ein gigantisches Anwesen aus Fett und Polstern und noch mehr Fett. Das Gesicht formlos, die Augen in Hautpolster gebacken, zwei tote Sicheln, wie von Milchhaut überzogen. Statt des Kinns flappten Wülste auf den Brustkorb. Unter dem Bauch flossen Fettlappen auf die gespreizten Oberschenkel.
„Manou“, ihre Stimme brach weg, nur ein Quieken wie von einem Ferkel kam aus ihrem Mund. Bittersaure Flüssigkeit quoll vom Magen hoch, brannte in der Brust. Sie hustete und schluckte, doch der Schmerz blieb.
Weshalb war sie hier? Hatte sie Manou weh tun wollen? War es so? Vielleicht hatte sie ja auch nur zeigen wollen, dass der Tropfen den Pfeil endlich eingeholt hatte. Und jetzt war da nichts, nur dieses erbarmungswürdige Geschöpf.
Manou bewegte sich nicht. Sie sah hinaus, als gäbe es nur das Fenster und die Welt vor dem Fenster. Selbst als Wanja sich direkt vor sie stellte, um ihr die Sicht zu versperren, war kein Erkennen in ihrem Blick, kein Aufmerken, nur tiefe Ruhe. Sie sah einfach durch Wanja hindurch mit ihren milchigen Augensicheln, als wäre da keine aufgestylte, nervöse, blonde Frau mit modisch frisierten Haaren, sondern etwas hinter all dem, etwas ganz anderes. Etwas Wichtiges. Ein Konzentrat, das mehr Gewicht besaß als Freundschaft oder gar Feindschaft.
Erst als Wanja sie ansprach, „Manou, ich bin hier, nach all den Jahren, bin ich hier, siehst du mich denn nicht?“, da wandte sie den Kopf. Es war nur eine einzige Bewegung, fließend trotz der Schwere. Wanja tauchte ein in diese Augen, suchte nach Trauer, nach Schmerz, nach Neid; doch da war nur Ruhe. Manou wusste, weshalb Wanja gekommen war, sie wusste es besser, als Wanja selbst. Dann zog der Blick weiter, zog über Wanja hinweg wie über eine vertraute, aber zu oft gesehene Landschaft, dann schaute sie wieder hinaus.
Wanja drehte sich um, da waren nur einer der rosa Bäume mit seinen spillerigen Zweiglein und vielleicht ein paar Blütenblättchen, die mit dem Wind davonstoben, vielleicht waren es aber auch nur Papierschnipsel, hochgewirbelter Unrat aus der Stadt, den keiner wollte.