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Die erste Brille
Am Tag danach bekam ich meine erste Brille.
Am Abend zuvor hatte mich mein Vater gefragt, ob ich mit in die Oper gehe. Meine Eltern waren Abonnenten, und jetzt war meine Mutter vom Husten geschüttelt. Husten während der Aufführung war nicht sonderlich beliebt, auch nicht auf den billigen Abo-Plätzen.
Draußen war es bitterkalt, im Novemberfrost trieben sich vereinzelt Schneeflocken herum. Meine Mutter behauptete, sie könne riechen, wenn Schnee kommt. Sie hatte bis dahin immer Recht gehabt. Nur diesen Schneefall hatte sie nicht erschnuppert. Vermutlich wegen ihres Schnupfens. Der erste Schnee, meine erste Oper, ein Tag voller Premieren.
Wir fuhren mit der Trambahn in die Stadt. Den restlichen Weg gingen wir zu Fuß. Die Oper war nicht weit weg vom Münchner Marienplatz. Mein Vater zeigte mir die Baustelle, wo sie gerade einen Schnellbahn-Tunnel unter der Stadt hindurch trieben und erzählte mir, worum es in der Oper "Hoffmanns Erzählungen" ging. Ich war mit Flockenzählen beschäftigt und bekam nur die Hälfte mit.
Keine Ahnung, wie lange ich schon kurzsichtig war. Eine Brille hatte ich noch nicht, mit dem Zusammenkneifen der Augen konnte ich einigermaßen scharf stellen. In der Oper schien es unwichtig, solange die Ohren in Ordnung waren. Dachte ich.
Wir nahmen weiter hinten Platz. Zur Bühne war es trotzdem nicht weit. Ein dicker roter Vorhang hing herab. Die Menschen um mich herum husteten. Meine Mutter hätte also ruhig in die Oper gehen können. Die Lichter verdunkelten sich. Worum es in „Hoffmanns Erzählungen“ ging, wollte sich mir nicht erschließen. Hätte ich nur meinem Vater besser zugehört. Menschen sangen sich gegenseitig an, ich konnte nicht viel damit anfangen. Warum in aller Welt begeisterten sich Leute für so etwas?
Ab dem Zweiten Akt waren solche Fragen vollkommen egal. Da stand dieses Mädchen auf der Bühne. Ich kniff die Augen zusammen. Ungefähr mein Alter, ein wallendes, altmodisches, weißes Kleid, lange blonde Haare. Unter dem Kleid ragten die Zehenspitzen ihrer nackten Füße heraus. Es stand am linken Bühnenrand. Den Grund dafür und alle Einzelheiten dieser hinreissenden Erscheinung konnte ich durch meine zusammen gepressten Augenschlitze gerade so erfassen. Die Gefühle nahmen ihren Lauf.
Ihr zartes Gesicht war mir zugewandt, ihre Augen drückten Bescheidenheit und Wärme aus. Je länger ich sie ansah, desto mehr verflüchtigten sich alle anderen Wahrnehmungen. Den Gesang hörte ich nicht mehr und auch nicht mehr das unterdrückte Gehüstel um mich herum. Meine Wangenmuskeln schmerzten zunehmend unter der Anstrengung des dauerhaften Ausgleichens meiner zu kurz geratenen Sehschärfe.
Gedanken und Gefühle kreisten nur noch um dieses Mädchen am Bühnenrand. Warum konnte so etwas nicht in meiner Klasse sitzen? Zum ersten Mal in meinem Leben war ich verknallt. Seltsam war, dass ich mich über meinen Zustand nicht wunderte, obwohl ich in diesem Moment eine völlig neue Art der Liebe kennenlernte. Ich liebte meine Eltern, ich liebte mein Spielzeug, ich liebte Fußball. Die vierte Variante traf mich in den Bauch wie ein hart geschossener Elfmeter.
Ab und zu blickte ich verstohlen zu meinem Vater hinüber. Ob er etwas bemerkte von meiner Aufgeregtheit? Ich hatte den Eindruck, alles gut unter Kontrolle zu haben, bis er mich fragte, ob "sie" mir gefällt. Hatte er mich ertappt? Ein zögerliches Nicken war meine Antwort. Mein Gesicht wurde heiß, bis klar wurde, dass er nicht das Mädchen gemeint hatte, sondern die Oper. Von mir aus hätte sie den Rest meines Lebens andauern können. Tat sie aber nicht.
Auf dem Nachhauseweg trug ich in Gedanken das Bild des Mädchens durch den Flockenwirbel vor mir her. Mein Vater fragte mich noch einmal, ob mir die Aufführung gefallen hatte. Meine Begeisterung war ehrlich, wenn auch aus dem einen Grund, den ich für mich behielt. Um Nachfragen zu Einzelheiten aus dem Weg zu gehen, fügte ich rasch hinzu, nicht alles genau gesehen zu haben. Er sah in meine kurzsichtigen Augen und versprach mir eine Brille.
Ich spürte noch eine Weile meine angestrengten Gesichtsmuskeln, die mir geholfen hatten, meinen Blick zu schärfen für das namenlose Mädchen, das am linken Bühnenrand auf eine Kulissenwand gemalt war.