Die Frösche vom Titicacasee
Die Sonne versank eben hinter der Cordillera Occidental, als der Bus das erste Städtchen in Bolivien erreichte. Ich war innerhalb von drei Tagen im Gedränge verschiedener Einheimischen-Busse von Cuzco her gekommen und war erleichtert, dass ich nach zahllosen Strassensperren und Ausweiskontrollen durch betrunkene Militärs endlich die peruanische Grenze hinter mir gelassen hatte.
Die peruanischen Zeitungen hatten immer häufiger über Hinrichtungen, Plünderungen und andere Gewalttaten des „Sendero Luminoso“, einer maoistischen Terror-Organisation, geschrieben und man war sich vor allem in den abgelegenen Berggebieten der Cordillera Blanca seines Lebens nicht mehr sicher.
Bis auf einen Raubüberfall im Gewühl des Busbahnhofes von Huaraz, der am helllichten Tage, sehr schnell und lediglich mit vorgehaltenem Messer abgelaufen war, während ich auf meiner Tasche sass und auf den seit Stunden verspäteten Bus wartete, war mir jedoch nichts Ernsthaftes geschehen.
Nachdem ich aber eines Morgens in einer einfachen Herberge in einem der zahlreichen Dörfer, die sich „Aguas caliente“ nennen, zusammen mit anderen Gästen von hereinstürmenden und schwarz vermummten Männern grob und bestimmt aus dem Speisesaal getrieben wurde und dieser unmittelbar darauf von hochgehenden Handgranaten verwüstet wurde, hatte ich kurzfristig beschlossen, meine Reise in Peru zu beenden und in Bolivien fortzusetzen.
Nachdem ich in Bolivien aus dem Bus gestiegen war, bedrängten mich augenblicklich mehrere Kinder und boten mir günstige Zimmer an. Ich nahm das attraktivste Angebot wahr und stand kurz darauf in einem Dachzimmer mit wunderschönem Blick über den Titicaca-See und den Wallfahrtsort Copacabana.
Später am Abend genehmigte ich mir ein bescheidenes Abendessen in einer Peña und kam dabei mit drei belgischen Studenten ins Gespräch, die am nächsten Tag einen Segeltörn zur Isla del Sol – der Legende nach der Ursprungsort des einst so mächtigen Inkareiches – machen wollten. Im Laufe der Unterhaltung stellte sich heraus, dass sie noch einen Platz frei hätten auf ihrem Boot. Diesen Platz boten sie mir an, nachdem ich ihnen erzählt hatte, dass ich meinen Lebensunterhalt als Matrose bestreite. Ich nahm das Angebot natürlich sofort an!
Als ich am nächsten Morgen aufstand, fegte ein Schneesturm über das dunkle Copacabana und der Titicaca-See verlor sich in der düsteren Ferne. Trotzdem ging ich zum Fischereihafen und traf tatsächlich die drei Belgier. Aber der Skipper, ein einheimischer Fischer, zeigte sich nicht. Wir setzten uns an einen windgeschützten Ort und erzählten uns gegenseitig unsere Abenteuer und beobachteten den erwachenden Tag. Schliesslich kam der Mann, auf den wir warteten. Er trug zerlumpte Kleider, ging barfuss und fror bestimmt erbärmlich. Er begrüsste uns, betrachtete uns skeptisch und meinte schliesslich, wir sollten in einer Stunde noch einmal kommen, wenn sich der Schneefall bis dahin gelegt habe, würden wir segeln.
Also gingen wir in die Markthalle, wo eben alles anfing, sich einzurichten, setzten uns zwischen Kisten und Säcken auf den Boden, ein Belgier organisierte Kaffee, ein anderer Fladenbrot und ich steuerte drei Kilo Mandarinas bei. Während dem Frühstück schlossen wir Wetten ab, ob wir nun segeln würden oder nicht, wobei ich als einziger zuversichtlich war.
Als wir nach der abgemachten Stunde wieder ins Freie traten, stand die Sonne über den Gipfeln der Cordillera Central und der frisch gefallene Schnee schmolz bereits wieder.
Unser Skipper hatte in der Zwischenzeit sein Boot, ein hölzernes, etwa fünf Meter langes, robustes Ding „seeklar“ gemacht. Wir bestiegen das Boot und verliessen kurz darauf rudernd den Hafen. Leider hatte sich der Wind über dem See gelegt und der Skipper pullte und pullte. Irgendwann kam eine bedrohliche, dunkle Wolkenwand über dem Titicaca-See auf uns zu und als sie uns erreichte, fegte für einige Minuten erneut ein Schneesturm über uns hinweg, allerdings in eine ungünstige Richtung und viel zu stark, um damit Segeln zu können. Kurz darauf schien die Sonne stärker denn je und wir rieben uns endlich mit Sonnenschutz ein, denn auf dieser Höhe – rund 3800 Meter über Meer – und in der kristallklaren Luft der Anden brennt die Sonne mit unerbittlicher Kraft.
Es wollte und wollte kein Wind aufkommen. Trotzdem ging ein beachtlicher Seegang und unser Skipper ruderte in stoischer Ruhe ununterbrochen etwa drei Stunden lang. Als er das erste Mal eine Pause einlegte, gab ich ihm von meinem Proviant und übernahm die beiden Riemen. Es war nicht ganz einfach, bei dem hohen Seegang gleichmässig zu rudern, denn das Boot schaukelte abrupt von einer Seite zur anderen, aber nach einigen Minuten hatte ich meinen Rhythmus gefunden.
Ich pullte etwa eine halbe Stunde lang, als Justo – der Skipper – endlich das Segel hochzog, einen unförmigen Fetzen aus zusammengenähten Kaffeesäcken. Aber die gewünschte Wirkung wurde trotzdem erzielt, ganz sanft trieb uns der leichte Wind voraus. Keuchend wegen der dünnen Luft zog ich die Riemen ein und machte es mir bequem. Bis jetzt waren wir alle sehr schweigsam gewesen, aber allmählich verwickelten wir Justo in ein Gespräch.
Er war ein offener, ehrlicher, etwas scheuer Mann, der es vermied, uns direkt in die Augen zu blicken. Er hatte sein Heimatstädtchen noch nie länger als für einen Tag verlassen und er kannte jeden Berg am Horizont und jede Bucht und erzählte uns allmählich mythische Geschichten über die Mond- und die Sonneninsel.
Offensichtlich war er sehr stolz, an diesem zweifellos aussergewöhnlichen Ort der Erde zu leben.
Kurz vor dem Mittag zogen wir Passagiere das Boot auf einen verlassenen Kieselstrand und bestiegen die Klippen der Sonnen-Insel, um auf ihren Gipfel zu gelangen, während Justo an Bord blieb.
Eine faszinierende Landschaft lag vor und unter uns. Der Titicaca-See war tiefblau und glasklar. Wäre es nicht so kalt gewesen, wir hätten uns in der Südsee gewähnt.
Wir zogen einige Stunden durch die Insel, neckten die uns schreiend umspringenden Kinder, legten uns in die Sonne und genossen das Gefühl der Freiheit und des Nichtstuns. Dass es sich bei der Insel um einen heiligen Ort handelt, war uns gar nicht richtig bewusst.
Justo segelte uns entgegen, als er sah, wie wir eine felsige Klippe abstiegen, lud uns ein und drehte bei. Endlich wehte genug Wind und wir rauschten zurück, dem Festland entgegen. Ich übernahm das Ruder von Justo und half ihm bei vereinzelten mühelosen Wendemanövern, während die Belgier schläfrig und rauchend herumlagen.
Irgendwann kamen Justo und ich auf die Frösche zu sprechen, die es im Titicaca-See geben soll. Jacques Cousteau hatte angeblich, nachdem er Anfang der Siebzigerjahre wochenlang vergeblich nach dem versunkenen Schatz der Inkas gesucht hatte, enttäuscht berichtet, dass er lediglich Millionen von etwa 50 Zentimeter langen Fröschen auf dem Seegrund entdeckt habe.
Die Einheimischen wissen freilich schon Hunderte von Jahren von diesen endemischen Fröschen und ernähren sich von ihnen. Mit Kartoffeln, versteht sich.
Justo bestätigte mir alles und meinte, dass man sie manchmal beobachten könnte, drei bis vier Meter unter der Wasseroberfläche. Ich starrte bestimmt eine halbe Stunde in die Tiefe, sah aber nichts als die quirlende Bugwelle.
Etwas abwesend sagte Justo zu mir, wenn er keine Touristen rausfahre, segle er sehr früh morgens raus, um die Frösche und ihre Hauptnahrung, einen Fisch, den er Ipsi nannte, zu fangen. Mit Netzen. Wenn ich Lust hätte, könnte ich am nächsten Morgen mitkommen. Tief in mir kitzelte mich etwas und ich sagte ohne lange zu überlegen zu.
Wir liefen in der Abenddämmerung ein. Die Cordillera Occidental leuchtete wieder glutrot am Horizont, während wir uns bei Justo bedankten, ihn bezahlten und in das Städtchen zurück gingen.
Nachdem ich die Wettschulden der drei Belgier in flüssiger Form eingetrieben hatte, trennte ich mich im Lauf des Abends von ihnen und zog mit einer blonden Amerikanerin weiter, die mir sehr gut gefiel. Wir hatten an diesem Abend viel Spass miteinander und beschlossen, gemeinsam nach La Paz weiterzuziehen.
Justo hatte ich inzwischen völlig vergessen.
Am nächsten Morgen, auf der bedrohlich schwankenden Ladung eines Lastwagens, der La Paz entgegen rumpelte und als ich in der Ferne den Titicaca-See glitzern sah, durchzuckte mich ein seltsames Gefühl. Hier sass ich neben einer zivilisierten Frau und liess eine Gelegenheit, die sich mir wahrscheinlich nie mehr bieten würde, links liegen.
Ich war von mir selbst enttäuscht und beschloss, mich in Zukunft mehr an die Einheimischen zu halten als an meine „Zunftgenossen“.
In La Paz, einer äusserst gewöhnungsbedürftigen Stadt, mietete ich, nachdem Cindy Richtung Chile weitergereist war, ein Zimmer in einer verwahrlosten Herberge am Stadtrand.
Ich mied Gringos und mischte mich mehr und mehr unter die Indios. Dabei erlebte ich eine Vielzahl von geheimnisvollen Episoden und fuhr später auf einem Lastwagen über die berüchtigte Carretera de la muerte, wie die Strasse zwischen dem Hochland der Anden und dem Tiefland des Amazonasbeckens genannt wird, durch die Yungas hinunter in den Beni, das bolivianische Amazonasbecken.
Dort kam ich voll auf meine Rechnung. Ich ging mit Einheimischen auf die Jagd nach Capibaras, den grössten noch lebenden Nagetieren, die wir im Wald am offenen Feuer grillten und gleich verspeisten. Meine neuen Freunde zeigten mir, wie man durch Zünden von Dynamit in trüben Wasserläufen Piranhas fängt, die wir, bereits schwimmend im Wasser wartend, nach der Explosion unverzüglich an der Oberfläche einsammelten und in Jutesäcken verstauten. Der Verzehr dieser Raubfische erwies sich allerdings als etwas mühsam, da sie sehr lange und dünne Gräten haben.
Als ich weiterzog, lernte ich in einem Bus Richtung Santa Cruz de la Sierra einen jungen, verwegen aussehenden Kerl kennen, der sich als ehemaligen Kampfpiloten der bolivianischen Luftwaffe vorstellte. Mittlerweile verdiente er sich sein Brot mit einem Kleinflugzeug und allerlei rätselhaften Transportflügen zwischen Brasilien und Bolivien. Er bot mir an, eine Zeit lang bei ihm wohnen zu können, was ich selbstverständlich auch tat. Neben zahlreichen alkoholdurchtränkten Ausflügen in den Sündenpfuhl von Santa Cruz flog ich zwei Mal als „Copilot“ mit, um beim Laden und Entladen von prall gefüllten Säcken mitzuhelfen. Dass wir während diesen Flügen stets wenige Meter über den Baumwipfeln flogen und weder eine offizielle Ausreise aus Bolivien noch eine ebensolche Einreise nach Brasilien vollzogen und stets auf einer Naturpiste mitten im Wald landeten, machte die Sache für mich nur umso abenteuerlicher.
Aber wie immer zog mich nach einigen Tagen eine drängende Sehnsucht nach der unbekannten Ferne weiter und noch heute habe ich manchmal das Gefühl, ein grandioses Erlebnis verpasst zu haben, damals am Titicaca-See, wo Justo einsam und frierend Frösche fängt.