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Die Katze meiner Mutter
Mein Vater sagte es mir. Er rief mich morgens um halb acht an und sagte: „Mama ist tot.“ Ich schlief noch halb. Das Einzige, was ich herausbrachte, war „Au Scheiße.“, das war alles, was mir dazu einfiel. Ich schämte mich.
Ich fuhr zur Eigentumswohnung meiner Mutter am Stadtrand, wo mein Vater auf mich wartete. Ich war nicht nervös. Ich spürte auch keine Trauer, nur ein Loch im Bauch: Ich hatte Hunger.
Draußen schien die Sonne, es war ein lieblicher Frühlingstag, wie süßer Prosecco. Ich zog meine Lederjacke und den Pulli aus und warf beides auf den Rücksitz. Ich hatte die Seitenfenster heruntergekurbelt und genoss den Fahrtwind, das Ganze kam mir surreal vor. Der Himmel hatte eine irre Farbe; so ein Blau sah man sonst nur am Mittelmeer und in der Karibik, es vibrierte vor Buntheit. Die Sonne strahlte auf Teufel komm raus, und das einzige Wölkchen da oben war das Sahnehäubchen in der Gesamtkomposition.
Ich durfte es nicht vergessen: Heute ist meine Mutter gestorben, es ist ihr Todestag.
Ich bog in die richtige Straße ein und hielt vor dem richtigen Haus, dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, dort, wo ich als Mädchen Ball und Hinkepott gespielt hatte und bestimmt nicht daran dachte, dass ich zwanzig Jahre später wiederkommen würde, um meine Mutter zu beerdigen. Ich hatte sie in der letzten Zeit nur in irgendwelchen Krankenhäusern und Kliniken besucht, nicht Zuhause.
Ich erkannte das Haus wieder, so wie jemand Weihnachtsschmuck wieder erkennt, der jahrelang im Keller gelegen hatte und den man seitdem das erste Mal wieder in Händen hält wie ein Geschenk. Als ich ausstieg, brannte mir die Sonne direkt in die Augen, ich glaube, das machte sie extra, sie warf ihre Strahlen auf das Pflaster und war dann damit beschäftigt, ein Spiel von Licht und Schatten zu inszenieren, dessen einziger Zuschauer ich war.
Es zog eine kleine Wolke auf, dann noch eine. Ich klingelte an der Tür. Eine Nachbarin kam aus unserem Wohnzimmer auf die Haustür zu; ich konnte sie durch die schweren Glasbausteine in der Tür sehen, ihr Kopf wölbte sich, als sei sie ein exotischer, giftiger Frosch, dann öffnete sie, und aus dem Frosch wurde die Dame von gegenüber, im bunten Kleid mit unpassenden goldenen Ohrringen und Nylonstrümpfen in Schlappen.
„Ivy!“, rief sie etwas zu laut. „Es tut mir so leid! Wie schrecklich! Aber wir wussten ja, dass es passieren würde ...“
Sie bat mich herein und führte mich durch den mit Terrakottakacheln ausgelegten Flur ins Wohnzimmer. Im Flur hörte man die gedämpften Stimmen mehrerer Leute; im Wohnzimmer waren tatsächlich eine Menge Leute und es gab eine Menge Fußspuren und Straßendreck auf der beigefarbenen Auslegeware, das hätte meine Mutter fuchsteufelswild gemacht. Das ganze Haus war da, so viele Menschen hatte ich gar nicht erwartet geschweige denn befürchtet, ich hatte damit gerechnet, meinen Vater allein oder nur mit einem Kerl vom Bestattungsinstitut vorzufinden; stattdessen sah ich weitere Nachbarinnen, von gegenüber und von oben, die auf den zwei Sofas und den geblümten Sesseln gegenüber dem künstlichen Kamin saßen, des weiteren die Pflegerin meiner Mutter und die Haushälterin und dann noch den Hausmeister mit seiner gammeligen Schirmmütze, der sich an die Heizung lehnte und irgendetwas kaute und kaute, er sah aus, als wolle er wissen, ob der Parkplatz, der zur Wohnung gehörte, wieder frei zum Vermieten wäre.
Alle hatten einen betretenen Gesichtsausdruck, sie sahen aus wie Kinder, die man gerade beim Klauen ertappt hatte. Ich entdeckte meinen Vater in einer Ecke des großen Sofas, die Katze meiner Mutter, Kitty, auf seinem Schoß; es hatte ihn schlimm erwischt, er hielt ein aufgeweichtes Taschentuch in der Hand und heulte Rotz und Wasser, seine Schultern bebten. Ich konnte ihn nur kurz in den Arm nehmen, dann wollte er weiter weinen, ich ließ ihn. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht traurig war, besonders, wenn ich sah, wie mein Vater litt. Die anderen schauten mich an, erwarteten etwas von mir, eine Reaktion, eine Ansage, irgendwas, und damit konnte ich nicht dienen. Die Nachbarin von ganz oben links sprach zuerst.
„Liebe Ivy“, setzte sie an, „Wir können Ihren Schmerz nachvollziehen.“
Die anderen nickten.
Konnten sie nicht.
„Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.“
Die anderen nickten wieder.
Konnten sie auch nicht.
„Jetzt heißt es, nach vorne schauen. Wissen Sie und Ihr Vater schon, was Sie mit dem Nachlass und der Wohnung machen?“
Ich ließ mich aufs Sofa fallen, neben meinen Vater, direkt auf einen Haufen voll gerotzter Taschentücher, ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis ich durch meine dünne Hose einen feuchten Hintern bekam. Ich lachte nicht, soviel Taktgefühl hatte ich noch. Obwohl – es ging hier um meine Mutter, um meine Trauer: es waren die Anderen, die auf mich Rücksicht nehmen mussten, ich bestimmte das Maß an Taktgefühl, das hier an den Tag zu legen war. Nun, ich und mein Vater. Ich würde es ihn entscheiden lassen, und so, wie ich den großen Haufen Elend auf dem Sofa sah, brauchten wir doch eine ganze Menge Taktgefühl. Nun gut.
Ich dachte eigentlich, dass von einem Leben nicht viel mehr übrig bleibt als ein paar Fotos und, wenn man Glück hat, eine Lebensversicherung. Im Fall meiner Mutter war das anders: Sie hinterließ ein Erbe, das dem eines Pharaos würdig gewesen wäre. Dosen, Krüge, Büchsen, Gläser, Amphoren, Vasen und Flakons, bereit, die Innereien meiner Mutter auf ewig zu konservieren; ich konnte mir gut vorstellen, wie die Hohepriester die Regale entlang gingen und die passenden Gefäße für die Mumifizierung auswählten, sie mussten nur noch die richtigen Hieroglyphen einritzen, In den Bücherborden und auf den Tischchen im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Flur, im Gästezimmer und im Arbeitszimmer standen Holztiere, Glastiere, Keramiktiere und Steintiere, geeignet als edle Opfergaben, nur Katze Kitty müsste noch mumifiziert werden. (Ich glaube, darauf verzichteten wir lieber.) Mutters überquellender Schmuckkasten enthielt so viel Silbernes und Goldenes, dass die Schmückung der Leiche sofort beginnen konnte, es gab Ketten, Ringe, Armreife, mehr als genug. Nicht zu vergessen die Bücher. Keine klassischen Geschenke für einen Toten, aber man konnte das Ritual ja der modernen Zeit ein wenig anpassen und die Bücher mit dazugeben, sie waren ein wichtiger materieller Bestandteil des Lebens meiner Mutter, wenn nicht gar der wichtigste. Bücher, sortiert nach Autor, Thema, Kontinenten, gebundene und Taschenbücher, die meisten gelesen, die wenigsten ungelesen, Erstausgaben vollständig gesammelt oder lückenhaft im Bestand, Bücher, mit kleinen Zeitungsausschnitten mit Kritiken oder, selten, mit einem Autogramm des Autors versehen. Meine Mutter wusste ganz genau, wo alles stand, hatte ich mir einen Band aus dem Regal genommen und nicht exakt dorthin zurückgestellt, gab es Ärger, sie hatte Luchsaugen. Meine Mutter liebte ihre Sachen. Meine Mutter war ihre Sachen.
An ihrem Sterbebett, als ich noch nicht wusste, dass es ihr Sterbebett sein würde, versprach ich ihr, ihre Sachen zu pflegen und in Ehren zu halten, ich dachte nicht weiter drüber nach. Jetzt erinnerte ich mich an das Gespräch mit meiner Mutter. Ich sah ihre Augen vor mir, ausgehungerte, flehende Augen.
Sie war eine vom Tod gezeichnete Frau mit dem Körper eines Kindes, abgemagert auf 28 Kilo. Sie hatte keine Kraft mehr.
„Du passt doch gut auf meine Sachen auf?“, fragte sie.
Ich wusste nicht, warum ich das tat, aber ich nickte. Das war ihr letzter Wille. Durch ihre Sachen weiterzuleben.
Ich lehnte mich an meinen Vater. Er schien gefasst, er hatte aufgehört zu weinen. Rechts von ihm saß eine Nachbarin und lag ihn mit Geschichten über Topfpflanzen in den Ohren, kein Wort von Beerdigung, kein Wort von Tod. Überall hatten sich Grüppchen von Leuten gebildet, die sich leise über wer weiß was unterhielten und mir ab und zu merkwürdige Blicke zuwarfen, gleichzeitig begutachteten sie anscheinend das Inventar und nickten mal auf dieses Gemälde an der Wand oder auf den neuen großen Fernseher. Irgendjemand hatte Kaffee gekocht und ging mit der Kanne reihum. Draußen flogen ein paar Blätter herum, es wehte kühl durch das gekippte Fenster, es war fast wie Herbst. Ich fröstelte und dachte an meinen Pullover im Auto draußen.
An der Tür klingelte es. Ich stand auf und ging durch den Flur, dabei störte ich eine Nachbarin mit einem jungen Mann, die miteinander knutschten, sie schauten erstaunt auf, als ich sie überraschte, und zogen sich genant die Klamotten zurecht. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, überlegte ich, als ich die Haustür aufschloss.
Vor der Tür stand eine Frau, blond, Mitte Vierzig, in einem unauffälligen Hosenanzug, mit einer Mappe unter dem linken Arm, sie gab mir die Hand und blinzelte mich an.
„Hallo, mein Name ist Winnefeld, ich komme vom Bestattungsinstitut Freilich. Sind Sie die Tochter?“
Ich nickte.
„Mein aufrichtiges Beileid.“
Also doch ein Bestatter. Wer hatte die Frau angerufen? In der Küche fiel irgendetwas auf die Fliesen und zersprang, im nächsten Moment breitete sich der Geruch von Mandellikör aus, es wurde heftig geflucht, die Stimme kannte ich nicht.
Ich bat die Dame herein und dirigierte sie zum Wohnzimmer. Mein Vater schien mittlerweile einigermaßen sortiert, das lag wohl am Schnaps, der vor ihm stand, irgendjemand hatte die Alkoholvorräte im Eckschrank entdeckt. Die meisten hatten jetzt ein Likörglas in der Hand und machten sich über den Sherry her. Die Frau vom Bestattungsinstitut setzte sich meinem Vater gegenüber, blinzelte ihn an und erläuterte mit leiser, zurückgenommener Stimme die verschiedenen Angebote, vom Sarg über Blumen hin zur Frage, ob Erd-, Feuer- oder Seebestattung. Ich ließ die Informationen auf mich herabrieseln. Ich wusste nicht, ob meiner Mutter die Art der Bestattung wichtig war und welche sie bevorzugt hätte. Ich verließ kurz meinen Platz, um zu sehen, was noch an Alkohol da war, mir war nach Vollnarkose.
Schnaps und Liköre waren fast aus, es gab noch Whisky und eine halbe Flasche Gin. Die klemmte ich mir unter den Arm, suchte in der Küche im Kühlschrank nach einer Flasche Limonade und hatte Glück, es fand sich ganz unten beim Gemüse eine Flasche Cola Light. Perfekt. Als ich zurückkam, redete die Frau immer noch auf meinen Vater ein, der langsam einen glasigen Blick bekam, von zuviel Korn. Ich setzte mich wieder und roch seine Fahne, er hatte schon mehr getrunken als ich dachte. Er saß leicht schwankend auf dem Sofa und hielt sich an der Lehne fest. Alkohol war er nicht gewöhnt.
„Wissen Sie schon, was Sie mit dem Nachlass machen?“ sagte sie gerade.
Dann passierte es. Noch bevor ich aufspringen und reagieren konnte, eine Schüssel holen oder einen Eimer, erbrach er sich auf den Hosenanzug von Frau Bestattungsinstitut. Sie war so geschockt, dass sie nicht einmal zusammenzuckte, sie hielt ihre voll gekotzten Hände in die Luft wie bei einem islamischen Gebet und begriff erst dann, dass ihr Dress, ihre Schuhe und die Unterlagen, alles voll gekotzt war, der Teppich unter ihren Füßen, die Kissen neben ihr auf dem Sofa, einfach alles. Es war, das musste ich meinem Vater lassen, ein ordentlicher Schwall gewesen, gute, anständige Kotze, ein gelblicher, zähflüssiger Brei mit einem Anteil von halbverdauter Nahrung, Mettbrötchen vielleicht, schön stinkender Magensäure, angereichert mit reichlich Alkohol, das Ganze stank bestialisch, darauf trank ich einen. Mein Vater sank matt in die Kissen; dann schlief er ein. Alle Umstehenden waren wie festgefroren, keiner rührte sich. Ich glaube, es fiel ihnen schwer, nicht zu lachen.
Jetzt war es wohl an mir, die Frau zu säubern und zu beschwichtigen, sie schien immer noch nicht begriffen zu haben, was passiert war. Ich zerrte sie vom Sofa hoch und schubste sie durchs Wohnzimmer, wobei die Zuschauer eine weite Gasse bildeten, um uns durchzulassen und, wichtiger, nichts von der Bescherung auf die eigenen Klamotten zu bekommen.
Die Dame lief Zickzack und steif wie ein Stock, sie bemühte sich, so viele Möbel wie möglich zu beschmieren. Endlich kamen wir im Bad an, ich setzte sie auf den Klodeckel und fing an, mit Kleenex das Gröbste abzuwischen, die Frau rang immer noch um ihre Fassung.
„Ich muss mich umziehen“, stammelte sie und sah an sich runter, „ich muss mich umziehen.“
Ein paar Minuten später rief ich ein Taxi und setzte sie auf die Rückbank, hoffentlich war der Taxifahrer hart im Nehmen.
Ich ging daran, das besudelte Sofa und den Teppich zu schrubben, es sah schlimmer aus als es war, mit etwas Teppichschaum würde es wieder schick sein.
Mittlerweile wurde es den ersten Besuchern langweilig, nach und nach verabschiedeten sie sich. Bald waren wir nur noch zu zweit, mein Vater und ich, und wir setzten uns, auf zwei saubere Sessel. Es war noch Gin da, ich mixte mir ein Gin-Cola, falls es das überhaupt gab, sonst hatte ich es in diesem Augenblick eben erfunden. Wir saßen um den großen Couchtisch herum und sagten nichts. Wir saßen bestimmt eine Stunde einfach nur so da. Der Wind fegte draußen weiter trockenes Gras und die Pollen von Pusteblumen um die Ecken, die Sonne zog sich langsam zurück. Wir atmeten tief und fast synchron, man konnte es hören; keiner redete. Dann atmete mein Vater besonders tief ein und aus und sprach.
„Wir müssen die Wohnung verkaufen.“ Damit hatte ich gerechnet. Er klang erstaunlich nüchtern. Er nieste vier- bis fünfmal, das machte er oft, wenn er nervös war. „Ja. Wir müssen die Wohnung verkaufen.“ Er seufzte.
„Und was passiert mit Mamas Sachen?“, fragte ich, nun war ich es, die diese Frage stellte. Ungern. Mein Vater nieste sechsmal.
„Es ist kompliziert“, setzte er an. „Mama hatte Schulden.“
„Was denn für Schulden?“, fragte ich. „Wie viel denn?“
Pause. Mein Vater seufzte. Dann: „ Es ist schwierig.“
„Was ist schwierig? Das muss sich doch regeln lassen!“
„ Es sind über zehn Gläubiger; Versandhäuser, Kosmetikversand, sie konnte ja nicht mehr raus, sie hat alles bestellt, aber nichts bezahlt, mehrere Tausend Euro. Ich weiß nicht, warum sie nie was gesagt hat, vielleicht hat sie sich geschämt. Wenn du das Erbe annimmst, wirst du deines Lebens nicht mehr froh.“
„Und was soll ich jetzt machen?“ Ich war traurig und verwirrt.
„Du solltest das Erbe ausschlagen. Du würdest mit den Sachen auch die Schulden erben. Ich erbe nicht, weil ich mit Mama nicht verheiratet war. Wenigstens ein Vorteil unserer ’wilden’ Ehe. Die Ausschlagung des Erbes bedeutet zwar, dass du schuldenfrei bleibst, es heißt aber auch, dass du hier nichts wegnehmen darfst. Dir gehört nichts, sondern alles den Gläubigern.“ Er nieste.
„Auch die Wohnung?“
„Gehört alles den Gläubigern.“
„Die Gemälde? Ihre Klamotten, Bettwäsche, Handtücher? Und was ist mit der ganzen Keramik, den Dosen, den Vasen, den Kannen?“ Meine Stimme wurde schriller, bis ich mich anhörte wie ein zwölfjähriges Kind, das gerade einen Nervenzusammenbruch hatte.
Ruhig jetzt. „Um es zu begreifen: Ich muss das Erbe ausschlagen, weil ich sonst auch die Schulden erbe. Damit habe ich aber auch keinen Anspruch auf irgendeinen Gegenstand aus ihrem Nachlass, ja?“
„Tut mir leid“, sagte mein Vater. „Mich trifft es auch. Wir dürfen hier nichts mitnehmen. Das wäre Diebstahl, die Gesetze sind da sehr streng.“
Ich dachte an das Versprechen, das ich meiner Mutter gegeben hatte. Es musste einen Ausweg geben.
„Gibt es irgendeine Möglichkeit ...?“, fragte ich.
Mein Vater schüttelte den Kopf. Er war Anwalt.
Ich nieste auch. Mein Vater schüttelte immer noch den Kopf. Mir dämmerte, dass ich die Schlacht verloren hatte. Wie sollte ich das meiner Mutter klarmachen? Sie war jetzt weiß der Teufel wo, aber egal wo, sie sah bestimmt genau, was ich trieb. Und ich hatte es ihr versprochen. Man bricht keine Versprechen, die man seiner sterbenden Mutter gegeben hat.
„Ich kann nicht“, sagte ich.
„Was kannst du nicht?“, fragte mein Vater.
„Die Sachen zurücklassen. Sie werden den Hauptteil sowieso wegwerfen, es ist ja nichts Wertvolles dabei! Ich habe Mama versprochen, auf ihre Sachen Acht zu geben.“
Kitty rieb sich an meinem Bein. Sie wollte eindeutig auf meinen Schoß und sprang hoch, dann machte sie es sich bequem, was minutenlanges Milchtreten auf meinem Bauch bedeutete und das Ausprobieren von verschiedensten Liegepositionen. Bald lag sie zufrieden auf meinen Oberschenkeln, die ich jetzt nicht mehr übereinander schlagen konnte.
Es waren nicht nur die Sachen meiner Mutter; es waren genauso gut meine Sachen; ich war mit ihnen groß geworden, sie gehörten zu meiner Kindheit.
Mein Gott.
Ich wollte nicht heulen. Ich wollte nicht weinen, weil ich irgendwelche Sachen nicht haben konnte, das war zu billig. Worum ging es denn? Es waren Bilder, Kunstgewerbe und Bücher, nichts, was man nicht neu kaufen konnte, keine Werte, von denen die Existenz der Menschheit abhing, Tinnef, wie meine Mutter sagen würde, Flohmarktkram. Wo sollte ich auch hin mit all den Sachen? Meine Wohnung war zu klein und ein Lager anzumieten war teuer; allein die Spedition könnte ich nicht bezahlen. Das sagte die Vernunft.
Und das Gefühl? Das schrie, das trampelte, das schmiss Möbelstücke durch die Gegend! Wegen so einer juristischen Scheiße durfte ich kein Andenken an meine Mutter mitnehmen! Es war meine Mutter! Ich habe sie geliebt! Und jetzt war sie weg. Für immer. Und ich durfte nichts mitnehmen? Ohne mich!
Gott, war das anstrengend. Ich konnte das alles nicht, ich hatte nicht die Kraft dazu, mich aufzuregen, rumzupöbeln, mir Gedanken über Sofas und Sessel, Bücher und Vasen zu machen. Ich wusste auch, dass ich die Sachen gar nicht wollte, nie gewollt hatte.
Was hätte meine Mutter jetzt gesagt?
„Nimm die Katze und renn!“
Ich begann zu weinen, erst leise, wimmernd, wie ein verletztes Tier, dann immer lauter, es war ein Weinen, das ich nicht kannte, ein neues, unheimliches Weinen, ich lief aus dem Wohnzimmer, ich wollte allein sein, mein Gesicht war nass, meine Bluse war nass, ich hatte nicht genügend Taschentücher ... oh Gott ...
Jetzt fing ich an zu trauern.
Ich sah mich um. Mir wurde klar, dass meine Mutter, ihre Seele, ihr Selbst nicht mehr hier waren, sie war längst woanders; die ganze voll gestopfte, zugestellte Wohnung war ... leer. Ich seufzte.
Jemand stupste mich am Knie. Ich sah runter und schaute in Kittys grüne Augen.
„Na Kitty! Dann sind wir wohl jetzt im selben Team, hm?“
Kitty rieb ihren Kopf an meinem Bein und gurrte. Ich gurrte zurück. Mein Vater kam, nahm mich in den Arm und atmete tief durch.