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Die ewige Konstante
Obwohl sie schon seit langem weiß, dass es wieder passieren wird, hat sie immer gehofft, dass es nicht dazu kommt. Ihr ist bewusst, wieviel an diesem Aufstand zerbrechen kann und dass er am Ende doch niemandem hilft.
Und jetzt ist es doch so weit. Die Weber haben sich auf dem Rathausplatz versammelt.
Ihr Mann ist auch dabei. Er hat so oft davon gesprochen, so oft gesagt, dass er sich wehren will. Sie läuft seit Stunden durch die Wohnung und sieht immer wieder aus dem Fenster. Aber er kommt nicht.
Irgendwann wird es dunkel, sie setzt sich an den Tisch und faltet ihre Hände zum Gebet. Gegen Mitternacht wird an ihre Türe geklopft. Sie spürt einen Stich im Unterleib und presst ihre Hand dagegen, um ihr ungeborenes Kind zu schützen. Der Schmerz vergeht, sie atmet tief durch und öffnet die Tür.
„Es tut uns sehr leid“, sagt ein Fremder.
„Dein Mann ist heute gestorben. Er war sehr tapfer.“
Martha lauscht in die Dunkelheit. Ein Geräusch hat sie geweckt, aber jetzt ist nichts mehr zu hören.
In diesem Moment beginnt Helene zu husten. Martha zuckt zusammen, denn es klingt, als würden Ketten über einen Steinboden geschleift.
Plötzlich weiß sie, dass Helene sterben wird.
Sie kann nicht erklären, woher dieser Gedanke kommt, nur dass es stimmt. Die Gewissheit legt sich wie ein Mühlstein auf ihr Herz.
Sie hat das Gefühl, dass Helene nicht länger Helene ist. Dass schon etwas anderes von ihr Besitz ergriffen hat. Martha rutscht an den Rand des Bettes und presst ihren Rücken gegen die Wand.
Was, wenn Helene aufhört zu atmen?
Die Möbelstücke werfen lange Schatten im Zimmer. Martha schließt die Augen. Ihr Herz rast. Sie möchte beten, doch ihr Kopf ist leer und sie weiß nicht, was sie zu Gott sagen soll.
Vater ist noch fort.
„Mama“, brüllt Helene und fängt an um sich zu schlagen.
„Mama ist tot“, sagt Martha. Sie sagt diese Worte nur noch und fühlt sie längst nicht mehr.
Helene fängt an zu weinen, sucht ihre Schwester und legt ihren Kopf auf Marthas Brust.
Martha weiß nicht, was sie tun soll, aber ihre Hände wissen es. Sanft streichelt sie über Helens Kopf und plötzlich ist ihre Schwester wieder ihre Schwester.
***
Am nächsten Morgen schlägt Martha die Augen auf, der Raum ist von der Morgensonne in ein helles Licht getaucht. Ihr Vater sitzt am Tisch. Sie sieht an seinem Gesicht, dass sein Rücken wieder weh tut. Die Arbeit am Webstuhl hat ihn bucklig gemacht.
Sie steht auf, holt ihre Kleider vom Stuhl und zieht sich hastig an. Sie kann seine Blicke im Rücken spüren.
„Guten Morgen“, sagt sie und er sieht sie an, als würden sie ein Geheimnis teilen.
„Helene muss zu einem Arzt.“
„Wir haben kein Geld.“
„Ich glaube, es ist dringend.“
„Hörst du nicht, was ich sage? Wir haben kein Geld.“
„Wir haben auch kein Geld für das Wirtshaus“, sagt Martha.
Der Vater holt aus und verpasst ihr eine Ohrfeige. In ihrem Kopf hört sie ein Rauschen, wie von einem Herbstwind, der durch die Bäume fährt.
***
Sie rennt durch die Stadt, den Milchberg hinunter. Vorbei am Kanal, hinaus zu den Wiesen und hinein in einen kleinen Laubwald.
Manchmal fragt sie sich, ob die Leute ihr ansehen können, was sie tut
Er ist schon da, sitzt ganz aufrecht auf einem umgestürzten Baumstamm und betrachtet das Blätterdach. Martha bleibt stehen und beobachtet ihn.
Er ist schön und stark. Er sieht aus wie einer, der für seine Familie sorgen kann. Sie mag seine Augen, die so grau sind, wie der Himmel nach einem Gewitter. Und sie hört ihm gerne zu und freut sich, wenn er sie um Rat fragt.
Aber am schönsten ist es, wenn er Dinge über sie wissen will. Er sieht sie dann so ernst an, nickt und schließt einen Moment die Augen, als wolle er ihre Worte in Bilder bannen, um sie jederzeit ansehen zu können.
Jetzt hat er sie gesehen und winkt.
Sie rennt zu ihm und bleibt atemlos bei ihm stehen. Sie hofft, dass er sie küssen wird, aber das tut er nicht. Das tut er nie.
„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“
Martha schüttelt den Kopf.
„Dein Vater?“
Martha nickt und er hebt die Hand, streicht so sanft über ihre Wange, dass sie es kaum spüren kann.
„Was ist passiert?“
Martha schüttelt nochmal den Kopf. Wenn sie redet, wird sie weinen. Und wenn sie weint, wird sie nie mehr damit aufhören.
„Schau, ich habe einen Apfel für dich dabei.“
Sie nimmt ihn und schlägt die Augen nieder. Bloß ein Apfel.
„Iss“, sagt er.
„Ich nehme ihn für Helene mit“, sagt sie.
„Ich habe ihn für dich mitgebracht.“
Das Loch in ihrem Bauch ist so groß, dass der Apfel beinahe von alleine hineinfällt. Aber sie schüttelt trotzdem den Kopf.
„Es tut mir leid, dass ich heute kein Brot habe, leider haben wir selbst nichts. Wir bleiben auf unseren Stoffen sitzen. Mein Vater hat schon zwei Weber entlassen müssen. Schüle kauft uns kaum noch etwas ab.“
„Ich habe gehört, er verdient viel Geld mit seiner Kattunfabrik.“
Max nickt. „Das stimmt, aber kauft die Stoffe aus Ostindien, weil sie billiger sind. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Vater sagt, dass wir ihn unter Druck setzen müssen. Wir wissen nicht wie.“
Martha denkt an Schüle, sie hat ihn im letzten Sommer gesehen. Ein kleiner Mann, dessen dicker Bauch sich unter seiner Robe deutlich abzeichnete. Die meisten Menschen, auch Martha, hatten ihn gegrüßt, doch er war ohne ein Wort an ihnen vorbei gegangen.
„Wo andere ein Herz haben, ist bei ihm nur ein Stein“, sagt sie.
Max nickt, dann nimmt er ihre Hand.
„Ich möchte dir so gern helfen“, sagt er.
Sie genießt seine Berührung.
Manchmal träumt sie davon, seine Frau zu werden. Wie schön es wäre, immer bei ihm zu sein und in seinem wunderbaren Haus zu leben. Max‘ Vater ist reich, er besitzt acht Webstühle und seine Familie wohnt ganz allein in einem Haus.
Aber er wird sie nie heiraten. Seine Eltern werden ihm eine Frau geben, die auch aus einer wohlhabenden Familie kommt.
Es gefällt ihr trotzdem, davon zu träumen.
„Lass uns fortgehen“, sagt er plötzlich
„Was meinst du?“
„Wir verlassen Augsburg und beginnen woanders ein neues Leben.“
„Das geht doch nicht. Wohin sollen wir denn gehen und was sollen wir tun?“
Ihr Herz klopft wild, sie kann es bis in ihre Ohren spüren.
„Wir können auf einem Bauernhof arbeiten. Wir sind beide jung und gesund.“
Seine Worte sind süß wie Schokolade.
„Das geht doch nicht“, sagt sie nochmal.
„Natürlich geht es. Wir können zusammen sein. Ich werde dich heiraten.“
Aus seinen Augen strahlt die Zukunft: Weizenfelder, die in der Sonne wogen. Eine Vorratskammer, die bis unter das Dach mit Würsten und Käse gefüllt ist. Fruchtmus, das in großen Tontöpfen lagert. Viele Küsse.
Er kommt ganz nahe und sie kann sehen, dass seine blonden Wimpern an der Spitze ganz dunkel sind. Sie saugt seinen Geruch ein. Er riecht nicht nach Bier.
„Kommst du mit mir, Martha?“
Sie nickt und dann küsst er sie auf die Stirn.
„Ich brauche ein paar Tage. Wir brauchen Geld und etwas zu Essen. In drei Tagen werden wir fortgehen, komm am frühen Abend hierher. Du wirst doch kommen, oder?“
„Ich verspreche es.“
***
Sie nimmt die silberne Haarspange ihrer Mutter in die Hand und drückt sie an die Brust. Mutter hat sie so oft getragen. Im Licht der Sonne hat die Spange manchmal geschimmert, als wäre ein Stern in ihrem Haar.
Sie betrachtet sich selbst in der spiegelnden Oberfläche der Spange. Sie sieht ihr langes, blondes Haar und ihre blauen Augen. Kornblumenaugen hat Max einmal gesagt.
Schnell schiebt sie die Spange in die Tasche ihres Mantels.
Plötzlich fühlt sie sich beobachtet.
„Schau nicht so“, schimpft sie ihre Schwester.
Helene schlägt die Augen nieder. Sie ist in dem Bett kaum zu sehen.
Plötzlich fühlt Marthas Herz sich an, als steckten tausend kleine Splitter darin. Sie geht zu Helene und drückt sie fest an sich. Sie hofft, dass der Vater für sie sorgen wird, aber sie darf nicht darüber nachdenken, sonst kann sie niemals weggehen.
„Ich gehe zum Brunnen“, sagt Martha. Sie lächelt und küsst Helene auf die Stirn.
Die Schwester hält sie fest und Tränen schimmern in ihren Augen. Ihr Blick ist wie ein Anker und Martha fühlt, dass sie Helene nicht hierlassen kann.
***
Helene hängt leblos in ihren Armen und atmet rasselnd. Martha achtet darauf, nicht durch die Nase zu atmen, denn Helene riecht aus dem Mund, als würde etwas in ihrem Inneren verfaulen. Obwohl Helene nicht schwer ist, tun Marthas Arme inzwischen so weh, als würde ein Messer darin stecken.
„Wir sind da“, sagt sie schließlich und setzt Helene auf den Baumstamm.
Einen Moment lang freut Martha sich, dass sie es geschafft haben und sie sich endlich ausruhen kann. Aber die Erleichterung hält nicht lange an.
Was wird Max sagen, wenn er Helene sieht? Wird er sie mitnehmen? Wird er überhaupt noch weggehen wollen?
Die Stunden vergehen. Manchmal steht Martha auf und geht ein wenig herum. Sie späht zwischen den Bäumen hindurch und hält Ausschau nach Max. Dann läuft sie zu einem nahegelegenen Bach und füllt Wasser in ihren Lederschlauch.
Irgendwann verschwindet die Sonne hinter den Bäumen und es wird kühl.
„Ich habe Hunger.“ Helene weint.
„Es dauert nicht mehr lange“, sagt Martha.
„Was dauert nicht mehr lange?“
„Du wirst schon sehen.“
Helene beginnt zu zittern und Martha nimmt sie in den Arm. Und dann erzählt sie Helene von ihrem neuen Leben. Sie erzählt ihr von dem wunderbaren Essen, das sie erwartet. Gebratenes Hähnchen. Blutwurst. Und sie verspricht Helene, dass sie ein kleines Kätzchen haben darf, wenn sie tapfer ist.
Martha erzählt und erzählt und irgendwann begreift sie, dass er nicht kommen wird.
***
Es wird schon wieder hell, als sie wieder zu Hause sind.
Helene läuft neben ihr her und weint, aber Martha hat keine Kraft mehr, sie zu tragen.
Plötzlich öffnet eine Nachbarin die Tür.
„Habt ihr es schon gehört?“, fragt sie die beiden Mädchen.
„Was denn?“
„Von dem Aufstand?“
Martha schüttelt den Kopf. Sie weiß nichts davon und will auch nichts wissen.
„Die Weber haben sich zusammengeschlossen. Mein Alois ist auch dabei.“
Die Weber. Max. Martha bleibt stehen.
„Ist euer Vater nach Hause gekommen?“
Martha weiß nicht, was sie sagen soll, aber die Nachbarin erwartet keine Antwort.
„Sie sind am Rathaus. Heute Nacht konnte ich sie bis hierher hören. Sie sind immer noch dort unten.“
„Was machen sie?“
„Sie wollen, dass die Fabrikanten unsere Stoffe kaufen. Sie belagern das Rathaus. Es heißt, sie stehen kurz vor einem Durchbruch.“
„Ich werde hinlaufen“, sagt Martha.
„Bist du verrückt? Es hat Tote gegeben. Zwei Männer sind gestorben.“
Max. Sie fühlt, dass es Max ist und ihre Knie werden weich.
Sie bringt Helene nach Hause und legt sie in ihr Bett. Der Vater ist immer noch nicht zu Hause.
„Ich muss nochmal fort“, sagt sie.
Und dann rennt sie durch die Straßen, zum Rathausplatz. Helene hat noch nie so viele Menschen auf einem Fleck gesehen. Viele schreien. Sie zwängt sich zwischen den Männern hindurch. Dort hinten, war das nicht ihr Vater? Sie duckt sich, sie möchte auf keinen Fall, dass er sie sieht.
Und dann steht sie direkt neben ihm. Max ist am Leben.
***
Am nächsten Tag reden alle darüber.
Die Menschen in Marthas Viertel sind stolz. Die Ehefrauen stehen auf der Straße und erzählen, dass ihre Männer Schüle das Handwerk gelegt haben.
Er muss für jeden Meter ostindischen Stoff einen aus Augsburg kaufen. Martha will gerne glauben, dass jetzt alles besser wird, aber sie kann nicht.
Am Abend kommt der Vater früh von der Arbeit.
Er hat Brot, Kartoffeln und Speck dabei.
„Kochst du uns eine Suppe, Martha?“, fragt er sie.
Martha nickt. Ihr Magen knurrt, am Liebsten würde sie sie die rohen Kartoffeln essen, aber sie weiß, dass sie dann Bauchschmerzen bekommt.
„Ich lasse einen Arzt für Helene kommen“, sagt er und sie nickt nochmal.
Sie sollte glücklich sein, aber sie ist es nicht.
Am nächsten Sonntag sieht sie ihn in der Kirche. Max sucht ihren Blick, doch sie starrt auf den Boden. Nach dem Gottesdienst kommt er im Gedränge an sie heran und zupft sie am Ärmel. Sie sieht ihn nicht an. Sie will ihn nie wieder ansehen oder ein Wort mit ihm sprechen.
"Ich konnte nicht weg", flüstert er. "Ich musste den Anderen helfen. Siehst du nicht, dass jetzt alles besser ist?"
Martha geht oft auf den Friedhof. Sie besucht das Grab ihres Mannes und das von Helene.
Sie denkt oft an damals. Daran, dass es zuerst gut war und daran, wie schnell es wieder schlecht wurde. Wie schnell Schüle sich nicht mehr an seine Zusage gebunden fühlte.
Und jetzt, zehn Jahre später, hat sich nicht das Geringste verändert. Martha ist hungrig und müde. Das Kind in ihrem Bauch wächst, aber sie freut sich nicht. Sie kann ja kaum sich selbst durchbringen, wie soll sie da noch für einen anderen Menschen sorgen?
Was, wenn es ihrem Kind ergeht wie Helene?
Sie denkt oft an ihre kleine Schwester, erinnert sich an die Nacht, in der sie starb.
Sie hätte Essen gebraucht und Medizin. Der Aufstand brachte allen große Hoffnungen, aber letztendlich wurden sie nicht erfüllt.
Manchmal denkt sie an ihren Vater. Wenn sie an seine Blicke und an alles andere denkt, wird ihr schlecht. Sie weiß nicht, wo er jetzt ist. Sie weiß nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt.
Plötzlich spürt sie Blicke auf sich. Sie dreht sich um und steht Max gegenüber.
Sie nickt ihm zu und wendet sich wieder ab, doch plötzlich muss sie ihn etwas fragen.
„Wünschst du dir auch manchmal, dass wir gegangen wären?“
„Sehr oft, aber ich würde es trotzdem immer wieder genauso machen.“