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Die Erwählten
Der Tag war gekommen. Als wir aus dem Haus traten, schien die Sonne. Ich hielt einen Strauß Veilchen in der Hand und folgte meinem Mann zur Garage, in der unser Wagen stand. Als wir losfuhren, fühlte ich einen stechenden Schmerz in der Herzgegend.
„Martin, meinst du, es ist alles in Ordnung?“, fragte ich.
„Wie meinst du das? Natürlich, für mich schon. Für dich nicht?“
„Ist halt meine Mutter. Ein bisschen schlecht fühle ich mich doch.“
„Musst du nicht. Sie war ja einverstanden.“
„Hat aber lange gedauert. Wir mussten sie ganz schön überreden.“
„So ein Blödsinn! Per Gesetz müsste sie in zwei Jahren sowieso gehen.“
„In zwei Jahren. Ja. Mit neunzig wird man gezwungen. Schon komisch.“
„Denk doch mal an die Kosten. Marie will in Amerika studieren, wie sollen wir das alles bezahlen?“
„Ob Mutti Angst hat?“
„Die bekommen sicher eine Spritze. Die merken nichts. Fang bloß nicht zu heulen an!“
„Ich heul ja nicht!“
Das Altersheim Gertrudes lag am Rande der Stadt, mitten in einem Park. In den Beeten blühten erste Frühlingsblumen, auf den Bänken saßen alte Menschen in der Sonne. Wir liefen mit langen Schritten dem Eingang zu, durchschritten die Pforte und eilten durch endlose Flure dem Zimmer meiner Mutter entgegen. Die Tür stand weit offen, von meiner Mutter fehlte jede Spur.
„Sind wir zu spät? Um Himmels Willen! Martin!“
„Es ist genau zehn Uhr. Wir sind pünktlich. Absolut zur richtigen Zeit!“
„Aber Mutti, wo haben sie Mutti hingebracht?“
Eine Schwester, in weißer Tracht, kam auf uns zu. „Herr und Frau Ruppert?“
„Wo ist meine Mutter?“
„Kommen Sie bitte mit. Die Erwählten sind im großen Saal!“
„Die wer?“ Mein Herz fing zu klopfen an. War das richtig, was hier vor sich ging! Zweifel, Ängste, Panik und Zorn auf Martin, der mich am Arm packte und weiter schob.
Wir ließen uns von der Schwester führen und als sie eine Tür öffnete sah ich Blumen, Kerzen und viele Betten, die dicht aneinander gereiht standen und in denen alte Menschen lagen, die man in weiße Gewänder gehüllt und denen man Kränze aus Blumen auf die Häupter gedrückt hatte. Eine Gänsehaut rieselte mir den Rücken hinunter.
„Großer Gott, Martin!“
Ich entdeckte meine Mutter, ganz am Rande der Reihe, und eilte auf sie zu. „Hallo Mutti!“
Tränen rannen mir übers Gesicht und benetzten die eingefallenen Wangen meiner Mutter, als ich sie küsste. „Wie fühlst du dich, Mutti?“
„Es geht mir gut, Kind. Da ist ja auch dein Mann!“
Martin reichte Mutter förmlich die Hand. Ich beobachtete ihn genau, er vermied es, sie anzusehen.
Inzwischen hatte sich der Saal mit Angehörigen gefüllt. Sie drängelten sich an die Betten, betätschelten ihre Großmütter, ihre Mütter. Es gab nur einen einzigen Mann. Den Kranz hatte man ihm auf den Bauch gelegt, seine knochigen Finger zupften an den weißen Blüten, die Augen, in tiefen Höhlen, starrten an die Decke, die ebenso weiß war wie sein Totenhemd.
Ein Pfarrer betrat den Saal. Wir durften uns von unseren Angehörigen verabschieden, bevor sie mit geweihtem Wasser besprengt wurden. Mutti hielt sich die Augen zu. Sie war sehr blass, ich spürte wieder den Stich in der Herzgegend. Der Geistliche stimmte einen Gesang an.
Der Boden schwankte unter meinen Füßen, der Saal drehte sich im Kreis und als ich wieder zu mir kam lag ich draußen, im Garten, auf einer Bank.
„Martin?“
„Geht es dir wieder besser? Es ist alles überstanden. Gut, dass du ohnmächtig wurdest. Mutter wollte plötzlich nicht mehr. Ich hab‘s ihr aber ausreden können.“
„Was ist mit Mutti? Sag‘s mir Martin!“
„Die schliefen alle ganz sanft ein. Nebel und Musik von Mozart.“
„Martin?“
„Ja?“
„Ich habe Angst.“