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Die Hexe, die heiraten wollte
Es war einmal ein recht wohlhabender Bauer. Er besaß dreißig Milchkühe, zweihundert Schafe, Hühner, Enten und Gänse und Felder, auf denen Weizen, Roggen, Gerste und Hafer wuchs. Hinter seinem Haus zog seine Frau Gemüse und Kräuter, und es mangelte ihnen an nichts. Sie hatten zwei Kinder, einen Buben und ein Mädchen.
Doch als der Sohn sieben Jahre alt war, schienen sie auf einmal vom Pech verfolgt zu sein. Die Kühe und Schafe und das Federvieh wurden krank, und viele gingen ein. Das Getreide trug nur ganz magere Frucht, und das Gemüse war von allerlei Schädlingen befallen und welkte, ehe es zur Ernte reif war. Schon stand das Gespenst der Armut vor der Tür. Da rief der Bauer eines Tages, als er wieder eine tote Kuh im Stall fand: „Was gäbe ich nicht alles darum, wenn meine Tiere gesund würden und mein Getreide und das Gemüse wieder gedeihen würde!“
Da stand plötzlich eine bucklige alte Frau neben ihm. Sie hatte kleine, stechende Augen, eine lange, krumme Nase und wirre graue Haare. Ihre Kleider waren schmutzig und zerlumpt, und der Bauer wußte gleich, daß das eine Hexe war. Sie hub an zu sprechen: „Bauer, ich kann dir helfen. Was gibst du mir, wenn ich das Unglück von dir abwende?“
Der Bauer war verwirrt. Er hatte den Ausruf getan, ohne zu überlegen, denn er hatte ja gar nichts mehr, was er hätte geben können. Die Hexe kannte seine Gedanken und fuhr fort: „Etwas hast du, das sind deine Kinder. Gib mir deinen Sohn, und schon morgen wird es mit deiner Wirtschaft wieder aufwärts gehen.“ - „Meinen Sohn hergeben? Nie und nimmer!“ rief der Bauer. „Wie könnte ich meinen hübschen, gescheiten Buben dem Verderben überlassen?“ - „Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen,“ beschwichtigte ihn die Hexe. „Ich verspreche dir, daß es ihm bei mir gut gehen wird.“ Der Bauer machte noch allerlei Einwendungen, aber da er nicht mehr aus noch ein wußte, stimmte er schließlich zu, daß der kleine Josef mit der Hexe fortging. Der weinte, als er hörte, daß er Vater, Mutter und Schwester verlassen sollte, aber der Bauer, von Kummer niedergedrückt, ging rasch ins Haus, und die Hexe schleifte den Kleinen mit sich fort.
Sie mußten lange gehen, bis sie endlich die Hütte der Hexe erreichten. Sie stand mitten im Wald und war von einem hohen Bretterzaun umgeben. Die Hexe schubste Josef unsanft in eine Kammer und keifte: „Hör jetzt auf zu heulen und leg dich schlafen!“ In der Kammer stand ein schönes Bett, und nachdem Josef noch eine Weile weitergeweint hatte, schlief er erschöpft ein.
Drei Tage ließ ihn die Hexe in der Kammer hungern. Dann am vierten Morgen schloß sie die Tür auf und holte ihn heraus. Wie staunte Josef, als er einen schön gedeckten Tisch sah mit den leckersten Speisen darauf. Er hatte erwartet, daß die Hexe ihn schlachten und aufessen würde. Da er aber so furchtbar hungrig war, dachte er nicht weiter darüber nach, sondern aß nach Herzenslust, bis er gesättigt war. Danach war er der Hexe gegenüber etwas milder gestimmt und glaubte, daß sie ihn nicht so schlecht behandeln würde.
Und so war es. Er bekam jeden Tag drei Mahlzeiten, ordentlich Kleider und Schuhe, und die Hexe verlangte weiter nichts von ihm. Wenn ihm langweilig war, werkelte er ein wenig im Garten oder machte kleine Reparaturen, aber mehr Arbeit erlaubte ihm die Hexe gar nicht. So hätte er wohl recht zufrieden sein können, wenn nicht die Sehnsucht nach seinen Eltern und der Schwester gewesen wäre. Auch die Spielkameraden vermißte er, und sogar die Schule. Er versuchte freilich, fortzulaufen, aber das Tor im Zaun war fest verschlossen. Als er versuchte, über den Zaun zu steigen, fielen die drei Raben der Hexe über ihn her, hackten und kratzten ihn blutig. Die Hexe tupfte Salbe auf seine Wunden und murmelte dabei seltsame Sprüche, so daß es Josef ganz kalt über den Rücken lief. Sie redete auch mit den Raben in einer ganz fremden Sprache. Wenn fortan Josef auf den Zaun steigen wollte, fielen sie wieder über ihn her, ließen ihn aber unversehrt. Es war auch nicht möglich, heimlich zu entfliehen, denn die Hexe besaß auch vier Eulen. Die wachten Tag und Nacht, denn die Hexe war häufig abwesend, um ihren dunklen Geschäften nachzugehen.
So war Josef einsam und traurig. Einen schönen Vogel gab es allerdings im Garten der Hexe, das war ein weißes Huhn. Das kam immer zutraulich zu ihm und ließ sich streicheln und war Josefs einzige Freundin. Warum die Hexe dieses Huhn hielt, verstand er nicht recht, denn da es keinen Hahn gab, legte es natürlich niemals Eier.
Noch etwas gab es, das Josef wunderte. Weder er noch die Hexe machten je Ordnung im Haus. Das Geschirr, von dem sie gegessen hatten, blieb stehen, der Boden wurde nicht gefegt, die Schränke wurden nicht gesäubert, die Kleider nicht gewaschen. Trotzdem war die Hütte jeden Morgen ordentlich und blitzblank, und für seine schmutzigen Kleider, die er ausgezogen hatte, lagen frische da. Nun ja, dachte Josef, das ist eben Hexerei, und es graute ihn ein wenig.
Daheim auf dem Bauernhof hatte sich derweil alles zum Besten gewendet. Vieh und Geflügel waren wieder so zahlreich und gesund wie früher, Felder und Gemüsegarten trugen reiche Frucht, und außerdem wurde die Tochter der Bauersleute immer schöner und tüchtiger.
Es vergingen die Jahre, und Josef war zu einem stattlichen Jüngling herangewachsen. Da sprach die Hexe eines Morgens: „Du sollst nun erfahren, weshalb ich dich hierher geholt habe. Du bist jetzt erwachsen, und ich will dich zum Ehemann haben. In drei Tagen wird die Hochzeit sein.“
Josef war entsetzt. „Was?! ICH soll DICH heiraten? Nicht nur, daß du alt, schmutzig und häßlich bist, du hast auch Unglück über meine Familie gebracht, mich hierher verschleppt und mir meine Kindheit und Jugend gestohlen! Nie und nimmer!“ - „Nun gut,“ sagte die Hexe. „Deiner Familie ist es all die Jahre gut gegangen, aber solange du dich weigerst, mich zur Frau zu nehmen, werde ich wieder ihr Vieh sterben und ihre Ackerfrucht verderben lassen. Überleg es dir gut!“
Das war ein schwerer Schlag für den Burschen. Aber ihn graute so sehr vor der Hexe, daß er sich nicht entschließen konnte, sie zu heiraten.
Von da an kam wieder das Unglück über seine Familie. Jeden Tag gingen ein oder zwei Kühe und mehrere Schafe ein. Das Gemüse verfaulte in den Beeten und das Korn verdarb auf den Äckern. Nur die Tochter, Anna, blieb schön und gesund. Anna war aber auch klug. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als die Hexe ihren Bruder mitgenommen hatte, aber es war ihr nicht entgangen, daß das Unglück und kurz darauf das Glück in der väterlichen Wirtschaft etwas damit zu tun hatte. Als nun wieder das Sterben und Verderben begann, war sie sicher, daß es die Hexe war, die ihr böses Werk tat, und sie beschloß, diese aufzusuchen. Vielleicht würde es ihr gelingen, sie unschädlich zu machen. Unter dem Vorwand, sie wolle ihre Base im übernächsten Dorf besuchen, verabschiedete sie sich von den Eltern und machte sich auf den Weg.
Es gab genug Leute, die ihr sagen konnten, wo sie das Haus der Hexe finden würde, obwohl die alle die Köpfe schüttelten über so viel Unverstand. Jeder gescheite Mensch machte doch einen großen Bogen darum!
Anna jedoch ließ sich nicht beirren. Sie gelangte an den Zaun und pochte vernehmlich ans Tor. Alsbald öffnete sich ein kleines Guckfensterchen und die Hexe schaute heraus. „Hexe, alte Hexe,“ sagte Anna, „du hast meinen Bruder gestohlen. Wenn er noch am Leben ist, laß ihn frei!“ - „Hä, hä, freilich ist er noch am Leben, aber ich gebe ihn nicht her. Pack dich fort!“ erwiderte die Hexe.
Da ging Anna ein kleines Stück weg vom Haus und verbarg sich im Gebüsch. Sie wartete, bis die Hexe das Haus verlassen hatte und außer Sicht war. Dann lief sie zum Zaun und rief: „Josef! Bruder! Bist du da?“ und schon öffnete sich das Guckfensterchen wieder und ein hübscher junger Mann schaute heraus. Anna hätte ihn fast nicht erkannt, und ihm erging es umgekehrt ebenso. Aber dann fanden sie doch die vertrauten Züge in ihren Gesichtern und waren voller Freude. „Bruder, lieber Bruder, kannst du nicht herauskommen und mit mir nach Hause zu unseren Eltern gehen? Dort gibt es viel Arbeit, denn wir sind schwer vom Unglück getroffen.“ - „Ach,“ seufzte der Bursche, „das ist meine Schuld. Die Hexe hat euch wieder mit einem bösen Zauber belegt, weil ich mich geweigert habe, sie zu heiraten. Vielleicht sollte ich es doch tun, damit es euch wieder gut geht. Danach kann ich dann getrost sterben.“
„Nein!“ sagte Anna. „Unmöglich kannst du die alte, schreckliche Hexe zur Frau nehmen. Ich werde mit ihr reden, wenn sie zurückkommt, es ist ja möglich, daß es einen Weg gibt, dir und den Eltern zu helfen. Hab nur ein wenig Geduld.“ Sie sprachen noch lange miteinander. Anna erzählte, wie es daheim all die Jahre zugegangen war, und Josef von seinem einsamen Leben im Hexenhaus. Wenn nicht das weiße Huhn gewesen wäre, das ihm so ans Herz gewachsen war, hätte er es gar nicht ausgehalten, sagte er.
Endlich kam die Hexe zurück. Anna stellte sich ihr in den Weg und sprach: „Wenn du meinen Bruder frei läßt und den bösen Zauber von unserem Hof nimmst, werden wir dir jedes Jahr drei Milchkühe und zehn Schafe geben, außerdem feines Weizenmehl und eingemachte Früchte.“ Die Hexe blickte sie nur finster an. „Bekomme ich deinen Bruder zum Mann, wird es mit eurem Hof wieder aufwärts gehen. Wenn nicht, wird es nicht lange dauern und ihr geht alle am Bettelstab.“ Was Anna auch vorbrachte, sie ließ sich nicht erweichen. Da wurde das Mädchen schließlich zornig.
„Du böse alte Hexe! Wenn du nicht nachgeben willst, werde ich dich eben töten!“ Die Hexe aber lachte bloß verächtlich. „Mich kann man nicht töten mit Messer, Strick oder Gift. Das einzige, was mich töten kann, ist eine silberne Kugel, und das möchte ich sehen, wo du ein Gewehr und eine silberne Kugel hernehmen und wie du ein Gewehr handhaben willst!“ Damit schlug sie das Tor zu und ließ Anna draußen stehen.
Da stand sie und weinte, denn die Hexe hatte ja recht. Sie besaß weder Gewehr noch silberne Kugel und wußte auch nicht, wie man mit einem Gewehr umging. Sie legte sich unter einen Baum und schlief bis zum anderen Morgen. Als sie erwachte, dachte sie: „Wenn ich das alleine nicht tun kann, muß ich eben Hilfe finden. Ich werde im Wald des Königs nach einem Jäger Ausschau halten.“
Gesagt, getan. Nach ein paar Stunden begegnete sie einem königlichen Jäger, der war groß und breit und sah stark und mutig aus. „Liebe Jäger, mein armer Bruder ist in der Gewalt einer bösen Hexe. Wollt Ihr mir nicht beistehen, sie zu töten, um ihn zu befreien?“ - „Dummes Zeug,“ antwortete der Jäger. „Hexen gibt es doch gar nicht. Laß mich in Ruhe mit deinem Unsinn,“ und er ging weiter.
Nach einer Weile begegnete ihr ein anderer Jäger, der war zwar klein und dünn, aber deswegen, dachte sie, könnte er doch mutig sein. „Lieber Jäger, wollt Ihr mir helfen, eine Hexe zu töten?“ Der Jäger wurde sogleich blaß und begann zu zittern. „Eine Hexe töten? Bist du von Sinnen? Das ist doch viel zu gefährlich! Geh deiner Wege, sonst könnest du die Hexe noch hierherlocken!“
Endlich begegnete sie einem dritten Jäger. Der war jung und wohlgewachsen, schaute freimütig und freudig in die Welt und grüßte Anna artig. „Was tust du alleine hier im Wald, schönes Mädchen. Hast du dich verlaufen? Ich helfe dir gern, wieder zurück auf deinen Weg zu finden.“ - „Ach nein, verlaufen habe ich mich nicht, aber Hilfe könnte ich schon gebrauchen. Mein Bruder wird von einer bösen Hexe gefangen gehalten, und ich will sie töten. Das geht aber nur mit einer silbernen Kugel, sie hat es mir selber verraten. Ihr habt ein Gewehr und könnt sicher damit umgehen.“ Der Jäger war ganz bezaubert von Annas Schönheit und Anmut. „Gern will ich dir helfen,“ antwortete er, „aber eine silberne Kugel habe ich nicht.“ - „Dann müssen wir eben eine finden,“ sagte Anna. „Wir versuchen es bei einem Silberschmied in der Stadt.“
Der Jäger war einverstanden, und sie gingen in die Stadt, wo sie bald einen Silberschmied fanden. „Soso, eine silberne Kugel wollt ihr? Ich frage besser nicht, wofür ihr die braucht. Aber umsonst kann ich nichts hergeben. Womit wollt ihr denn bezahlen?“ Das Mädchen und der Jäger blickten sich ratlos an. Geld hatten sie beide nicht. Der Silberschmied aber sprach: „Du hast wunderschönes goldenes Haar. Verkaufe mir dein Haar für die Silberkugel. Meine Frau wünscht sich schon lange eine blonde Perücke.“ Er reichte ihr eine Schere. Sie gab sie dem Jäger, und der schnitt ihre schönen langen Haare ab und übergab sie dem Silberschmied. Der war damit zufrieden und machte sich an die Arbeit, und in kurzer Zeit hatte er eine silberne Kugel hergestellt, die genau in das Gewehr des Jägers paßte. Dieser wickelte sie in ein Tüchlein, steckte sie in seine Tasche, und Hand in Hand machten sich die beiden jungen Leute auf den Weg zum Hexenhaus.
Vor dem Bretterzaun angekommen fragte der Jäger: „Und wie kommen wir nun da hinein zur Hexe? Oder können wir sie herauslocken?“ - „Hinein kommen wir nicht,“ antwortete Anna, „und herauskommen darf sie auch nicht. Denn wenn sie dich sieht, wird sie gleich argwöhnen, daß es ihr an den Kragen gehen soll.“ - „Ich weiß!“ sagte der Jäger. „Von einem hohen Baum aus kann ich über den Zaun schauen, und wenn ich die Hexe erblicke, ist es um sie geschehen!“ Er lud die silberne Kugel in das Gewehr und kletterte dann auf einen Baum. Dort machte er es sich zwischen zwei Ästen bequem und beobachtet das Haus. Er brauchte nicht lange zu warten. Die Hexe kam zur Haustür heraus wie jeden Abend, um irgendwo Unheil anzurichten. Aber sie war noch nicht drei Schritte gegangen, als der Jäger den Abzug seines Gewehrs drückte, und die Silberkugel tötete die Hexe auf der Stelle.
Josef hatte den Schuß gehört und kam herausgelaufen. Er sah die Hexe tot liegen und wußte, daß er nun frei war. Er öffnete das Tor, denn die Raben hatten jetzt keine Macht mehr über ihn. Seine Schwester rannte zu ihm und sie umarmten sich. „Wie hast du das gemacht?“ fragte Josef. „Wie ist dir das gelungen?“ - „Nicht mir, sondern diesem tapferen, hilfsbereiten Jäger,“ antwortete Anna, und zog ihn, der unterdessen vom Baum herabgestiegen war, herein, damit ihr Bruder ihn begrüßen und ihm danken sollte.
Während sie sich alle drei noch umarmten und Hände schüttelten, erschien auf einmal auf der Schwelle der Haustür ein schönes Mädchen mit rotbraunen Haaren und in einem weißen Gewand. Sie blickten sie erstaunt an. „Wer ist das?“ fragte Anna. „Von einem Mädchen hast du mir nichts erzählt.“ Josef starrte das Mädchen an, und dann bekam er eine Ahnung. „Du bist - „ - „Ja, ich bin das weiße Huhn, das du immer so lieb gestreichelt hast. Die Hexe hatte mich verzaubert. Ich war eine Waise. Sie log dem Dorfvorsteher vor, daß sie gut für mich sorgen würde, statt dessen mußte ich tagsüber als Huhn leben und nachts als Mensch in der Hütte putzen, waschen, kochen und Ordnung machen. Du weißt nicht, wie glücklich ich war, daß du so freundlich zu mir gewesen bist, wenn du mich auch bloß für ein Huhn gehalten hast.“
Sie machten sich noch am selben Tag auf zum Hof der Eltern von Anna und Josef. Auch hier war die Macht der Hexe nach deren Tod zu Ende. Bald gedieh wieder das Vieh, und Getreide und Gemüse wuchsen üppig auf den Feldern und im Garten. Josef heiratete das schöne Mädchen mit den rotbraunen Haaren und Anna den Jäger, und alle lebten noch lange glücklich und zufrieden.