Die Feder ist mächtiger als das Schwert, oder?
I.
Ach, Tage wie dieser, die mit Morgenröte erwachen
und sogleich der Sehnsucht Feuer entfachen
leide ich schon seit geraumer Zeit;
wann nur wird die Seele vom Schmerz befreit,
die jene junge Rose namens Silvia
mit Stacheln der Anmut in mir gebar?
Oh, wenn mein Herz nur mit dem ihren schlüge!
Und meines nicht mehr mich betrüge
Mit Zögern, Zweifel, unerfülltem Lieben,
Wenn drei Worte einander uns verschrieben
Und wir den Tag bis zur Abendröte überleben-
Zwei Herzen würden sich ins Paradies begeben!
„Roman, was machen sie da?“ Herr Krupp sah ihn scharf durch die Brille an und ging schnellen Schrittes zum Tisch.
Roman schlug das Heft zu. „Nichts, Herr Krupp. Ich habe nur eben nachgedacht.“
„Das werden wir ja gleich sehen.“ Er nahm das Heft und schaute hinein.
Roman sah verlegen auf den Boden.
„Wie ich sehe“, fing der alte Mann mit dem grauen Bart an, „haben sie sich intensiv mit einer Thematik beschäftigt, die bisweilen so weit von der Mathematik entfernt ist wie sie von einer eins in diesem Fach. Oh, wie ich Tage wie diesen liebe, morgens in der ersten Stunde bereits die Last auf mich nehmen zu müssen, hier Ordnung ins Chaos zu bringen- ihnen allen wird die Ironie in meiner Stimme aufgefallen sein?“ Er schaute sich in der Klasse um. „Wie auch immer: Sie werden zur nächsten Stunde ein Protokoll anfertigen, Roman, und zusätzlich die Aufgaben Nummer Zehn, Zwölf, Dreizehn und Vierzehn in einem kurzen Referat an der Tafel erläutern.“ Er schmiss ihm das Heft auf den Tisch du wandte sich, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ab.
Die Klasse schwieg. Es war jedoch nicht nur bedauerndes Schweigen, sondern eine Mischung aus Mitgefühl und innerlicher Schadenfreude, die aus manchen Augen so deutlich zu lesen war wie die Wörter des Gedichts.
In Roman indes brodelte es. Wie er den Krupp hasste! Innerlich sah er ihn in schwarzen Feuern lodernd verzehren, ihn schmelzen in der Glut seines Hasses. Niemand war so ungerecht wie dieser Lehrer. Warum verstand er nicht, dass es Menschen gibt, die mit der Mathematik gerade so viel zu tun haben wie Mathematiker mit der Poesie? Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass dieser Mensch seine Antipathie schonungslos und kalt präsentierte wie nackte Zahlen in einer Bilanz, dass er mit der Genauigkeit und Systematik eines mathematischen Beweises ihn bloßstellen wollte als einen Versager, als einen Nichtsnutz, als wertlos. Dieser Mann hatte etwas Kaltes an sich, seine Augen waren die eines Raubfisches. Keine Frage: er ging über Leichen, wenn er es nur wollte- und wehe dem, der ins Visier seiner Willkür kam; den verschlang er lebendig mit Haut und Haaren.
Renn, Roman, renn und fliehe!
Nach der Schule ging Roman den zwei Kilometer langen Schulweg. Die Wolken hingen gewöhnlich tief an diesem Tag im September. Er war allein mit sich und seinen Gedanken, was nicht ungewöhnlich war. Er hatte sich daran gewöhnt, sich mit sich zu beschäftigen, und wenn es Zeiten gab, wo er bewusst darüber nachdachte, dann kam er zu der Erkenntnis, dass dies vielleicht nicht einmal das Schlechteste sei. Denn so war er frei, ungebunden und niemanden verpflichtet außer sich selbst.
Vor ihm wurde eine Zeitung vom Wind in die Luft getragen. Er fing sie ein und las auf der Titelseite: „2. August 1933- Hindenburgs Tod!“ und „Hitler endgültig an der Macht!“
Oft hörte er seinen Vater von einem Aufschwung reden, der das von wirtschaftlicher Stagnation niedergestreckte Land wieder auf die Beine bringen sollte. Man müsse arbeiten, mit Hand und Fuß dazu beitragen, dass Deutschland wieder etwas werde. In letzter Zeit hörte er seinen Vater eigentlich nur noch davon reden, wenn er es bedachte: „Junge, bedenke, es wird eine Zeit kommen, in der du froh sein wirst, dass dich deine Lehrer mit jener Härte angefasst haben, die dich einst stark und ausdauernd machen wird. Du wirst geformt für die Zukunft, so dass du ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden wirst, die stolz auf dich sein kann. Schau dir nur die Tagelöhner an, die ins Blaue leben und heute nicht wissen, was morgen kommen wird. Sie sind einfältig, Einfallspinsel, Taugenichtse, untauglich! Schau dir all die Leute an, die von der Hand im Mund leben: Künstler werden sie genannt. Was ist das Leben denn wert ohne das Fundament eines eigenen Hauses, einer dich liebenden Familie, von Besitz, der zeigt, was du geleistet hast? Glaubst du wirklich, dass einer dieser freischaffenden Idealisten jemals Fuß fassen wird in unserer neuen Gesellschaft? Nein, Roman, ich sage dir: lerne diszipliniert und mit Anstand, ehre deinen Vater und seine Worte, wie Gott es Moses diktiert hat. Dann wird dein Leben ein gutes werden. Nur dann wirst du richtig leben und akzeptiert sein.“
Die Worte seines Vaters klangen ich ihm noch nach, als er das Gartentor öffnete und über die grüne Wiese zur Haustür ging. Wenn er nun die Schwelle überschreiten und ins Haus eintreten würde, dann sollte das Wochenende beginnen. Jene Zeit also, da er fernab von der Schule und den häuslichen Aufgaben Zeit für sich haben sollte.
Er ging die Treppe hinauf in sein Zimmer und packte seinen Ranzen aus. Dabei fiel ein zusammengefalteter Zettel auf den Boden, den er gleich darauf aufhob. In großen Buchstaben stand „An Roman“ auf der Vorderseite. Er entfaltete das Blatt Papier und las die fein säuberlich in blauer Schrift geschriebenen Lettern: „Hallo Roman, wie geht es dir. Hoffentlich wieder gut. Herr Stahl war heute gemein. Eigentlich ist er immer gemein zu dir. Das ist gemein, finde ich. Ich wollte dir nur sagen, dass ich zu dir halte, was auch geschieht. Zusammenhalt ist wichtig, weißt du? Ich hoffe, wir halten zusammen, du und ich, wir. Wenn du willst, kannst du mir zurück schreiben. Ich würde mich freuen, sehr sogar. Gestern haben ein paar Jungen meine Katze mit Steinen beworfen. Als ich sie fand, war ihr Kopf kaputt und ganz rot. Ich habe geweint. Das tat weh. Jetzt bin ich allein und ich vermisse ihr weiches Fell. Hast du schon einmal jemanden verloren, den du so doll geliebt hast, dass du weinen musstest, als er fort war? Ich hoffe nicht, denn das tut weh. Mehr noch als eine blutende Wunde, es tut innerlich sehr weh. Und du kannst in dich kein Heftpflaster kleben, dass es bald aufhört, weh zu tun. Schreib mir bitte, ja? Ich hab dich lieb, deine Stefanie.“
Roman legte den Brief beiseite. Den vierten in dieser Woche. Stefanie schrieb ihm fast jeden Tag, und wenn sie ihm gerade einmal nicht schrieb, dann schaute sie ihn an. Und zwar immer etwas länger als man jemanden anschaut, der nur ein Brieffreund ist. Dann war da noch die Art, wie sie ihn anschaute. Ihre Augen schienen in Momenten, wo er nicht zurückblickte, auf ihm zu ruhen. Und wenn er zurückblickte und ihr in die Augen sah, dann schaute sie schüchtern und verlegen beiseite. Sie war vernarrt in ihn, keine Frage, das wusste er. Er wusste aber nicht, wie er darauf reagieren sollte. Also reagierte er gar nicht. Er blickte sie nur noch selten an, redete nicht mit ihr und schrieb ihr nicht. Das wiederum schien sie aber dazu zu bewegen, ihm immer mehr Briefe heimlich zuzustecken. Insgesamt hatte er im letzten Monat die beachtliche Zahl von siebzehn Briefen bekommen, geschrieben in fein säuberlich blauen Lettern. Den achtzehnten legte er nun obenauf in die Schublade, wo er alles sammelte, was er aufbewahren wollte. Wenn er auch nicht zurück schrieb, so war er auf irgendeine, nicht definierbare Art und Weise stolz, dass sie sich für ihn so interessierte.
Von unten her rief seine Mutter: „Essen fertig. Kommt, essen!“, und Roman ging die Stufen hinunter ins Esszimmer.
Mutter und Vater saßen bereits am Tisch und taten sich Kartoffeln und Wurzelgemüse auf die Teller.
Sein Vater begann mit vollem Mund zu sprechen: „Wie war es heute in der Schule, Sohn? Hast du fleißig gelernt und gute Zensuren bekommen?“
„Ich denke schon, Vati.“, gab er zur Antwort, wohl wissend, dass er es besser wusste.
Wolfgang, Romans Vater, schien es ihm zu glauben. „Schreibt ihr bald Klassenarbeiten, dass wir Eltern auch erfahren, was ihr in der Schule durchnehmt?“, fragte er, essend.
„Nach den Ferien, Vati. Dann schreiben wir Arbeiten in Deutsch, Mathe und Biologie.“
„Es werden gute Klausuren, wie ich hoffe?“
„Ich denke schon, Vati.“
„Iss erst einmal auf, Roman. Dann reden wir weiter.“ Siegried sprach zu ihren Ehemann, der sie jedoch überhörte und fort fuhr: „Über was werdet ihr denn schreiben? In Mathematik beispielsweise?“
Roman schluckte, zum Glück kaum merkbar, das Essen schwer hinunter. „Ähm, das ist noch nicht sicher. Wahrscheinlich über Wahrscheinlichkeiten.“
„Und wie wahrscheinlich ist das?“, fragte sein Vater zurück.
„Eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich.“
„Du bist mir ein Wortedrechsler. Verstehst das Handwerk wohl, wie? Nun gut, die Zeit wird’s zeigen! Inzwischen denke dran, Junge: der frühe Vogel fängt den Wurm- setz dich auf deine vier Buchstaben und lerne die Sprache der Zahlen. Nur Zahlen sprechen eine unmissverständliche Sprache. Sie sind eindeutig und zeichnen den, der sie beherrscht, als eindeutigen Herrscher aus. Sieh mich an- ich habe mich in der Firma hochgearbeitet, weil ich stets fleißig war. Heute, nach vierzig Jahren harter Arbeit, habe ich zehn Leute unter mir, für die ich verantwortlich bin. Ich gebe ihnen deshalb Brötchen, ihren Familien deshalb Essen, ihren Existenzen deshalb eine Zukunft, weil ich das Rechnen beherrsche. So will ich dich sehen, Sohn- als Ernährer deiner Mitmenschen.“
Als Ernährer meiner Mitmenschen- diese Worte prägten sich an diesem Mittag in Romans Gedächtnis ein. Zwar konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, welch eine Bedeutung diesen Worten einmal zukommen würde, welch tiefere Wahrheit ihnen innewohnt, doch sein Gespür riet ihm, sie sich zu verinnerlichen. Eines Tages nämlich sollte er, in einer dunklen Stunde, sich des Lichtes dieser Worte erinnern, Kraft, Mut und Hoffnung aus ihnen schöpfen wie aus einem Quell, dessen klares Wasser den Schmutz aus schmerzhaften Wunden spült oder vor dem Verdursten bewahrt.
II.
Es sind auf Blumen Tränen der Nacht,
Die sie weint, wenn der Tag erwacht.
Sie schimmern und glitzern im Morgenschein
Mit magischer Kraft, lieblich und rein.
Es hüllt der Nebel als Schleier
Die singenden Wellen am Weiher.
Bald tanzen sie freudig im Licht,
Da Sonne am Morgen den Nebel bricht.
Du bist geboren im Morgen
Im Lichte lebst du geborgen;
Du bist das Wasser und das Licht:
alles, was Glück und Freude verspricht!
In der Dämmerung des Morgens, im Zwielicht zwischen Nacht und Tag, auf der Schwelle zweier Welten wanderte Roman durch des Waldes Dickicht. Fernab lagen die Gebiete, wo die Bäume gefällt wurden als Rohstoffe für die Industrie, die wie ein Geschwür in die Natur wuchs. So jedenfalls empfand er es, wenn er die kahl geschlagenen Lichtungen sah, auf denen Sägen sich ins Fleisch der Bäume gefressen hatten und nichts von ihnen übrig ließen als die verstümmelten Füße, die in der Erde zu weinen schienen.
An einem Brombeerstrauch blieb er stehen, betrachtete das Glitzerspiel der betauten Spinnennetze im Morgenlicht, atmete den würzigen Duft des feuchten Laubes und der Beeren ein, pflückte ein paar und schmeckte ihre Süße, während die Vögel hoch droben die Lieder des Herbstes sangen. Er fühlte sich wohl hier, nahe an der Natur, wohl und geborgen. Ein Gefühl der Sicherheit wuchs in ihm, wenngleich er nicht wusste, wovor er hier beschützt wurde.
Roman ging weiter, tiefer hinein in den Wald, bis er zu einem kleinen See kam, der verborgen war für die Augen derer, die nie einen Schritt abseits der Straßen und Wege taten. Es war ein ganz besonderer Ort, den eine magische Aura zu beschützen schien. Es war gleichsam sein Paradies, wo er sein konnte, wie er war- natürlich menschlich.
Er setzte sich auf einen moosigen Stein, der am Ufer wie ein einladender Stuhl dastand. Oft schon hatte er sich hier hingesetzt und dem Spiel der Wellen gelauscht, hatte das Jahr älter werden sehen im Spiegelbild des Wassers: grüne, sprießende Knospen im Frühling, volle Wipfel im Sommer, farbenfrohe Blätterregen im Herbst und schlafende Kronen im Winter. Jetzt, da sich das Jahr wieder dem Ende neigte, die Natur bunt wurde, die Sänge der Vögel sehnsuchtsvoll nach anderen Ländern riefen und die Mückenschwärme mit ihren letzten Tänzen die warmen Tage und lauen Nächte verabschiedeten, war auch Roman in einer ganz besonderen Stimmung. Er gedachte seiner Kindheit, die er spielend mit anderen Kindern im Wald verbracht hatte. Wie sie sich Baumhäuser gebaut und in der Wildnis übernachtet hatten. Unschuldiger Kinderspiele Freude zelebrierten. Die frohen Spiele jener Tage waren lange vorbei. Es folgten ihnen solche im Dorf. Wie sie beisammen durch die Straßen gerannt und anderen Leuten Streiche gespielt hatten: harmlose und auch solche, bei denen sie gottlob nicht erwischt wurden. Nie würde er vergessen, wie die Scheune des Bauern Ewald in Flammen aufgegangen war. Sie hatten im Stroh gesessen und die ersten Zigaretten geraucht. Einer von ihnen (wer es genau war, weiß heute keiner mehr) hatte die Fluppe fallen gelassen und das Stroh entzündet. Von weitem noch war die Rauchsäule zu sehen, die sich in das klare Himmelsblau bohrte. Noch Wochen später war der Brand Gesprächstoff Nummer Eins in der Gemeinde. Verdächtigt wurden viele, die dem Bauern Böses wollten. Auch sie waren unter Verdacht geraten, doch man hatte ihnen nichts nachweisen können, da sie einstimmig sagten, sie wären zu der Zeit im Wald gewesen und hätten am Weiher Steine nach Enten geschmissen. Man hatte ihnen schließlich geglaubt, da sie zwar berüchtigt für ihre Streiche waren, jedoch niemand ihnen eine solche Boshaftigkeit letztlich zugetraut hätte.
Irgendwann einmal, so dachte Roman, wolle er seine Jugend zu Papier bringen. All das, was er erlebt hatte, aufschreiben. Noch waren seine Gedanken ungeordnet, waren wie das Laub bunt über den Boden verstreut. Er sah zwar schon die verschiedenen Farben, die mannigfaltigen Formen, doch erblickte er noch nicht ihr Zusammenspiel. Es war mehr ein Tagtraum denn konkretes Vorhaben, vor allem dann, wenn er hier saß, auf seinem bemoosten Stein, den Blick auf dem bewegten Wasser ruhend. Dann wandelten sich seine Gedanken zu Wellen, schwappten mal an dieses Ufer, mal ans andere, versickerten im Sand und mischten sich wieder ins große Ganze namens See, auf dem die bunten Blätter schwammen. Ein wundervolles Gefühl der Ruhe und des Einsseins durchströmte ihn zu diesen Zeiten, eine Verbundenheit spürte er tief in seinem Herzen. Er musste an die Briefe denken, die Stefanie ihm so oft schrieb. Auch sie sprach von Verbundenheit, von Zusammenhalt, von Einigkeit. Doch war dies eine andere als er sie von seinem Paradies her kannte. Stefanie war ein liebes, wenngleich nicht sonderlich hübsches Mädchen. Sie trug eine Brille und versteckte ihr Gesicht hinter langem, blonden Haar, was sie sehr schüchtern wirken ließ. Oft saß sie da wie ein scheues Rehkitz, wenn sie ihn beobachtete. Ein Rehkitz, das verlegen lächelte, wenn er es anschaute. Auch auf dem Nachhauseweg waren seine Gedanken bei Stefanie. Es war das erste Mal, dass er sich mit ihr beschäftigte, dass er über sie nachdachte.
Bis sie sich allerdings näher kommen sollten, verging noch eine Weile.
Doch kaum zu glauben- sie sollte sich mit der Zeit zu einer selbstbewussten, liebenden, sorgenden, beschützenden, einfühlsamen, kämpferischen Ricke entwickeln, die Roman eine Freundin bis zum Letzten sein wird in schweren Tagen, eine vertraute Person mit einem Charakter, der Vorbild ist für Menschen, die sich einem bösen Geist der Zeit entgegensetzen und versuchen, ein wenig Menschlichkeit in einer unmenschlich werdenden Welt zu bewahren. Eine Frau, die ihrem Glauben treu bleibt!
III.
Wie Sturm und Hagel schlagen Worte
das Pflänzchen am geschützten Orte
um gemeinsam mit geballter Kraft
zu rauben ihm den Lebenssaft!
Es duckt zum Schutze dann den Kopf
Und fällt in einen tiefen Schlummer;
Dann packt das Dunkel es am Schopf
Und größer wird der Kummer.
Doch Glauben stark wie Wurzeln halten
Das junge Ding am rechten Ort-
Und der Versuch es gleichzuschalten
Zieht kurz mit Sturm und Hagel fort.
„Verehrter Herr Poet, wollen sie uns die Freude machen und uns ihren wohlklingenden Worten lauschen lassen, was ihr ach so besaiteter Geist an mathematischer Musik zustande gebracht hat? Oder gehe ich recht in der Annahme, dass sie auf dem Weg zusammengebrochen sind und sie uns heute einen Scherbenhaufen an Lösungen präsentieren werden?“ Die Blicke von Herrn Krupp waren Messer, seine Stimme geschliffener Sarkasmus, seine Lippen eng gepresst und hämisch, als er Roman vor die Klasse zitierte. Es war ihm sichtbar anzumerken, dass er Freude daran hatte, ihn auf dem Präsentierteller zu zerstückeln.
Roman war das Wochenende über mehr seinem Gefühl gefolgt als dass sein Verstand ihm hätte mathematische Erkenntnis gebracht. Sicherlich, er hatte sich hingesetzt und versucht, die ihm gestellten Aufgaben zu lösen, doch sah er schnell ein, dass Herr Krupp eben solche ausgewählt hatte, die einige Vorkenntnisse verlangten und aufeinander aufbauten. Er hatte von Anfang an mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewusst, dass Roman diesen Aufgaben nicht gewachsen war. Umso mehr genoss er jetzt den Moment, da seine Rechnung aufging und er den Jungen so klein mit Hut machen konnte. „Wollen Sie nun endlich beginnen oder wollen sie uns zu Tode warten lassen mit ihren Ergüssen?“
Roman trat an die Tafel. Seine Hände waren schwitzig, als er die Kreide nahm und begann, die Aufgaben an die Tafel zu schreiben.
„Belästigen Sie uns doch nicht mit dem, was wir schon im Buch gelesen haben. Schreiben Sie doch den Lösungsweg an, oder sollte ich sagen: ihren Todesgang?“ Seine Worte waren wie Faustschläge in den Nacken. Doch was sollte er tun? Wegrennen? Nein, das konnte er nicht. Einfach aufhören? Hohn und Spott würden über ihn hereinbrechen. Sich umdrehen und seine Unkenntnis eingestehen? Das wäre der endgültige Sieg für Krupp.
Also begann er, die ersten Zahlen, die er noch ausgerechnet hatte, an die Tafel zu schreiben. Währenddessen dachte er fieberhaft nach, was er tun konnte. Zahl um Zahl schrieb er an, und sein Vorrat an Zahlen schrumpfte stetig gegen Null. Da kam ihm ein Gedanke, der ihn wie ein Blitz durchfuhr. Er hielt inne und drückte beide Hände vor den Bauch, machte dabei ein schmerzverzerrtes Gesicht und wendete sich der Klasse zu. Sein Stöhnen klang verblüffend echt und das Rollen seiner Augen bestärkte den Eindruck, dass es ihm sehr schlecht gehen musste. Er sank auf die Knie und rollte sich zusammen, wie man es eben macht, wenn Bauchschmerzen einen quälen. Dabei wimmerte er kläglich.
„Stehen Sie auf, Roman, sofort! Auf die Beine! Stellen Sie sich nicht so an! Was ist denn?“ Herr Krupp kam nach vorne und griff dem Jungen unter die Achseln, so dass er ihn hoch heben konnte. „Los, Beine ausstrecken!“
Roman schrie vor Schmerzen, so dass er sich selbst überraschte, wie authentisch er doch seine Rolle spielte.
„Alles Theater, alles Trug! Sie sind mir ein ganz Gerissener! Los, mitkommen. Zum Direktor!“
Die Klasse indes schaute gebannt auf die sich ihr bietende Szenerie. Sichtlich hin- und hergerissen verfolgte sie, was sich da vorne abspielte. „Was hat er denn?“ fragten sie sich gegenseitig und „Er muss Schmerzen haben!“ kam als Antwort. Andere meinten, er simuliere und zeigten höhnisch lachend mit den Fingern auf Roman oder streckten ihm die Zunge heraus. „Hypochonder!“ schrieen zwei Jungen, die Roman schon immer gehasst und immer mit Herrn Krupp gelacht hatten, als dieser verbale Tiefschläge gegen Roman führte. „Elender Hypochonder!“
Stefanie wusste nicht so recht, was sie halten sollte. Dann entschied sie sich zu rufen: „Herr Stahl, soll ich mit ihm an die frische Luft? Vielleicht bessert sich sein Zustand dann.“
„Halt den Rand!“, fauchte er, den schreienden Roman immer noch schüttelnd. „Zum Direktor- sofort!“ Er zog ihn mit sich aus der Klasse.
„Holen Sie ihm ein Glas Wasser.“, instruierte Herr Büchner seine Sekretärin.
Dann wandte er sich dem Lehrer zu. „Was gibt es für Probleme?“
Mit dem Kopf deutete er auf Roman, der zusammengekauert auf einem Stuhl saß. „Er fing plötzlich an, sich wie ein Wilder in der Klasse aufzuführen. Herum schrie er und ließ sich auf den Boden fallen. Bauschmerzen habe er- natürlich! Er hatte Angst, sag ich Ihnen. Er sollte die Aufgaben rechnen, die ich ihm als Strafe für pflegelhaftes Benehmen übers Wochenende auftrug, damit er Zeit zum Nachdenken habe. Nichts hat dieser Nichtsnutz geschafft! Deshalb spielt er hier den Kranken. Fragen Sie die Klasse; sie wird’s Ihnen bestätigen, dass wir es hier mit einem Simulanten zu tun haben.“
Herr Büchner musterte Roman von oben bis unten, und sprach danach: „Ist es wahr, was dein Lehrer mir hier erzählt? Hattest du Aufgaben übers Wochenende?“
Roman blickte auf und versuchte, leidig zu wirken. „Ja, Herr Büchner. Das stimmt.“, sagte er gequält, als täte ihm jedes Wort weh.
„Und stimmt es auch, dass du sie hättest heute der Klasse vortragen sollen?“
„Ja.“
„Und hättest du sie vortragen können?“
Die Sekretärin kam ins Zimmer und brachte das Wasser. Roman nahm einen Schluck, froh, dass er eine kleine Pause hatte zum Bedenken. Er nahm Schluck um Schluck, während er seine Antwort abwägte. Als er ausgetrunken hatte, sagte er: „Es ist nicht so, wie Herr Stahl es darstellte. Ich hätte es gekonnt, doch plötzlich war der Schmerz da und ging nicht mehr weg. Auch jetzt noch zieht es in meinem Bauch, sehen Sie, hier.“ Er deutete auf die Stelle, wo der Blinddarm sitzt.
„Alles gelogen!“, rief Herr Krupp empört. „Der Junge hat es faustdick hinter den Ohren. Er lügt, ohne dabei rot zu werden!“
„Warten Sie es ab, wir werden die Wahrheit ans Tageslicht fördern; nicht wahr, Roman?“ Der Direktor sah ihn eindringlich in die Augen und Roman hatte Mühe, seinem Blick standzuhalten. Er fuhr fort: „Offensichtlich hat dieser Junge Schmerzen- doch auch Schmerzen gehen vorbei. Ich schlage deshalb vor, der Junge soll sich kurieren bis Morgen. Dann wird er Gelegenheit haben, seine Aussage, er könne die Aufgaben rechnen, zu beweisen. Sollte er Recht behalten, ist die Sache erledigt. Wenn er uns aber getäuscht hat und angelogen, dann wird ein Tadel nicht mehr ausreichen. Sollte dieser Fall eintreten, Roman, wirst du für eine Woche von der Schule suspendiert, gleich nachdem Herr Krupp dir mit dem Rohrstock Reue eingebläut hat. Das wäre alles, Sie können jetzt gehen.“
Herr Büchner wandte sich wieder der Verordnung zu, die ihn seitens der Regierung zugeschickt worden war. Sie beinhaltete einige Änderungen im Lehrplan, die unverzüglich eingeleitet werden sollten. Ein leichtes Schmunzeln legte sich auf Büchners Gesicht, wie Roman sah, als er zusammen mit dem Mathelehrer das Büro verließ.
Er war der drohenden Gefahr entronnen- erstmal jedenfalls. Doch das Damoklesschwert hing am berüchtigten seidenen Faden über seinem Kopf. Und sein Kopf würde rollen, wenn er binnen Tagesfrist nicht so firm wurde, dass er die Aufgaben bewältigen konnte. Sein Vater würde kein Verständnis dafür haben und ihm den Kopf abreißen, ihn prügeln oder gar aus der Familie verbannen.
Wenngleich letztere Befürchtung eher unwahrscheinlich war, so fachte sie jedoch die Angst in ihm an. Er dachte nach, was er für Möglichkeiten hatte, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, bis er schließlich eine Idee hatte: Er würde Stefanie fragen, ob sie heute Nachmittag Zeit habe.
Das Mädchen stimmte sofort zu, und so kam es, dass sie sich für drei Uhr bei ihr zu Hause verabredeten. Sie wohnte mit ihrer Familie in einem kleinen Haus am Rande des Dorfes.
Als Roman klingelte, öffnete eine Stefanie die Tür, die er zuvor noch nicht gesehen hatte. Sie hatte das Haar hochgesteckt, so dass ihr Gesicht deutlich zu sehen war. Außerdem funkelten ihn zwei große blaue Augen an. Sie hatte nämlich keine Brille auf.
Stefanie begrüßte ihn fröhlich und führte Roman in ihr Zimmer, das sie sich mit ihrer kleineren Schwester teilte. Es standen zwei Betten dort, und auf einem lag ein Teddybär, der schon einige Jahre auf den Buckel zu haben schien. Stefanie legte schnell die Bettdecke über ihn.
„Ist das dein Bett?“, fragte Roman, und bekam ein „Ja“ zur Antwort.
„Und ist das dein Teddy gewesen?“
Stefanie errötete leicht und sagte schnell: „Nö, der gehört meiner Schwester.“ Sie war eine schlechte Lügnerin und Roman bemerkte schnell, dass dieser Teddy ihr wohl eine Art Katzenersatz sein musste. Er beließ es auf sich ruhen.
„Ein recht schönes Zimmer hast du. So ordentlich und aufgeräumt.“
„Danke“, sagte sie. „Meine Mutter meint, dass Zimmer muss immer aufgeräumt sein. Sie legt großen Wert darauf, dass alles an seinem Platz ist. Wenn es unordentlich ist, dann wird sie schnell böse.“
Roman schaute sich weiter um. „Du hast eine strenge Mutter?“
„Sie ist eher genau. Und- wie heißt das Wort? Ach ja: penibel.“
„Also streng.“, meinte Roman.
„Ja, wenn du so willst. Aber lass uns von was anderem reden.“, versuchte Stefanie auszuweichen.
„Hast du die Bilder selbst gemalt?“, fragte Roman. Er stand vor drei Bildern, die an der Wand hingen. Das erste zeigte eine getigerte Katze, die durch das Schilf an einem See auf einige Enten zu schlich.
„Das war Mimmi. Ich habe dir ja erzählt, was ihr passiert ist.“
Roman erinnerte sich. Jungen hatten sie gesteinigt. „Tut mir Leid, ehrlich. Du hattest sie wohl besonders gern, wie?“
Eine Träne stieg Stefanie in die Augen, die sie aber sofort wegwischte. Roman hatte es dennoch bemerkt, setzte sich neben sie aufs Bett und nahm sie in den Arm. Stefanie fing an zu schluchzen. „Mein Onkel hat sie mir geschenkt, kurz bevor er vergangenes Jahr gestorben ist. Er hatte eine schwere Krankheit, Krebs hieß sie, glaube ich. Und die Ärzte sagten, man könne ihm nicht helfen. Er war mein Lieblingsonkel. Er war immer so gut zu mir. Ich weiß noch, als kleines Kind war ich oft bei ihm. Mimmi war damals noch ein Kätzchen, aber immer schon so zutraulich und lieb. Dann hat er mir letztes Jahr, kurz vor seinem Tode, gesagt, ich solle auf sie aufpassen. Ich wäre die einzige, der er seine Katze anvertrauen wolle, sagte er. Ich hab ihm versprochen, immer gut auf sie aufzupassen, sie zu beschützen wie ein Kind. Und jetzt- jetzt ist sie- tot!“ Stefanie brach in Tränen aus. Sie drückte sich fest an Roman, der ihr behutsam auf den Rücken klopfte, während er sagte: „Hey, nicht weinen. Ich bin sicher, da, wo deine Mimmi jetzt ist, da geht es ihr gut. Sie muss nicht mehr leiden und kann den ganzen Tag mit anderen Katzen umher springen. Und die Jungen, die sie auf dem Gewissen haben, werden dafür büßen.“ Roman hielt inne: Würde er dann auch büßen müssen? Schließlich hatte er früher gleiches getan und Tiere gesteinigt. Damals war alles ein riesengroßer Spaß gewesen. Doch jetzt sah er zum ersten Mal, was den Menschen angetan wird, die diese Tiere liebten. Sie litten, als wäre ein vertrauter Mensch gestorben. Er fühlte sich auf einmal schuldig.
Stefanie bemerkte, dass Roman innehielt und fragte, nachdem sie sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte: „Was ist denn los? Was hast du?“
„Ach, nichts. Ist schon gut. Du malst wirklich wunderschöne Bilder. Ich bin tief beeindruckt. Das hätte ich dir, ehrlich gesagt, nicht zugetraut.“
„Normalerweise zeige ich sie keinem. Ich male sie für mich. Du hast sie nur durch Zufall sehen können, denn ich habe vergessen, sie abzuhängen. Aber was traust du mir denn zu?“
Roman stockte: „Äh, das war nicht so gemeint wie es vielleicht geklungen hat. Ich meine, ich dachte nur…-„
„Schon gut. Ich habe dir ja nie davon geschrieben und du warst ja noch nie hier bei mir.“
Roman wurde verlegen. „Ach ja, deine Briefe…“
„Weißt du, ich wollte dir einfach sagen, dass ich dich gern mag. Aber so direkt, weißt du, Auge in Auge, konnte ich das nicht. Vielleicht bin ich zu schüchtern. Ich wusste ja nicht, wie du reagieren würdest. Vielleicht hättest du mich ausgelacht. Oder du hättest gesagt, dass du nichts von mir wissen wolltest.“
„Ich hatte oft das Gefühl, dass du mit mir zusammen sein wolltest.“ Roman schaute ihr in die Augen, als er das sagte. Stefanies Blick wurde wieder rehkitzhaft. „Wie gesagt, ich habe dich gern. Aber du magst mich nicht besonders, oder?“
„Wäre ich heute hier, wenn ich dich hassen würde?“, fragte er.
„Du liebst Silvia, nicht?“ Stefanies Frage traf ihn unvorbereitet.
„Wie? Was? Aber, woher weißt du…“
„Ich habe in dein Heft geschaut, als ich den letzten Brief in deinen Ranzen gesteckt habe. Nachdem Herr Stahl so sauer war und dir die Strafe aufgebrummt hatte, war ich neugierig, was ihn so ärgerlich gemacht hat. Ich kann nicht verstehen, dass ein so schönes Gedicht einen Menschen so verärgern kann.“ Sie sah nachdenklich aus, als sie den letzten Satz sprach.
„Stefanie, ich…“ Sie unterbrach ihn. „Nenn mich Steffi, ja?“
„Steffi, sag es ihr nicht, ja? Ich meine Silvia. Sag ihr bitte nichts von dem Gedicht.“
„Ich kann ein Geheimnis für mich behalten, glaube mir.“ Sie lächelte ihn an. „Obwohl ich nicht verstehe, warum du gerade sie liebst.“
In Romans Gesicht spiegelte sich Nachdenklichkeit, bevor er antwortete: „Weißt du, Steffi, am Abend, wenn ich alleine in meinem Zimmer bin und auf dem Bett liege, dann kann ich durch mein Zimmerfenster die Sterne am Himmel leuchten sehen. Und sie funkeln schön wie eh und je. Doch kommt mir Silvia in den Sinn, verblassen selbst die schönsten Zeichen und nur noch ihre Augen strahlen dort vom Firmament. Und wären die Sterne ihre Augen, so wären es nur schwarze Löcher, denn ihre Lippen sind voll wie der runde Mond und schimmern immer silbrig- glänzend wundervoll! Sie ist in meinen Gedanken und in meiner Vorstellung wie eine Zauberin, Steffi, verstehst du?“
„Du sprichst wundervolle Worte. Hast du Shakespeare gelesen?“
„Nein. Bei uns zu Hause gibt es kein Buch außer der Bibel. Aber gehört habe ich von ihm. Er soll mit Worten gezaubert haben.“
„Mein Onkel las mir früher oft von ihm vor. William Shakespeare lebte vor viele hundert Jahren in England und schrieb wundervolle Theaterstücke. Eines seiner schönsten heißt „Romeo und Julia“, die Geschichte einer Liebe, die nicht sein durfte. Er las es mir immer vor, wenn ich bei ihm war. Wenn du es je lesen solltest, dann denke an mich, ja?“
Roman sah sie an. „Ich hoffe, es kommt die Zeit, wo ich seine Worte lesen darf. Ich sehne mich regelrecht danach. Bücher sind etwas Fantastisches. Ich stelle mir oft vor, eines wie einen Freund an meinem Herzen zu tragen, eines, in dem aus jedem Wort Wahrheit spricht!“, sagte er.
„Ich bin davon überzeugt, dass du irgendwann deinen Wunsch erfüllt bekommst- deinen Buchwunsch jedenfalls. Mit Silvia bin ich mir hingegen gar nicht sicher.“
„Wie meinst du das?“
„Weißt du, ich glaube, dass Silvia dich nicht verdient hat. Sie ist so- abweisend, habe ich das Gefühl. Mit mir sprach sie noch nie ein Wort. Hast du mit ihr schon gesprochen? Erzähl mir, was ihr miteinander beredet habt.“
Es entstand eine Pause, in der Roman überlegte. Er musste sich eingestehen, dass er noch nie mit ihr gesprochen hatte. Sie war in seinen Gedanken und seiner Erinnerung, ohne dass sie je ein längeres Gespräch geführt hätten. War das nicht seltsam? Er liebte sie, doch was liebte er an ihr? Liebte er einzig ihre äußere Erscheinung, ihr Aussehen? Nein, das konnte nicht sein. Da war doch noch mehr, oder? Wenn er sie mit ihren Freundinnen beisammen stehen sah, wie sie gemeinsam lachten und redeten, dann hatte er oft das Gefühl gehabt, dass es bei ihnen ähnlich sein würde, wenn sie denn je zusammen kommen würden. Doch dazu war es bis jetzt nie gekommen.
Stefanie indes beobachtete Roman, wie er in sich ging und nachdachte. Seine Augen waren gesenkt, er schien links und rechts abzuwägen, jedenfalls sprangen seine Augen hin und her, wie sie sehen konnte. Er sah auf einmal nicht mehr so glücklich aus, wie er es gerade noch war, als er von ihr in höchsten Tönen gesprochen hatte.
„Wenn ich recht überlege“, fing er dann an, „habe ich auch noch nie mit ihr gesprochen. Vielleicht, weil sie eine Klasse über mir ist und wir uns so selten sehen.“
„Vielleicht aber auch“, sagte Steffi ruhig, „ist sie von dir eben so weit entfernt wie die Sterne von der Erde. So unendlich weit.“
Es war ein seltsamer Tag. Eigentlich wollte er nur zu Steffi, um mit ihr Mathe zu machen. Aus einem anfangs unverbindlichen Gespräch schien Vertrauen gewachsen, so dass sie gerade über seine Art zu lieben redeten. Und nicht nur das- es war ja in dem Sinne keine Liebe, wie Roman nun, da er mit Steffi geredet hatte, begriff. Es war eine Illusion gewesen, ein Schein, der trog, der blendete. Eine schillernde Seifenblase, die zerplatzte. Doch spürte er keinen Schmerz, denn die Erkenntnis war hart, aber ebenso heilsam. Ein wirklich seltsamer Tag war das.
Eine Weile sprachen sie noch weiter, dann setzten sie sich zusammen, um die Aufgaben der Mathematik zu lösen, was durch Steffis Hilfe auch gelang.
Als Roman nach Hause ging, war es bereits dunkel. Zu den Sternen guckte er in dieser Nacht nicht.
IV.
Es war später Vormittag- Roman hatte bereits sein Referat zu Krupps Missgunst erfolgreich vortragen können- da rief Herr Büchner die Klassen auf dem Schulhof zusammen. Es bestand kein offensichtlicher Grund für diese Zusammenkunft, und so wurde gemurmelt und gemutmaßt, was es denn zu besprechen gebe. Steffi und Roman standen beieinander, als die Stimme des Direktors durchs Mikrofon schallte: „Verehrte Kollegen und Kolleginnen, liebe Schülerinnen und Schüler“ begann er seine Rede, „die heutige Zeit ist eine Zeit des Wandels. Deutschland ist im Wandel begriffen und wir, die zu Deutschland gehören, ein Teil des deutschen Körpers sind, wandeln uns mit ihm. Denn nur, wenn der Wandel allumfassend stattfindet, ist es ein guter Wandel. Wir sind eine gute Schule, eine deutsche Schule. Und ihr seid Teil dieser Schule, also Teil des Wandels. Und da ihr ebenfalls Deutsche seid, wird er euch gut tun. Von der Regierung, dem Initiator und Vordenker, wurde beschlossen, die Lehrpläne an unseren Schulen dem Zeitgeist anzupassen. Diese Nachricht war bereits vor Tagen in der Zeitung zu lesen und zwar deutschlandweit. Das heißt, jede Schule in Deutschland wird zu einem Teil des neuen Geistes. Fürchtet Euch nicht vor Veränderungen- denn alles, was sich im Gegensatz zu der Katastrophe im Jahre 1929 ändert, ist eine gute Änderung, ein Schritt in die richtige Richtung! Wir werden einen neuen Weg gehen, einen erfolgreichen, einen elitären, der Schmach und Hoffnungslosigkeit vergangener Tage ausmerzen wird und uns Tür und Tor öffnen wird in eine neue, größere, bessere Welt!
Es liegen mir bereits die neuen Schulbücher vor, die von heute an in deutschen Schulen unterrichtet werden. Vieles wird euch anfangs fremd vorkommen: und das mit Recht! Das Fremde muss als Fremdes erkannt werden, das Deutsche als Gutes und als einzig Wahres! Ziel ist, unsere Gemeinschaft zu stärken, das Land von Kopf über Hand bis Fuß zu einen! In Zukunft werden wir unterscheiden müssen zwischen dem, was gut und dem, was fremd ist. Wir Lehrer werden es euch lehren, ihr Schüler werdet es lernen, um es danach anderen zu lehren, die wiederum von euch lernen: ein Kreislauf des Lernens und des Lehrens wird unser Land stark machen wie es der Kreiskauf in unser aller Körper tut. Die Ideologie ist Nahrung, unser Blut die Tat, die den Körper unseres Landes stark und kampfbereit macht. Ihr seid die Hände, die diese Ideologie tragen werden, ihr seid die Füße, die diesen neuen Weg begehen. Ihr seid der Kopf, der feststellt, dass diese Ideologie zu den großartigsten in der Geschichte der Menschheit gehören wird!
Eure Klassenlehrer sind bereits über die nötigen Einzelheiten informiert. Sie werden euch in naher Zukunft Anweisung geben, wie ihr zu guten Deutschen werden könnt, zu einem Teil des großen Ganzen, das unser verehrter Adolf Hitler für uns und unser Land ausgedacht hat. Lang lebe Adolf Hitler!“
„Lang lebe Adolf Hitler!“ schallte es aus achthundert Kehlen gleichzeitig wider.
Die Rede des Direktors war fortan Hauptgesprächsthema. In den Klassen saß man beisammen und unterhielt sich über das neue Deutschland. Von zuhause hatten einige bereits davon gehört, dass es Menschen gebe, die nicht so deutsch sind wie andere. Und dachte man darüber nach, so stellte man alsbald fest, dass es in der Tat Unterschiede zwischen den Menschen gab. Die einen waren blond, blauäugig, groß und stark- echte Deutsche eben. Andere waren dunkelhaarig, hatten braune Haut und Augen, lange Haare vielleicht auch noch- die waren offensichtlich keine Deutsche.
Peter, der größte Junge aus der Klasse, passte ideal in das Bild des Archetypus. Er war einer der beiden Jungen, die Roman bis aufs Fleisch hassten. „Da kommt ja unser Eigenbrötler!“, rief er spöttisch aus, als Roman die Klasse betrat. Alle lachten, außer Steffi. „Lass ihn in Ruhe!“, fauchte sie.
„Hey, blonder Engel. Was gibst du dich mit dieser Missgeburt ab? Komm zu uns, komm her. Wir beißen nicht. Hier gehörst du hin, nirgendwo anders.“ Peter reichte ihr die Hand, bekam jedoch einen bösen Blick Retour. „Du wirst dir noch wünschen, du hättest dich heute anders entschieden. Angekrochen wirst du kommen, winselnd wirst du betteln, dass wir dich aufnehmen in unsere Kreise. Wirst schon sehen!“
„Eher wird die Hölle mir ein Paradies sein, als ihr meine Freunde.“
„Lass gut sein, Steffi.“, flüsterte Roman ihr zu. „Die sind verrückt.“
„Was flüstert dir dein kleiner Knirps mit dem Hängeohr denn ins Ohr? Haben wir etwa Geheimnisse?“ Die Augen waren nun endgültig alle auf die beiden gerichtet. Man erwartete ein Wortgefecht, vielleicht noch mehr.
Doch Herr Jürgens, der Politiklehrer, kam in die Klasse und beendete die Auseinandersetzung vorläufig.
Roman setzte sich auf seinen Platz und schwieg.
Der Lehrer, Mitte dreißig, untersetzt, begann den Unterricht.
„Wir waren alle Zeuge von Herrn Büchners Rede. In der Tat hat er auf den Punkt gebracht, was seit einiger Zeit in vielen Sätzen aus der Presse und interner Rundschreiben zu lesen war. Die Unterrichte werden umstrukturiert, und ihr werdet erleben, wie es sich auswirkt. Doch die heutige Stunde möchte ich dafür nutzen, um einige wichtige Dinge mit Euch zu besprechen.“ Er setzte sich vorne auf das Pult und holte aus seiner Tasche einige Zettel.
„Mir wurde aufgetragen, euch darüber zu informieren, dass es für eure Entwicklung äußerst förderlich sei, wenn ihr der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen beitreten werdet. In diesen Gruppierungen werdet ihr Kameradschaft und Zusammenhalt erfahren. Ihr werdet ein Team sein, Brüder und Schwestern im Geiste und in der Tat. Ihr werdet viel Spaß haben, denn ihr werdet gemeinsam viel erleben, was euch stark macht und was euch eint. Spiel, Sport und Spaß stehen oben auf der Liste: Zeltlager, Fußball, Schießübungen, Orientierungsmärsche und gemeinsame Gespräche erwarten euch sowie vieles, vieles mehr. Darüber hinaus wird die Teilnahme an solchen Aktivitäten sich positiv auf eure schulischen Leistungen auswirken. Das Fernbleiben andererseits hat Konsequenzen zur Folge. Wir werden darüber informiert, ob und wie oft ihr teilgenommen habt, so dass wir stets im Bilde sind, wer einen Beitrag zum neuen Deutschland leistet.“
Herr Jürgens schaute sich in der Klasse um, wie seine Worte auf die Schüler gewirkt haben. Er sah in manchen Gesichtern Zufriedenheit, ja Freude. In anderen Neugier. Interesse. Nachdenklichkeit. Alles gut, bis auf eines, das Skepsis verriet. „Was lässt dich an meinen Worten zweifeln, Stefanie?“
Das Mädchen war völlig überrascht, als sie angesprochen wurde.
„Sie steckt mit dem Wicht unter einer Decke!“, rief niemand anderes als Peter.
„Was meinen Sie, Herr Jürgens?“ Sie war nervös.
„Ich meine, du siehst so aus, als ob du an der Richtigkeit und Aufrichtigkeit meiner Worte zweifelst. Liege ich da richtig oder gar nicht so falsch, Steffi?“
Eine böse Fangfrage war das. Steffi merkte, wie sie in die Enge getrieben wurde.
Da mischte sich Roman ein. „Wenn ihr Gesicht Freude trüge, wäre es nur mehr eine Maske. Wenn ich hier in der Klasse Trauer sehen würde, wäre es nur mehr ein Trauerspiel, denn es würde die wahren Gefühle kaschieren. Wenn ich hier spreche, dann tue ich das, weil ich sprechen will- und nicht, weil jemand anderes mir vorschreibt, dass es recht sei, zu sprechen. Wir sind alle nur mehr fünfzehn Jahre alt. Und wir sind Teil dieser Schule, also Teil Deutschlands. Haben wir als Deutsche nicht das Recht, uns ehrenwert wie Deutsche zu verhalten, wenn wir ehrlich sind anstatt zu lügen?“
„Du bist kein Deutscher- du bist anders!“ unterbrach ihn Peter. Aus seinen Augen sprühte blanker Hass, kalter Stahl war seine Faust, die er drohend, schlagend gegen ihn erhob.
„Ruhe jetzt!“ Herr Jürgens sprach ein Machtwort und die Stimmen verloschen. „Wenn hier einer redet, dann bin ich das. Komm nach vorne, Roman. Sofort!“
Roman ahnte Schlimmes, als Herr Jürgens zum Wandschrank ging. „Strecke deine Finger aus!“, befahl er dem Jungen. Roman tat wie ihm geheißen.
Die Nussbaumrute zerschnitt die Luft und grub sich tief, bis auf die Knochen, in die Finger. Es schmerzte höllisch, die Qual war unbeschreibbar! Doch Roman verzog keine Miene. Er hatte aus tiefer Überzeugung gesprochen. Die Genugtuung wollte er Jürgens nicht geben, ihn zu brechen, und Peter auch nicht.
Er schaute Stefanie an. Sie weinte, leise, hinter ihren Händen.
V.
Ihre Hände waren sehr behutsam, sorgsam und vorsichtig, als sie den Verband anlegte. Aus ihren Augen sprach Mitgefühl und Hass, Nähe und Distanz, eine Mischung, die Roman berührte wie die Fürsorge für seine Wunden. Was er heute erlebt hatte, schmerzte ihn. Mehr noch als der körperliche Schmerz war er von der Erkenntnis verletzt, dass ihm für Worte aus der Tiefe seiner Seele solch ein Unrecht angetan wurde. Wohin sollte das noch führen? War er nicht ein Mensch, der seine Meinung sagen durfte, wann immer er wollte? Zuhause hatte er gelernt, sich äußern zu dürfen. Niemand verbot ihm dort den Mund. Sicherlich: es war nicht gewöhnlich, dass Eltern ihren Kindern freie Meinungsäußerung erlaubten. Er kannte viele Beispiele, wo die Kinder mit Prügel rechnen mussten, wenn sie ungefragt den Mund aufmachten.
Andererseits wusste er, dass seit jeher andere Gesetze in der Schule galten. Da war der Lehrer das non plus ultra und jeder, der sich Lehrern widersetze, musste eine Strafe über sich ergehen lassen. Das war Gesetz, das wusste er auch- normalerweise. Doch was am heutigen Tag in der Schule geschehen war, konnte keiner, der Menschenverstand besaß, als normal bezeichnen. Ein bedrohlicher Schatten schien sich über das Land zu breiten, von ihm Besitz zu ergreifen. Was hatte der Direktor gesagt? Eine neue Zeit wird anbrechen. So oder so ähnlich war es. Es lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, als er sich der Rede erinnerte. Nicht nur, was Büchner gesagt hatte, sondern vor allem, mit welcher Überzeugung und mit welchem Enthusiasmus er die Worte sprach, oder besser: ins Mikrofon schmiss, war beängstigend, zutiefst beunruhigend. Es erinnerte an die Art, wie Herr Stahl sie zelebrierte: an einen Raubfisch, der zur Jagd geblasen hat.
„Tut es sehr weh?“, fragte Steffi besorgt. Die Wunden sahen übel aus und mussten höllisch schmerzen. Es würden Narben zurückbleiben. Das war sicher. Wie Jürgens außer sich vor Wut immer und immer wieder auf die Finger eingedroschen hat, wie man sonst nur das Korn drischt- brutal! Unmenschlich! Bestialisch! Er schien schier in einem Rausch gewesen, im Rausch des Blutes und der Macht. Ja, Macht über einen hilflosen Menschen haben, schutzlos ihn mit aller Gewalt zu misshandeln- er hat es genossen. Da war etwas in seinem Blick, das ihr in dieser Hinsicht Sicherheit gab. Dieser Mensch war zu allem fähig, wenn jemand ihm quer kam. Das hatte sie heute gesehen.
„Es geht schon wieder. Vorhin habe ich gedacht, ich breche zusammen. Mir war kurz schwarz vor Augen. Dieser Mistsack, dieses Schwein!“ Roman kniff die Augen zusammen, als er versuchte, die Hände zur Faust zu ballen. Der Schmerz war nicht weniger geworden, doch er wollte Steffi nicht unnötig beunruhigen. Es war klar, dass die Wunden Wochen brauchen würden, um abzuheilen. Wahrscheinlicher war es jedoch, dass sie sich entzündeten und sich Eiter bildete. Dann konnte es unter Umständen Monate dauern.
Wenigstens habe ich dann immer den Menschen vor mir, der mir das angetan hat. Ich werde es nicht vergessen. Irgendwann werde ich es ihm heimzahlen, schwor er sich.
„So in Rage hab ich den Jürgens noch nie erlebt.“ Steffi stand von ihrem Bett auf.
„Sowieso hat sich vieles geändert in letzter Zeit. Die Menschen haben sich geändert, als wären sie befallen von einem Virus, der Hass in ihren Herzen schürt.“
„Ja, ich weiß, was du meinst. Es geht etwas um, das wir noch nicht greifen können. Aber spüren tun wir es. Wir- als wenige von vielen.“
„Ich habe Angst, Roman. Heute, als Büchner seine Rede hielt, habe ich Angst bekommen. Als Peter dich angriff, steigerte sie sich noch, und als Jürgens dich prügelte, wurde es Furcht. Was geschieht hier, was geschieht mit den Menschen?“
„Etwas Schreckliches, das habe ich seit dem heutigen Tag fest im Gespür. Aber höre, Steffi: wir halten zusammen, okay? Was auch immer noch geschehen mag, welche Grausamkeiten über uns hereinbrechen werden, mit welchen Qualen wir noch konfrontiert, welches Leid wir noch erleben werden- sie dürfen uns nicht trennen. Denn alleine werden wir zum Spielball ihrer Willkür. Schon zu zweit werden wir es schwer haben, fürchte ich. Du hast gesehen, was heute passiert ist. Der Hass, der mir in der Klasse entgegengebracht wird, hat sich gesteigert; und die Spitze ist noch nicht erreicht. Das war erst der Anfang. Und du kannst sicher sein, wenn du mit mir gesehen wirst, dann springt der Funke auch auf dich über.“
Die Ruhe, mit der Roman diese Worte sprach, bestärkte ihre Aussage. Steffi hatte so etwas bereits geahnt. Heute wurde sie von Peter gefragt, ob sie zu ihm und seiner Clique wechseln wollte. Sie hatte abgelehnt, doch war ihr im selben Moment bewusst geworden, dass dies Folgen haben würde. Roman hatte sie jetzt auf den Punkt gebracht. Mitunter konnte es eine gefährliche Zeit werden. Doch war ihr das im Innersten egal. Sie wollte nie etwas mit Peter zu tun haben, sondern Roman näher kennen lernen. Den Jungen, der oft so melancholisch dreinschaute, so zurückgezogen lebte, so nachdenklich schien. Seine braunen Augen sahen oft so traurig aus, doch schimmerte in ihnen ein ganz besonderer Glanz. Sie passten wirklich zu ihm und seinem Gemüt und verliehen ihm eine magische Aura. Wenn er nur etwas selbstbewusster wäre, etwas mehr aus sich herauskommen würde: er hätte die Fähigkeit, seine Mitmenschen zu verzaubern, sie zu begeistern. Sein Herz sitzt am rechten Platz, fremd sind ihm Habsucht und Effekthascherei. Es scheint zu bluten, wenn ihm Schlimmes angetan wird und für dieses Schlimme scheint er den Verursacher zu hassen. Sein Hass aber entspringt einer verletzten Liebe, einem Vertrauen in das Gute im Menschen, das der Mensch selbst widerlegt, indem er das Gegenteil durch sein Handeln beweißt. Ach, Roman, weißt du nicht um deine Gabe?
„Du bist zu Recht nachdenklich. Es ist keine leichte Entscheidung, ich weiß, denn sie wird wegweisend sein. Egal, für welchen Weg du dich entscheidest: er wird endgültig sein.“, sprach Roman.
„Das ist es nicht. Ich war gerade in Gedanken versunken. Natürlich werde ich bei dir bleiben. Das habe ich dir schon immer gesagt. Ich hab dich so unglaublich gern und werde dich nicht verlassen. Ich weiß, dass schwere Zeiten auf uns zukommen werden. Aber das ist mir egal. Die Zeit, die wir dafür miteinander verbringen, ist mir umso vieles mehr wert als all das triviale Gelaber böser Menschen.“
„Es mag dir trivial vorkommen, doch in der Einfachheit liegt die größte Gefahr. Sie denken nicht lange nach, was sie tun- das mag sie einfach denkend erscheinen lassen. Doch gerade so haben sie eine Durchschlagskraft in ihrem Handeln, die einfach und einfach effektiv ist.“
„Wir müssen aufpassen, Roman. Wir müssen wachsam sein, wenn wir uns draußen bewegen. Wir müssen Vorsicht walten lassen. Immer und stetig.“
„Ja, du hast Recht. Das werden wir in der Tat müssen. Und wir müssen vorbereitet sein, denn wie ich Peter und seine Mannen kenne, werden sie bereits etwas ausgeheckt haben, wie sie uns schaden können.“
Peter stand vom Bett auf und ging zu der Wand, wo die drei Bilder hingen. Er betrachtete das mittlere eine zeitlang. Es zeigte zwei junge Katzen, die zusammen mit einem Wollknäuel spielten und sich hin und her wälzten. Kätzchen, unbeholfen und etwaiger Gefahr wehrlos gegenüber. In diesem Moment wurde ihm klar, wie es um Steffi bestellt war. Er würde auf sie aufpassen müssen, sie beschützen müssen, denn sie war wie eines dieser Kätzchen, wenn Peter als böser Wolf sich ihr in den Weg stellen würde. Er sah sie an: sie saß, zusammengekauert, auf dem Bett, den Kopf auf den Knien, ihr blondes Haar fiel ihr deckend über die Arme, die sie vor den Knien zusammenschloss.
„Hey Steffi“, sagte er, „wir schaffen das.“ So recht allerdings glaubte er nicht, was er sprach.
VI.
„Du liebe Güte, was ist dir denn widerfahren?“ Siegried schlug die Hände über den Kopf zusammen, als sie die Hände ihres Sohnes sah. Der Mullverband war rotgetränkt und bot ein Bild des Grauens. „Schnell, komm rein! Ich werde dir einen neuen Verband anlegen.“
Als sie wenig später am Küchentisch saßen, war das Schweigen im Raum hörbar. Die Familie saß beisammen, doch niemand fand das richtige Wort, um ein Gespräch zu beginnen.
Dann aber fing Roman an: „Der Jürgens war es.“
„Der Politiklehrer?“ Ferdinand verzog keine Mine.
Roman nickte.
„Was für ein Monster!“, rief Siegried aus.
„Was hast du getan, Sohn?“, wollte er wissen.
„Ich habe meine Meinung gesagt, um Steffi zu schützen.“
„Deine Meinung? Steffi?“, fragte Ferdinand.
„Der Direktor hat heute eine Rede gehalten, dass sich Deutschland verändert. Es sollen neue Lehrpläne unterrichtet werden. Jürgens kam danach in die Klasse. Er sagte, es sei gut, wenn man sich für das neue Deutschland in der Hitlerjugend und im Bund- ach- wie hieß das noch?“
„Im Bund Deutscher Mädchen?“ sagte Ferdinand.
„Ja- sich im Bund Deutscher Mädchen anmeldete. Jeder, der das nicht tue, hätte mit Konsequenzen zu rechnen.“
„Ich verstehe.“
„Und Steffi ist eine Klassenkameradin von mir. Sie sah nicht besonders glücklich aus nach den Reden von Büchner und Jürgens. Dann fragte er sie, warum sie sich nicht freue. Er wollte sie bloßstellen als Außenseiterin. Da habe ich mich eingemischt und gesagt, dass sie wenigstens ehrlich sei, wenn sie davon nicht begeistert ist. Das war ausschlaggebend für die Prügelstrafe.“
„Was waren das genau für Reden, Roman?“
„Wie gesagt: es ging um ein neues Deutschland. Eine neue Zeit würde einbrechen. Und irgendwas mit Fremden würde geschehen. Wir sollen lernen- ja, genau! - Fremde von Deutschen zu unterscheiden.“
„Nun hat es auch schon die Schulen befallen.“, dachte Ferdinand mehr laut als denn er es hätte aussprechen wollen. Doch es entging den beiden nicht.
„Was meinst du mit „Es“?“ fragte Siegried, und auch Roman sah seinen Vater an.
Nach einigen Sekunden Zögern sprach er: „Wir haben ein internes Schreiben im Betrieb bekommen. Darin hieß es, dass wir ab sofort den Verkauf von Lebensmitteln an Juden unterbinden sollen. Sie hätten kein Recht mehr, deutsche Nahrungsmittel zu beziehen, weil sie keine Deutschen seien. Außerdem müssen wir ein Schild ins Fenster hängen, auf dem steht: „Kein Verkauf an Juden!“ Im Schreiben stand ferner, dass Zuwiderhandlungen Sanktionen zur Folge hätten. Das Schreiben kam von der Regierung und tritt mit sofortiger Wirkung in kraft. Seht ihr den Zusammenhang?“
„Hier wie da wird mobil gemacht gegen die, welche nicht ursprünglich deutsch sind.“ Die Erkenntnis war erschütternd. Roman wurde das Ausmaß der Dinge bewusst. Nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb änderte sich das Klima gewaltig. Man sprach zwar in der Schule noch nicht gegen Juden, doch gegen solche, die anders sind. Und Juden sind anders, ohne sie bewerten zu wollen. Sie sind in dem Sinne nicht deutsch, also fremd. Und Fremde sollte man erkennen lernen. Die Situation schien schleichend außer Kontrolle zu geraten. Die Folgen konnte er zwar noch nicht gänzlich abschätzen, doch die Vorstellung allein verhieß Schlimmes.
„Was werdet ihr tun, Vater?“, fragte Roman besorgt. „Werdet ihr da mitmachen?“
Die Frage schien Ferdinand zu beschäftigen. Seine Stirn lag in Falten, die Schultern waren rund und die linke Hand nutze er, um seinen Kopf zu stützen. „Ich weiß noch nicht, was wir machen werden“ begann er. „Wir haben zwei Möglichkeiten: es zu tun oder es sein lassen. Welchen Weg wir gehen werden, entscheidet sich in den nächsten Tagen. Es ist eine Konferenz geplant, in der das Für und Wider abgewogen wird. Juden waren seit jeher gute Kunden. Wir hatten nie Probleme mit ihnen. Sie als Kunden zu verlieren würde ein tiefes Loch in unsere Einnahmen reißen. Bedienen wir sie allerdings weiterhin, so könnte es sein, dass uns der Kopf abgerissen wird. Eine Antwort auf diese Frage zu finden, wird uns Kopfzerbrechen bereiten. Wahrscheinlich werden wir abwarten, was andere tun werden und dann eine Entscheidung treffen.“
„Ich hab für mich schon eine Entscheidung getroffen. Ich werde da nicht mitmachen. Warum sollte ich Menschen nur wegen ihrer Religion oder Herkunft hassen? Es sind Menschen wie du und ich.“ Romans Hände schmerzten, als er die Worte sprach.
„Wie wahr du sprichst, mein Sohn. Doch so einfach ist das nicht. Leider. Es ist weitaus komplizierter. Die Regierung ist unsere oberste Institution. Was sie entscheidet, gilt für das Volk.“
„Dann ist es eine schlechte Regierung!“, rief Roman mit dem Brustton der Überzeugung.
„Sag das nur nie laut, wenn andere es hören könnten. Solche Worte sind gefährlich, auch wenn sie wahr sind. Die Wahrheit ist oft gefährlich. Das hast du heute an deinen Händen zu spüren bekommen.“ Ferdinand sah seinem Sohn in die Augen.
„Das habe ich, ja. Und es schmerzt gewaltig. Aber es war unrecht! Und das ist der springende Punkt. Es war nicht richtig! Und das weiß ich.“
Die Worte Romans waren voller Leidenschaft. Er war stolz auf ihn, keine Frage. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sind die Tugenden guter Menschen, wenn sie Gutes herbeiführen wollen. Doch in einer Zeit, die in die andere Richtung verläuft, in der aufrichtig und mit Nachdruck Schlechtes herbeigeführt werden soll, sind sie gefährlich. So sehr er im Innersten seines Herzens stolz auf seinen Sohn war, so sah er auch, dass die blutenden Hände wohl erst der Anfang gewesen sein werden. Wer in solchen Zeiten seine Meinung für sich behält, lebt gesünder und wird länger leben.
„Gott sei mit dir, mein Sohn!“, schluchzte seine Mutter. „Was du auch tust: Gott beschütze dich!“
VII.
An diesem Nachmittag zog eine starke Sehnsucht Roman in den Wald, hin zu seinem Weiher. Als er ankam, sah er braune Blätter auf dem Wasser schwimmen. Der Herbst war überall zu sehen.
Er setzte sich auf seinen Stein und weinte bitterlich. All der körperliche und geistige Schmerz entlud sich in einem Schwall bitterer Tränen, die ihm wie reißende Bäche über die Wangen liefen. Ein kalter Wind heulte zwischen den Bäumen, kein Vogel sang. Der Himmel war grau und die Wolken hingen tief.
Es knackte das Holz hinter ihm, und als er sich umdrehte, erschrak er. Eine grauhaarige Frau stand hinter ihm und im ersten Moment dachte er, eine Hexe starre ihn aus kleinen Augen an. Roman sprang auf und landete mit den Füßen im seichten Uferwasser. Er sah sich hastig nach allen Seiten um, wohin er fliehen könne.
„Fürchte dich nicht. Ich tue dir nichts.“, sagte die alte Dame mit warmer Stimme.
„Wer, wer sind sie?“ Roman war verängstigt. Die Frau war ihm unheimlich. Was zum Teufel machte sie an seinem geheimen Platz? Hatte sie ihn schon länger beobachtet? Was führte sie im Schilde?
„Komm erst einmal aus dem Wasser raus.“, sagte sie. „Du wirst dich noch erkälten.“
Erst jetzt bemerkte Roman, dass seine Schuhe nass und schlammig waren. Langsam stieg er aus dem Wasser, doch so ganz traute er dem Braten noch nicht. „Was machen sie hier an meinem Ort?“
„Dein Ort? Wohnst du hier etwa?“ Ihre Augen waren freundlich.
Fast wollte er „Ja!“ rufen, doch er besann sich, nun ein Stück mutiger. „Sie sehen so aus, als wohnten sie hier.“
Die Dame musste lachen. „Wirklich? Ich habe mich lange nicht mehr im Spiegel betrachtet.“, schmunzelte sie. „Der Herbst hat wohl auch in mein Lebensalter Einzug gehalten, wohingegen du aussiehst wie ein Frühlingstag im April. Mal regnerisch, mal bewölkt, mal könnte man fast meinen, heiter. Dann wieder Sturm, Blitz, Donner, Hagel! Dann wieder Regenbogen und Sonnenschein.“
„Was meinen sie?“ Ihm kam es komisch vor, wie sie sprach.
„Du sitzt oft hier am Ufer des Weihers, nicht?“ Die Frau deutete auf den bemoosten Stein.
Roman stutzte. „Woher wissen Sie das?“
„Ich sehe vieles auf meinen Wanderungen durch den Wald, musst du wissen. Und immer mal wieder sehe ich einen Jungen am Weiher sitzen, den Blick aufs Wasser gerichtet, als gebe es nichts anderes um ihn herum.“
„Ich habe Sie noch nie hier gesehen.“, wandte der Junge ein.
„Mich übersieht man schnell. Für manche bin ich nur mehr eine verblassende Erinnerung, für andere bin ich wie der Wind, einfach Luft. Ich wandere leise, oft bin ich nur das Knacken eines Holzes, tief im Wald oder das Rascheln der Blätter im Gebüsch. Man nimmt mich selten wahr, und wenn du mich fragst, finde ich das gar nicht so schlecht.“
„Ich aber habe Sie gesehen. Und sie sehen mir nicht nach Wind oder Blätterrascheln aus.“
„Vielleicht“, antwortete die Frau, „wollte ja jemand, dass du mich zu Gesicht bekommst.“
„Wieso das?“
„Du stellst viele Fragen, wo die Antworten doch so nah liegen. Glaubst du, dass Dinge geschehen, weil sie geschehen sollen?“
„Sie meinen so etwas wie Schicksal?“
„Nenn es Schicksal oder Vorherbestimmung. Ich nenne es Weltenseele.“
„Weltenseele?“, fragte er skeptisch.
„Alles hängt mit allem zusammen und nichts ist ohne das andere.“
„Sie sprechen in Rätseln. Sind sie verrückt oder so?“
Wieder lachte die alte Dame. „Ja, man nannte mich früher verrückt. Deshalb habe ich mich aus dem Dorf in den Wald ver-rückt. Verstehst du?“
„Nur Bahnhof.“
„Früher, vor einigen Jahren, lebte ich noch im Dorf, in dem du heute wohnst. Die Menschen verstanden meine Art des Lebens nicht. Und was die Menschen nicht verstehen, das macht ihnen Angst. Also entstanden Geschichten über mich, ich sei eine Hexe oder eben schizophren. Ich hielt es dann für besser, mich auf meine Wurzeln zurück zu besinnen und hier im Wald, tief herinnen, wo nur selten sich ein Mensch hin verläuft, in Einsiedlerschaft zu leben.“
Es fing leicht an zu nieseln.
„Sie sind die Hexe aus dem Wald? Noch heute wird von ihnen erzählt.“
„Gerüchte halten sich bekanntlich am längsten, musst du wissen. Aber mich schert es nicht. Die Frage ist, ob es dir was ausmacht, mit einer Hexe zu sprechen?“
Roman dachte kurz nach. „Eigentlich sind sie viel zu nett für eine Hexe.“
„Danke. Aber kennst du das Märchen von Hänsel und Gretel?“
„Ja, schon. Aber was hat das mit ihnen zu tun?“
„Merke dir nur, dass der Schein manchmal trügt, mein Junge.“
„Wollen sie damit sagen, dass ich ihnen lieber nicht trauen sollte?“
Die Dame schmunzelte wieder. „Du lernst schnell, mein Junge. Sehr schnell. Und begabt im Sprechen bist du obendrein. Ich dachte mir bereits ähnliches, denn wen verschlägt es sonst an einen einsamen Weiher als den, der mit sich viel zu besprechen hat?“
„Dann müssen Sie ja schon lange Selbstgespräche führen, nicht?“
„Du hast im Grunde ein munteres Herz, und schlagfertig bist du obendrein. Ja, es stimmt. Ich hatte lange Zeit viel mit mir zu besprechen und musste mir über vieles klar werden. Du kennst es schon, wie ich sehe, das Wunder, das geschieht, wenn man über sich und die Welt nachdenkt, auch wenn du es noch nicht völlig begreifen kannst. Schon immer gab es Menschen, die nachdachten über sich und die Welt, die sie umgibt, die Umwelt. Und wie schon viele vor dir hast auch du den Weg zur Natur gefunden, als einen Ort, an dem du dich geborgen fühlst.“
Die Wolkendecke brach auf. Lichtstrahlen mischten sich mit den Regen zu einem Farbenspiel am Himmel.
Roman fand die Worte der Alten seltsam, doch auf irgendeine Weise berührten sie ihn. Er spürte, dass aus ihrer Stimme Wahrheit und Wärme klang- solche Worte hatte er lange schon nicht mehr (oder noch nie?) gehört. Die Gedanken schwirrten ihm im Kopf, er konnte keinen klaren fassen. Zuviel steckte in den wenigen Sätzen der Frau, die er eben erst, vor gut einer halben Stunde, kennen gelernt hatte. Oder hatte er sie früher schon einmal getroffen? Auf eine unbestimmte Art fühlte er sich ihr verbunden, wenngleich sein Verstand ihm riet, bald als möglich das Weite zu suchen. Schließlich war sie eine Fremde, eine verwilderte Frau. Doch was war da im Hintergrund, tief in seinem Kopf? Fremde sollst du erkennen. War er jetzt eben schon so sensibilisiert gegenüber jedem Fremden? Und was hieß fremd eigentlich? War nicht das nur fremd, was man nicht kannte. Aber kannte er jetzt nicht schon einiges über diese Frau?
„Ich werde jetzt nach Hause gehen, Frau-?“
„Nenn mich Marthe.“ Wieder lächelte sie herzlich.
„Auf Wiedersehen, Marthe.“
„Das werden wir, Roman.“
Er rannte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Sein Geist rannte ebenfalls mit rasender Geschwindigkeit: Fremde? Nicht mehr fremd? Wer war sie? Was wollte sie? Warum sprach sie ihn an? Was hatte er getan? Wiederkommen? Fernbleiben? Natur, Umwelt, Weltenseele? Alles hängt zusammen? Marthe? - Hatte sie ihn nicht Roman genannt? Woher kannte Marthe seinen Namen? Wer war diese Frau?
Als er zu Hause ankam, keuchte er und rang nach Atem. Er war die ganze Strecke gelaufen und nun völlig erschöpft.
Die Dämmerung legte sich über das Dorf. Als er in seinem Zimmer saß, sah er den Mond, voll und blass, am Himmel aufsteigen. Er öffnete sein Heft und fing an zu schreiben.
Grau und kalt war heut das Wetter
Kalt und Grau ist mir zumute
Auf dem Wasser braune Blätter
Schmerz sprach aus der Nussbaumrute.
Und im Schmerze dieser Stunden
Als ich so am Weiher saß
Sah ich deutlich jene Wunden
Die sie mir tief ins Fleische fraß.
Als schien der Wald das Leid zu spüren
Stand Sie auf einmal hinter mir-
Um gleich auf neue Wege mich zu führen
Wie fürcht ich dich- wie dank ich dir!
Wie wunderlich die Wandlung scheint
Der Schmerz verflog
Der vorher schwer wie Steine wog
Wie sie mit Lachen Tränen weint
Auf eine ach so magisch Weise,
wie der Himmelsring im Wasser, leise!
VIII.
Steffi war heute nicht in der Schule gewesen, und so musste Roman die Mathematik- und Politikstunde auf sich allein gestellt überstehen. Herr Krupp hatte ihn die ganze Stunde lang nicht einmal angesehen. Wahrscheinlich steckte ihm seine Niederlage noch sauer in den Knochen.
Jürgens war da ganz anders. Ein verächtliches Grinsen lag auf seinem Gesicht, als er Roman sah. Man merkte ihm deutlich an, dass er heute besonders guter Laune war.
Nach der Schule ging Roman zum Rand des Dorfes. Er wollte Steffi besuchen. Wahrscheinlich war sie krank und deshalb heute nicht zur Schule gekommen. Unterwegs kaufte er für ein paar Groschen etwas zum Naschen, quasi als süßes Krankengeschenk.
Als er ankam, versteckte sich die Sonne hinter den Wolken. Er klingelte an der Tür, doch niemand öffnete. Vom Garten aus konnte er ins kleine Wohnzimmer schauen. Doch auch dort war keine Menschenseele. Erst, als er mehrmals Steine an Steffis Fenster geworfen hatte, öffnete sie es.
Roman sah sofort, dass sie verweint war. Ihr Haar war ungekämmt, ihre Augen geschwollen. Außerdem hörte er sie schluchzen.
„Hey Steffi, was hast du denn? Bist du krank oder warum warst du heute nicht in der Schule? Geht’s dir wieder besser?“ Roman hielt die Schokolade hoch und winkte ihr. „Ich hab dir was mitgebracht.“
Sie machte das Fenster wieder zu und wenig später war sie an der Haustür.
„Du siehst ziemlich mitgenommen aus.“, meinte Roman mit sanfter Stimme. „Was ist denn passiert?“ Er gab ihr die Schokolade.
„Komm mit rein, auf mein Zimmer, dann erzähl ich es dir.“
Sie gingen langsam die Treppen hinauf.
Angekommen, ließ sich Steffi aufs Bett fallen und weinte wieder.
Sie weint viel in letzter Zeit, dachte Roman. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Was nur ist heute der Grund?
„Es ist so ungerecht!“, schniefte Steffi. „Warum passiert uns so was? Kannst du mir das sagen?“ Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht.
„Was ist so ungerecht?“ Willst du mir es sagen?“
„Wir müssen von hier wegziehen. In eine Stadt. Nach Köln.“
Das war ein Schlag! Nicht jetzt, wo sie sich gerade kennen lernten!
„Wegziehen?“, sagte Roman ungläubig. „Aber das ist ja schrecklich! Warum nur?“
Steffi setzte sich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, hin. Es war ihr anzumerken, dass sie zutiefst unglücklich war. Alles an ihr hing schlaff hinunter. Die Augenlider, der Mund, die Schultern.
Dann fing sie an zu erzählen: „Letzte Woche kam mein Vater nach Hause. Er sah betrübt und kraftlos aus. Ihm wurde gesagt, dass er seinen Arbeitsplatz verlieren würde, wenn er nicht binnen einer Woche nach Köln ziehe. Die Produktion wurde dahin verlegt, weil sie momentan viel in den Städten produzieren. Es sei günstiger und, wenn man es recht bedenke, rationeller. Natürlich fiel ihm die Entscheidung nicht leicht. Er liebt die Gegend hier, die Wälder und die weiten Felder; das Münsterland an sich. Er wuchs hier auf, lebte zeitlebens hier. Und jetzt ist er gezwungen, all das aufzugeben. Er wird es aufgeben, gezwungenermaßen. Denn Arbeit ist wertvoller als die Erinnerung an schöne Tage, sagte er. Und wir werden mit ihm gehen, dass heißt, wir werden uns lange nicht wieder sehen. Schon Morgen brechen wir auf.“
Roman hatte den gleichen Gedanken gehabt. Das bedeutete einen Abschied für lange Zeit. Und das gerade jetzt, wo er eine Freundin gefunden hatte. Die erste Freundin seit langem. Er spürte, wie Schmerz in ihm aufstieg
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Ich brachte es nicht fertig.“
„Das ist alles so gemein!“ sagte er schließlich. „Ein neuer Zeitgeist- pah! Den kann die Zeit sich sonst wohin stecken! Ich hasse diese Zeit. Sie ist grausam. Sie entzweit, wo sie nur kann. Alles teilt sich in Gut und Böse, Richtig oder Falsch, in Hier und Da! Das soll die Seele der Welt sein?“
Steffi merkte, wie Roman sich in die Worte hineingesteigert hatte. Sie fragte: „Was? Seele der Welt? Was ist denn das?“
„Das soll Vorbestimmung sein? Unsere Trennung? Eine schlechte, eine böse Seele muss die Welt besitzen. Schwarz und grausam muss sie sein!“
„Ich verstehe nicht, was du damit meinst.“
„Weißt du, ich war gestern im Wald und saß am Weiher und schaute aufs Wasser, den Wellen zu. Plötzlich stand eine weißhaarige Frau hinter mir. Sie faselte etwas von der Weltenseele, die auch Schicksal oder Vorherbestimmung sein soll. Ich habe sie noch nie zuvor dort gesehen, aber sie muss mich schon oft gesehen haben. Sie wusste meinen Namen, ohne dass ich ihn ihr gesagt hätte. Ist das nicht seltsam?“
„Es heißt, es wohne eine alte Frau, eine Hexe im Wald. Sie sei vor langer Zeit fort gegangen, in die Wälder, und niemals mehr wiedergekommen.“
„Das könnte sie sein, ja. Und sie erzählte mir davon, dass alles zusammen hänge. Ein komischer Kauz, diese Frau.“
„Wenn es so wäre, dann hätte ich Hoffnung. Dann nämlich wäre mein Schicksal, von hier wegzuziehen, vorherbestimmt. Und meine Hoffnung, dass wir uns wieder sehen, Vorhersage. Dann wäre ich nur halb so traurig, weil es kein Abschied für immer bedeuten würde und mein Herz sich auf ein Widersehen freuen könnte.“
„Wir werden uns wieder sehen- ganz bestimmt. An irgendeinem Tag in irgendeinem Jahr werde ich vor deiner Türe stehen und du wirst öffnen und wortlos werden wir uns in die Arme fallen und uns nie wieder loslassen. Das verspreche ich dir!“
„Wie kannst du mir das versprechen? Versprechen darf man niemals brechen.“
„Bei allem, was mir lieb und teuer ist- ich werde es einlösen!“
„Aber schreiben werden wir uns vorher, ja?“
„Schreibe mir einen Brief, wenn ihr angekommen seid. Dann habe ich deine Adresse und kann dir endlich auch mal einen Brief schreiben.“ Er lächelte.
„Und halte mir durch in der Schule! Lass dich nicht unterbuttern. Bleibe standhaft, ja? Ich könnte es nicht verkraften, wenn sie dich besiegen. Auch wenn die Welt gegen dich steht, lache ihr entgegen. In meinen Gedanken werde ich immer bei dir sein, versprochen.“
„Oh Steffi…“
Sie umarmten sich. Während sie langsam in die Bettdecke sanken, streichelte Roman sanft über ihre Wangen. Dann küssten sie sich und zogen die Decke über ihre Köpfe.
Roman kam erst spät nach Hause. Seine Mutter bemerkte sein zufriedenes Lächeln, als sie „Hallo, wo warst du?“ fragte und ihn ansah und ihn mit einem mütterlichen Klaps auf den Hintern die Treppe hinauf schickte.
In dieser Nacht sah Roman zum ersten Mal wieder durch sein Fenster die Sterne scheinen. Sie leuchteten heller denn je, und als er die Augen schloss, schien dort der hellste von allem warm und wunderbar.
IX.
Dann war sie weg und hinterließ ein Loch in Romans Leben. Es war keine offene Wunde, die für jedermann sichtbar gewesen wäre. Nein- diese Wunde klaffte innerlich und ließ ihn innerlich bluten. Das wiederum sah man ihm äußerlich an. Der Junge, den man sonst schon als still und nach Innen gekehrt kannte, war nun Trübsal in Person.
Es wurden die üblichen Streiche gespielt. Während den Stunden flogen Papierkugeln haarscharf wie Geschosse neben ihm her, manche trafen und hinterließen fiktive Einschusslöcher, die von hinten her bejubelt wurden. Papierflieger, gleichsam Bomber, schwirrten über seinem Kopf. Gestartet vom General Peter und seinen Offizieren.
Der Weg nach der Schule nach Hause dehnte sich gegen Unendlich und die Gedanken, schwer wie Blei, ließen die Beine schwach werden. Seit einigen Tagen hatte er nichts mehr gegessen. Er hatte einfach keinen Appetit. Seine Mutter machte sich bereits Sorgen. Er solle doch zum Arzt gehen. Aber Roman wusste, dass der Arzt nicht die richtige Medizin gegen seine Art des Schmerzes hatte. Den konnte entweder die Zeit oder ein Wiedersehen lindern. So aber würde er noch lange in seinem Herzen wohnen.
Er schaute nicht vom Boden auf. Es hatte letzte Nacht geschneit und die Straße war puderweiß. Hier und da spielten kleine Kinder im Schnee. Was sie spielten oder wie sie ihre Schneemänner gebaut hatten, bemerkte der Junge nicht. Auch das Glitzern der Sonne wie tausend kleine Lichter im Schnee heiterte sein Gemüt nicht auf. Den Bäumen, die den Schnee in ihren Ästen wie auf Händen zu tragen schienen, würdigte er keines Blickes. Nur eines hatte er mit der momentanen Winterstimmung gemeinsam: wie der Schnee die Landschaft hüllt, so schien ihn die Erinnerung an Steffi einzudecken und von der Umwelt abzuschotten.
Seine Mutter erwartete ihn bereits an der Haustür. Sie wedelte mit einem weißen Etwas in der Hand und rief ihm zu: „Rate mal, was ich hier in der Hand habe?“
Roman sah zu ihr hinüber und als er zu erkennen meinte, was sie da hielt, rannte er auf sie zu. „Ist er von Steffi? Hat Steffi geschrieben?“
„Ja, mein Sohn. Von Steffi aus Köln.“
Er nahm den Brief an sich und stürmte auf sein Zimmer. Hastig öffnete er den Umschlag und holte ein Blatt heraus, auf das in blauen, sauberen Buchstaben „Für Roman“ geschrieben war.
Sie war es. Er machte es sich auf seinem Bett gemütlich und fing zu lesen an:
„Lieber Roman,
seit gut einer Woche nun lebe ich hier in Köln und kein Tag verging, ohne dass ich nicht an dich gedacht hätte. Hier ist alles so neu und anders, und ich entdecke Tag für Tag ein Stück mehr von dieser Stadt. Vorgestern war ich mit meiner Schwester am Rhein. Das ist ein breiter Fluss, der mitten durch Köln fließt. Wir standen auf einer Brücke und schauten der Strömung hinterher. Von hier aus kann man den Dom sehen. Ein solches Gotteshaus hast du noch nicht gesehen. Es ist einfach riesig, etwa genauso groß wie meine Sehnsucht. Ich habe meine Mutter gefragt, wie man es nennt, wenn man jemanden ganz doll vermisst und ihn auch nicht wieder sehen kann. Da meinte sie, es sei Sehnsucht. Zusammen mit der Hoffnung sind es zwei der kräftigsten Gefühle, die ein Mensch erleben kann. Und es gibt nur eines noch, das stärker und größer und tiefer in mir wohnt als diese. Roman, wenn mir heute eine Fee erschiene und ich einen Wunsch frei hätte, dann müsste ich nicht einmal überlegen, welche Worte über meine Lippen kommen würden. Dann wäre ich glücklich im Augenblick dieses Momentes.
Alles Liebe,
deine Steffi.“
Roman rollte sich auf den Rücken und sah zur Decke. Steffis Worte hallten in ihm nach. Einen Brief mit solch wundervollen Worten hatte Steffi noch nie geschrieben. Es schien, als sei er direkt von ihrem Herzen geschickt worden.
Er beschloss, ihr gleich zurück zu schreiben und nahm ein Heft und einen Stift in die Hand. Doch wollte er es draußen tun, an seinem Weiher. Dort, so dachte er, werde ich die passenden Worte finden.
Gleich nach dem Mittagessen brach er auf. Wie verwandelt schien die Welt um ihn herum. Alles strahlte in den schönsten Weißtönen, wie als hätte der Herrgott persönlich all die Tannen mit Zuckerguss geschmückt. Der Schnee knackte herrlich unter seinen Füßen, und seine Schritte zeichnete eine Spur in den knöcheltiefen Schnee.
Den Weiher bedeckte eine hauchdünne Eisschicht, auf der einige Flocken liegen geblieben waren.
Roman strich den Schnee vom Stein und setzte sich.
Es war still. Kein Holz knackte. Selbst das Fallen eines der letzten Blätter wäre laut gewesen.
Er atmete tief ein. Die kalte Luft strömte in seine Lungen. Eine Wolke Atem wirbelte kurz über dem See und verflüchtigte sich bald darauf. Er genoss die Stille und die Wärme, die in seinem Herzen atmete.
„Der Weiher schläft und der Winter ist wie eine Decke“, dachte er. Worte begannen sich in seinem Kopf zu vereinen. Die Stimmung dieses Ortes war durchaus anregend.
Er schlug das Heft auf und schrieb: „Der Weiher träumt im Winter leise“
Ja, träumen ist schön, dachte er. Auch ich träume von dir, Steffi. Dir soll das Gedicht gewidmet sein. Also schrieb er: „und du bist gar sein schönstes Bild“.
Wenn sie doch wieder bei mir wäre, dachte er. Und schrieb: „trinke Wasser nach der Reise/ am Ufer, liebes keusches Wild.“
Die erste Strophe las er noch einmal:
Der Weiher träumt im Winter leise
Und du bist gar sein schönstes Bild:
Trinke Wasser nach der Reise
An meinen Ufern, liebes Wild.
Die letzte Zeile hatte er noch korrigiert. Er fand, dass es so schöner klinge. Das ist nämlich ihm das Wichtigste: dass es schön klingt.
Dann schrieb er in dieser Art und Weise weiter:
Berührst du zärtlich meine Wellen
Mit deiner Zunge hier und dort,
sich gleich darauf die Wasser hellen
Und Lieder singen, immerfort.
Nun schaust du mit den Zauberaugen
Und siehst in mir dein Spiegelbild;
ich sehe mich, das kannst du glauben
in dir gespiegelt, liebstes Wild.
Roman schloss das Heft und sah, dass es gut war. Dieses Gedicht würde er Steffi schicken als die Antwort seines Herzens.
Er saß noch da und dachte an sie, als plötzlich Schnee in seinem Nacken zerbarst! Er war ziemlich hart gewesen, wohl als Eisball geworfen worden. Blitzschnell folgte ein zweiter, der ihn an den Schulterblättern traf. Erschrocken drehte er sich um, und was er da sah, ließ ihn den Atem stocken. Sein Herz setzte für Sekunden aus und der Mund wurde ihm trocken. Drei Jungen standen da, jeder einen Schneeball in der Hand hochwerfend. Das siegessichere Lachen des größten der Jungen kannte er nur allzu gut- und er wusste ebenso gut, was es bedeutete.
Jetzt hatten sie ihn wahrscheinlich da, wo sie ihn immer haben wollten. Alleine, weitab von jedweder Hilfe und in der Enge.
Roman schaute sich um. Hinter ihm lag der Weiher, dessen Eis zu dünn war, als dass man hätte fliehen können. Links und rechts sowie vor ihm standen die Jungen. Flucht war aussichtslos.
„Wen haben wir den da?“, sagte die verhasste Stimme herablassend. „Einen Wurm, der sich im Wald verirrt hat. Wo ist denn deine Mama, Würmchen?“ Gelächter brach aus, ein Schneeball traf Roman auf der Brust. „Ganz alleine kriechst du hier im Wald, wo doch überall Gefahren drohen. Was macht ein Wurm, wenn Schnee auf seinen Kopf fällt?“
Der nächste Schneeball traf Roman an der Stirn. Er hatte zu spät die Hände zum Schutz gehoben. Der Schnee klebte in seinen Haaren und rann ihm durchs Gesicht.
„Oh, gleich muss das Würmchen weinen. Seht, wie es schon dreinschaut!“
Sie zogen den Halbkreis enger. „Ja schaut, wie ängstlich er auf einmal ist. Dabei haben wir doch noch gar nichts gemacht.“
Roman war verzweifelt. Was konnte er machen? „Lasst mich in Ruhe; haut ab; geht!“
„Was ist denn das? Der Wurm spricht. Würmer können aber nicht sprechen. Würmer können höchstens im Dreck herumkriechen. Los, krieche, Wurm! Krieche!“
Roman versuchte, loszurennen. Doch er wurde zurückgehalten. Peter war es, der ihn auf den Boden warf. „Das wirst du bereuen!“ schrie er. Dann trat er zu. Reihum flogen Roman die Fußspitzen in den Magen. Er krümmte sich vor Schmerz.
„Ja, jetzt bist du ganz der Wurm!“ Peters Stimme klang merkwürdig überdreht.
„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte einer der anderen Jungs.
Peter überlegte nur kurz. Dann fasste er zur Überraschung der anderen eine Entscheidung. „Wir werden ihn in den Weiher schmeißen!“
Sie packten den wehrlosen Jungen an Armen und Beinen, holten zweimal Schwung und ließen los. Das dünne Eis brach sofort, und Roman sank unter die Wasseroberfläche.
„Los, lasst uns verschwinden!“ johlten die Jungen und rannten von dannen.
X.
Als Roman die Augen aufschlug, war das Erste, was er bemerkte, ein quälender Schmerz in der Magengegend. Er zog die Decke hinunter und ein Hemd nach oben, das ihm fremd war. Er sah tiefblaue Flecken, grün werdende Blutergüsse. Was war nur passiert?
Er schaute sich um. Wo war er nur? Es schien eine Holzhütte zu sein. Aber was zum Teufel machte er in einer Holzhütte?
Auf der anderen Seite des Raumes hörte er ein Feuer im Kamin knistern. Davor wippte ein Schaukelstuhl hin und her. Eine sanfte Stimme fragte: „Geht es dir schon besser?“
Diese Stimme- er kannte sie doch. Aber wenn es wirklich die Stimme war, die er meinte… Nein. War er bei ihr? In ihrem Haus?
„Was ist… passiert?“ Er konnte nur leise sprechen. Alles andere schmerzte noch zu sehr.
„Erinnerst du dich an die drei Jungen?“
Er tastete mit seiner Hand über die Ergüsse am Bauch. „Ja, Peter und seine Freunde.“
„Du hast Glück, dass du hier liegst. Es war mehr als knapp.“ Der Stuhl hörte auf zu wippen.
„Sie traten mich. Danach weiß ich nichts mehr. Haben sie gesehen, was die gemacht haben?“
Eine Frau stand aus dem Stuhl auf. „Sie hätten dich beinahe umgebracht. Skrupellos waren sie- wie besessen waren sie.“ Ihre Stimme war ernst.
„Umgebracht?“ Roman konnte sich nicht erinnern. Er tappte im Dunkeln.
„Nachdem sie dich getreten haben, schmissen sie dich in den Weiher. Du warst bewusstlos und wärst beinahe ertrunken. Du scheinst einen Schutzengel da oben zu haben. Jedenfalls war ich in der Nähe und hörte das Johlen und Grölen. Ich ahnte bereits Böses und sah es bestätigt, als die Jungen fortliefen. Es blieb im Weiher nur ein Loch in der Eisdecke. Hätte ich meinen Stützstock nicht dabei gehabt- ich hätte dich nicht retten können. Doch das Schicksal hat einen anderen, letzten Weg für dich vorhergesehen. Du solltest heute nicht über den Jordan schwimmen.“
„Sie meinen, sie haben mich gerettet?!“ Roman wusste nicht so Recht, was er sagen sollte.
„Du möchtest bestimmt erst einmal eine warme Tasse Tee, oder?“ Sie ging zum Herd, ohne eine Antwort abzuwarten und goss aus einem Kessel Tee in eine Tasse, die sie Roman zum Bett brachte.
„Ich möchte mich bei ihnen bedanken. Für alles, meine ich. Ich meine, sie kennen mich kaum, und sie sind einfach so nett zu mir.“
„Das stimmt nur halb, mein Junge.“
„Was? Dass sie einfach nur nett sind?“
„Nein; dass ich dich kaum kenne.“
Roman war überrascht. Diese Antwort war eine Überraschung. Wie konnte sie, die er kaum kannte, ihn kennen?
„Sind sie- sind sie wirklich eine Hexe, wie es die Menschen im Dorf erzählen? Ich meine, sie scheinen mich zu kennen, ohne dass wir uns begegnet wären.“
„Da muss ich gleich zweimal mit Nein antworten.“
„Wie das?“
„Ich selbst habe mich noch nie beim Hexen beobachtet. Vielleicht kommt mein Leben anderen Leuten wie Hexerei vor, weil ich anders lebe als sie. Deine Frage also kann ich wohl mit Nein beantworten. Und dass wir uns noch nie begegnet wären, stimmt auch nicht.“
Das war ein Schlag! Sie hatten sich schon einmal getroffen?
„Aber wo soll das gewesen sein?“ Roman dachte nach, doch er fand keine Antwort.
„Früher lebte ich- wie du heute- im Dorf, in einem kleinen Haus. Die Menschen spotteten über mich, weil ich so anders sei als sie. Aus dem Spott wurde Verachtung. Aus der Verachtung wurde Niedrigschätzung. Was folgte, waren faule Eier und schimmeliges Gemüse, das an meinen Fenstern klebte. Hundekot vor der Tür, Schmierereien an der Mauer. Ich zog es schließlich vor, wegzuziehen. Das war der Preis für meine Art zu leben- die Einsiedelei. Ich bin den einfachen Menschen nicht böse darum. Sie fürchten sich vor dem, was anders ist, weil sie es nicht kennen und ergründen können. Menschen vom gleichen Schlag kennen einander, weil sie sich untereinander gespiegelt sehen. Ich war auf ihren Spiegeln ein großes, schwarzes Loch, das sie wegwischen wollten. Nun, ich stellte mich nicht gegen diese Strömung. Es gibt Momente im Leben, in denen sollte man geschehen lassen, was geschieht. Hätte ich mich damals dafür entschieden, zu bleiben und nicht in den Wald zu ziehen- denke nur, Junge: dann säßest du heute bei den Engeln anstatt in meiner Hütte.“
Den Worten der alten Dame hatte er aufmerksam gelauscht. Sie hatte eine wundervolle Stimme, die ihm warm wie der Tee den Hals durch die Ohren floss. Doch sie hatte seine Frage nicht beantwortet. Ob es unhöflich wäre, auf eine Antwort zu pochen?
„Und sie kennen mich also von früher her, aus dem Dorf?“ Diese Frage war besser als wenn er direkt nachgefragt hätte.
„Ich kenne dich schon, seitdem du ein kleiner Junge warst, Roman. Du wirst dich vielleicht nicht mehr daran erinnern, doch ich sehe es noch wie heute vor mir als du durch die Bäume und Sträucher zum Weiher tratest. Ich versteckte mich schnell, so dass du mich nicht gesehen hast. Es war ein wundervoller, warmer Sommertag, und du hast dich entkleidet und bist ins Wasser gesprungen. Seitdem habe ich dich oft im Weiher schwimmen sehen, wenn es warm war. Und am Weiher sitzen sehen, auf diesem Stein, der mit dem weichsten Moos aus dem ganzen Wald bewachsen ist, wenn es zu kalt zum Schwimmen war. Du warst zu jeder Jahreszeit am Weiher und konntest stundenlang schwimmen oder einfach dasitzen. Das hat mich seit jeher beeindruckt.“
„Sie haben mich beobachtet?“
„Sieh, Roman, der Weiher ist ein ganz besonderer Ort, wie du zweifelsfrei weißt. Die Menschen, die hierher kommen, sind der vielen nicht. Und wenn jemand den Weg hierher gefunden hat, dann will er wohl nicht gestört werden. Ich wollte dich nicht stören, nie. Und ich habe auch nur mit einem Ohr hingehört, als du deine Wünsche und Flüche den Wellen anvertraut hast. So aber habe ich im Laufe der Jahre dich kennen gelernt.“ Die Frau nippte an ihrer Tasse und sah den Jungen an. Der wusste wiederum nicht so Recht, was er davon halten sollte. Er blickte zurück. „Aber warum haben sie mich denn die ganzen Jahre über beobachtet?“
Wieder hatte die wunderliche Frau dieses besondere Lächeln in den Augen. „Ich sage es dir im Vertrauen: du erinnerst mich an meine Jugend. Die Natur war immer schon mein zuhause gewesen, seit ich fühlen und mich erinnern kann.“
„Anscheinend haben wir das gemeinsam.“, meinte Roman nach einer Weile. „Im Schoße der Natur fühlen wir uns sicher und geborgen. Oder fühlte ich mich wenigstens bis heute.“
„Was vorhin passiert ist, tut mir Leid. Es passieren schreckliche Dinge in diesen Zeiten.“
„Dinge? Die Welt scheint sich aufzubäumen! Sie gerät aus den Fugen und beißt um sich wie ein wild gewordenes Tier!“
„Ja.“
„Die Menschen scheinen den Kopf zu verlieren! Alles wendet sich zum Schlechten! Früher- hören Sie- früher hatte ich nur mit Spott zu kämpfen. Heute wurde ich fast zu Tode geprügelt!“
„Das Universum ist in Aufruhr.“
„Was verstehen Peter und seine Freunde von Natur und dem Universum? Nichts! Sie verstehen höchstens die Hassparolen, die in der Schule gelehrt werden und in den Zeitungen stehen!“
„Das ist ein Teil der Natur, der zerstörerische.“
„Was zum Teufel soll das? Sie reden hier über mich wie als wenn ihnen das alles schon vorher klar gewesen wäre!“
„Ich rede über den Geist der Zeit. Und du bist ein Teil dieser Zeit. Ob du willst oder nicht. Aber das entscheidende ist, wie du zu dieser Zeit eingestellt bist. Peter und seine Freunde sind ohne Zweifel gefangen im Sog. Und es wird noch weiter hinunter gehen, glaube mir. Du aber hast die Wahl- und so hart es auch klingt- du hast nur diese Wahl: entweder du stellst dich mit Vorsicht, Wachsamkeit und Grips gegen das herannahende Böse oder es wird dich verschlingen. Heute war nur der Anfang. In ihnen lodert blanker Hass und heißer Stahl. Sie werden- fürchte ich- gute Menschen in dieser schlechtesten aller Zeiten.“
„Sie machen mir Angst.“
„Wenn es hilft, dein Leben zu schützen, dann mit Recht.“
Roman stand von seinem Lager auf.
„Ich werde jetzt gehen.“, sagte er. „Danke, was Sie für mich getan haben. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns irgendwann wieder sehen werden.“
„Mit Sicherheit, Roman. Im Großen Plan ist unser Widersehen bereits Wirklichkeit. Hier, vergiss dein Heft nicht.“
Roman nahm es, nickte kurz und rannte los.
Zuhause angekommen, schmerzte sein Körper, doch das war ihm egal.
Wer war diese wunderliche Frau?
Schon bald sollte ihm diese Frage beantwortet werden…