- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
Die Frau im roten Cape
Es war ein anstrengendes Seminar-Wochenende. Drei Tage intensive Arbeit am eigenen Schreibstil. Ich lernte von arrivierten Autoren, wie man dialogische Auseinandersetzungen in Texten führt und wie man Monologe und Gedankenfetzen in halbfertige Manuskripte montiert. Ich bin müde. Mein Kopf ist vollgestopft mit den Juwelen geistreicher Sätze berühmter Autoren. Das Gelernte ist vorerst nur das Gehörte.
Gustav Breitenreiter ist der Leiter unserer Schreibwerkstatt. Ich nenne den frankophil wirkenden Baskenmützenträger insgeheim Monsieur Gustave. Die Zigarre lässig in der Hand, referiert er von Flaubert bis Proust und von Kafka bis zu Heimito von Doderers Strudelhofstiege. Natürlich entlässt er uns nicht ohne einen seiner gefinkelten Schreibaufträge. Schreibzeit ist ein Tag, dann muss die Story am Server der Akademie liegen. Nächstes Wochenende treffen wir uns wieder. Die heutige Lektion ist eine Herausforderung und lautet:
Beschreibung einer U-Bahn-Bekanntschaft.
Es muss nicht zwingend die U-Bahn sein, es darf auch eine Straßenbahn oder ein Bus sein. Das Kriterium ist die Kürze der Fahrzeit und die des Textes. Tausend Wörter als Vorgabe für eine Bekanntschaft. Das sollte zu schaffen sein, denke ich.
Ich bin der Senior in der Klasse, meine Schulzeit liegt Jahrzehnte zurück. Die jungen Hüpfer um mich herum sind durchwegs Akademiker, einige studieren noch. Die Jungs und Mädels haben meine Bedenken, dass ich mit ihnen bildungsmässig nicht mithalten könnte, schnell ausgeräumt. Lebenserfahrung sei immer noch der größte Lehrmeister, meinen sie. Diese freundliche These lasse ich gerne so stehen, denke ich.
Die anfängliche Begeisterung über das Schreibthema lässt nach. Ich krame in Erinnerungen. Affären gab es schon, aber die sind mir zu pikant zum Erzählen, ich verwerfe sie wieder. Episoden laufen wie im Film vor meinem geistigen Auge ab. Da ist nichts dabei, das passen würde.
Bei uns am Land gibt es keine U-Bahn und im Postbus kann man schon deswegen keine Bekanntschaften schließen, weil man die Gesichter kennt. Alle, ohne Ausnahme. In meiner Jugendzeit, auch in den wildesten Zeiten, habe ich nie eine Bekanntschaft im Bus gemacht. Mir fallen nur Fünf-Uhr-Tee und Heimatabende ein. Frustrierend.
Nachdenklich stehe ich am Bahnsteig und warte auf die S-Bahn, der Andrang an Fahrgästen ist überschaubar, es ist Sonntag. Ich habe die berechtigte Hoffnung auf einen Sitzplatz. In der Zeit des Wartens fällt mein Blick auf ein rosa Plakat. Da steht mit schwarzer Handschrift:
Liebe verdient Respekt.
Die Bahn rollt leise in den Haltebereich, druckluftgesteuerte Türen schwingen zurück, niemand steigt aus, trotzdem finde ich einen Sitzplatz, der Platz gegenüber ist frei. Gut so, da platziere ich meine Tasche, hole meinen Skriptblock heraus und mache es mir gemütlich. Ich sitze entgegen der Fahrtrichtung, die Türen sind hinter mir. In den spiegelnden Scheiben erkenne ich, dass sich im letzten Moment ein roter Schatten in den Waggon zwängt. Das Zischen der sich schließenden Automatiktüren überdeckt den atemlosen Gott-sei-Dank-Seufzer, der Zug nimmt Fahrt auf.
Während ich mich neugierig verrenke, um besser zu sehen, was sich hier abspielt, steht eine rotbemäntelte Dame neben mir und sagt:
„Das war knapp, ist dieser Platz noch frei?“
Ich nehme mein verstreutes Krimskrams vom Platz gegenüber, setze ein freundliches Lächeln auf und antworte:
„Bitte, gerne.“
Ich bin ein bisschen verwundert, dass sie ausgerechnet zu mir will, denn es sind auch noch andere Plätze frei. Die Dame um die Vierzig setzt sich erlöst nieder, sucht meinen Blick und liefert mir, als ob sie meine Gedanken lesen könnte, die Erklärung:
„Wissen Sie, ich kann nur einen Platz nehmen, der in die Fahrtrichtung zeigt, ich muss sehen, wohin die Reise führt.“
Eine taffe Lady. Kein schlechtes Argument, wenn es eine Ausrede ist. Muss ich mir merken.
„Ah ja, verstehe, da haben sie Glück gehabt. Mir macht es nichts aus, gewissermaßen verkehrt zu sitzen, ich bin ohnehin mit meinen Texten beschäftigt.“
Sie tippt auf meine offene, mit Skripten gefüllte Tasche, sieht mich mit großen dunklen Augen an und sagt:
„Entschuldigen Sie meine Neugier, aber diese vielen Schriftstücke, das schaut mir nach Schule aus, aber am Sonntag?“
Das amüsiert mich, meine Stimmung hebt sich deutlich, geradezu belustigt antworte ich:
„Doch, ja. Auch am Sonntag. Ich bin ein, wenn auch ein, in die Tage gekommener, Absolvent einer Wochenend-Literatur-Akademie. Dritter Bildungsweg sozusagen.“
Jetzt kichert sie plötzlich wie ein junges Mädchen, entschuldigt sich aber umgehend:
„Verzeihen Sie, aber ich kann Sie mir beim besten Willen nicht in einer Schulbank vorstellen. Ich dachte eher an einen Lehrer, als an einen Schüler.“
Sie sagt es mit einem entwaffnend ehrlichen Lächeln, dabei bilden sich kleine Fältchen um ihre Augen. Ich bin entzückt. Die Frau hat was, das bestimmte Etwas, das ich im Moment gar nicht definieren kann. Es gefällt mir, wie sie spricht, ihre Stimmlage ist Mezzo.
„Und? Was treibt Sie an einem Sonntagabend noch in die Welt hinaus?“, frage ich.
„Mich?“, sie zieht die Augen hoch, „gar nichts, ich bin auf dem Heimweg. Sie doch auch, oder?“
Mir wird plötzlich klar, dass ich mich mitten in einer Story befinde. Könnte doch die Geschichte mit der U-Bahn-Bekanntschaft werden. So spielt das Leben, denke ich mir. Soll ich ihr das sagen?, nein, das klingt wie eine billige Anmache, denke ich.
„Ja, mein Tag ist gelaufen, sehr gut sogar. Ich habe viel gelernt, mein Kopf ist voller Geschichten“, antworte ich.
„Das ist ja interessant, da sitzt mir doch glatt ein richtiger Literat gegenüber, oder soll ich Poet sagen?“ Sie strahlt mich an und ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt.
„Naja, ich lerne noch“, entgegne ich tapfer, „aber ich habe ein Projekt in Arbeit.“
„Nur keine falsche Bescheidenheit. Ich unterrichte selbst und kann ganz gut einschätzen, wenn wer gut drauf ist.“
„Oh, das ist ja ein Ding. Was unterrichten sie denn, wenn ich fragen darf?“
„Schauspiel und Tanz. Ich arbeite selbstständig als Coach, vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen. Manchmal schreibe ich auch kleine Stücke. Mini-Dramen und so.“
Ich kann es gar nicht fassen, was bin ich für ein Glückspilz? So eine attraktive Frau. Ich möchte unbedingt dieses Gespräch weiterführen, aber wie?, die Fahrt ist bald zu Ende. Andererseits will ich nicht aufdringlich erscheinen.
„Minidramen?, darüber würde ich gerne mehr wissen“, sage ich, „leider muss ich beim Westbahnhof aussteigen.“
„Ich auch“, sagt sie.
„Ist es sehr schlimm, wenn ich Sie auf einen Kaffee ins Bistro einlade?“
„Nein, ist es nicht. Sie könnten mir von Ihrem Projekt erzählen.“
Ich schätze mich glücklich, dass sie sich mit mir noch ein bisschen unterhalten will. Der Zug wird langsamer und wir machen uns bereit, auszusteigen. Jetzt kann ich meine Begleiterin in vollem Ausmaß betrachten, und bin fasziniert von ihrer Größe. Ich mag große Frauen. Das schwarze Outfit unter dem roten Cape ließ ihren makellosen Teint leuchten. Die kleinen Lach-Fältchen um die Augen machen sie noch attraktiver. Ich komme mir fast schäbig vor in Jeans und Daunenjacke.
Das Bistro in den neu erbauten Bahnhofspassagen ist spärlich besucht. Ich habe schon wieder Glück, denn offensichtlich ist meine Tanzlehrerin auch Raucherin. Als sie meinen suchenden Blick nach einer Raucherlounge bemerkt, zupft sie mich am Ärmel und deutet auf den hinteren Teil der Bar, dort darf man rauchen, sagt sie und geht voraus.
„Was darf ich Ihnen bestellen?“, frage ich ganz gentlemanlike und winke der Bedienung.
„Grosser Espresso und ein Glas Soda, danke.“
„Okay, für mich das gleiche.“
Die Bedienung nimmt unsere Bestellung auf und rauscht davon. Wir schauen uns an und müssen plötzlich lachen. Es ist ein befreiendes Lachen.
„Also, wenn wir schon so gemütlich beieinander sitzen, möchte ich mich erst einmal vorstellen. Ich bin Franz, der Mann, der diese kleine Kennenlern-Geschichte wahrscheinlich aufschreiben wird.“
Jetzt lacht sie schallend und wie mir scheint, auch befreit auf.
„Du bist in Ordnung, Franz! Ich darf doch Du sagen? Unter Künstlern wird nicht gesiezt, aber das weißt du ja. Ich glaube, du hast Humor, das finde ich gut. Ich bin die Lydia.“
Sie drückt mir gar nicht ladylike, ziemlich fest die Hand. Ich beginne zu erzählen, nämlich von der Aufgabe unseres Monsieur Gustave und die geforderte Geschichte mit der U-bzw. S-Bahn-Bekanntschaft. Lydia kann sich fast nicht mehr am Sessel halten vor Lachen.
„Das ist ja zum Schreien komisch. Ich habe schon viel erlebt in meinem Genre, aber das ist einmalig. Du machst mich sozusagen zu deiner Komplizin mit deiner Geschichte. Es ist nicht zu fassen. Einfach toll, ich möchte mehr wissen über dich und deine Literatur.“
Nur allzu gerne gebe ich Auskunft über meine bescheidenen Anfänge. Wesentlich mehr interessiert mich die Zukunft. Nicht nur die literarische, auch die Zukunft unserer Bekanntschaft. Ich will eigentlich viel mehr über Lydia wissen. Auch über ihr künstlerisches Werk und was sie privat macht. Wir unterhalten uns prächtig, aus Kaffeeschlürfen wird Prosecconippen. Wir sind uns sympathisch. Lachen macht frei, denke ich. Nach einem weiteren Glas Prosecco schaut sie mich schelmisch an und fragt ganz beiläufig:
„Gell Franz, du liebst die Frauen. Sag nix, ich sehe es dir an, du siehst dich auf der Siegerstraße. Du siehst in mir mehr als nur eine Kollegin zum Schreiben, stimmts?“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich hat sie recht, sie hat mich vom ersten Moment an verzaubert. Ihre Mimik, ihre Gestik, und nicht zuletzt ihre Stimme.
„Was ist so schlimm daran, Lydia?“
„Gar nichts. Du liebst die Frauen, Franz“, sie holt sichtbar tief Luft und sagt mit einem entschuldigenden Lächeln, „ich auch!“
Da fällt mir wieder das Plakat der etwas anderen Art in der S-Bahn ein:
Liebe verdient Respekt.