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Die Entscheidung
Silbern gerahmt, gleich neben Schreibzeug und der Kaffeetasse, steht das stumme Zeugnis glücklicher Tage. Vater, Mutter, Kind, hübsch arrangiert, abgestuft auf weissen Stühlen sitzend, vor samtblauem Hintergrund. Drei Abzüge zum Preis von zwei, ein Eröffnungsangebot des Fotogeschäfts Baumann, das letzte Woche Insolvenz anmelden musste.
Inzwischen hat Jochen sein Studium beendet, ist ausgezogen, und geht seinen eigenen Weg. Katrin und ich leben seither mehr nebeneinander, als miteinander. Wir funktionieren im Alltag, jeder erfüllt seinen Part, wortlos, ausser wenn wir streiten, dann sind wir erfinderisch. Das Bild im silbernen Rahmen verblasst zunehmend, ist zum Inventar des Büros der Firma Balmer & Borer mutiert, ein Staubfänger neben dem PC. Ich sehe aus dem Fenster, Schneeflocken wirbeln unschlüssig umher. Der Winter zeigt sich von seiner garstigen Seite, eisige Zeiten, nicht nur jahreszeitbedingt, denke ich und stosse die Luft geräuschvoll aus. Die Akte Huber liegt offen auf meinem Tisch. Ob auf seinem Schreibtisch auch ein Bild steht?
Ich setze mich wieder hin und studiere die Akte. Kind in Ausbildung, Frau eine geborene Zumoberhasli. Aus Grindelwald, eine von den Bergen also. Naja, dann ist sie sicher bodenständig, wird die Entscheidung wohl besser verkraften und ihrem Mann Halt geben. Diesem loyalen Duckmäuser, nie laut, immer fleissig, selten krank.
"Barbara? Bitte schick mir doch den Huber rein." Mein Blick fällt auf das Eintrittsdatum und ich rechne zurück, vierunddreissig Dienstjahre, eine verdammt lange Zeit. Ein leises Klopfen, dann erscheint Huber zögernd im Türspalt. Der Ausdruck auf seinem eingefallenen Gesicht zeigt eine Mischung aus Neugier und Angst, irgendwie das Unausgesprochene bereits ahnend. In der einen Hand hält er nutzlos einen leeren Schreibblock. Warum läuft hier nur jeder mit so einem Schreibblock herum und täuscht so Geschäftigkeit vor?
'Schaut her, ich habe zu tun, keine Zeit, ich werde gebraucht.'
"Nehmen Sie Platz, Herr Huber", sage ich förmlich und zeige auf den Besucherstuhl.
Er kommt mit hängenden Schultern näher, starrt auf den Aktenordner auf meinem Tisch und schiebt sich rasch auf den angebotenen Stuhl. Den Schreibblock hält er nun wie einen Schild an seinen Körper gepresst. Ich öffne die Akte, atme leise durch und spule, wie schon bei den anderen beklagenswerten Mitarbeitern zuvor, die ganze verschissene Entlassungsrhetorik herunter.
Leise schliesst sich die Tür, Huber geht, wie er gekommen ist. Nur der Schreibblock liegt noch stumm auf dem Stuhl, ich lasse ihn liegen, lasse Herrn Huber ziehen, was soll er auch noch damit. Ich gehe zum Schrank, hole die kleine Flasche vom letzten Firmen-Jubiläum aus der untersten Schublade hervor. Der Verschluss knackt jungfräulich beim Öffnen und ich fülle eine grössere Menge des rauchigen Islay-Whisky in meine Kaffeetasse. In einem Zug, ohne gross zu kosten, fliesst die teure Flüssigkeit wie Medizin in meinen Magen. Das wohlige Brennen ist von kurzer Dauer, der Alkohol riecht falsch und wirkt plötzlich fehl am Platz. Ich reisse das Fenster auf, wenigstens kann man das noch in diesem Teil des Gebäudes und atme tief die kalte Winterluft ein. Was ist nur aus mir geworden? Ein Lagerarbeiter menschlicher Ressourcen, degradiert zum legalen Menschenhändler, es geht schon lange nicht mehr darum, Mitarbeiter zu motivieren, ihre Stärken gewinnbringend einzusetzen. Nein, es geht nur noch um Stellenprozente, Marktanteile, Shareholdervalues, es ist zum Kotzen.
Ich schliesse das Fenster, stelle die Tasse wieder neben das Baumann-Foto. Das macht doch schon lange keinen Spass mehr. Wie oft war ich schon kurz davor ... und habe dann doch die Entscheidung hinausgeschoben? Aber wieviele Schreibblöcke auf leeren Besucherstühlen brauchst du noch, Kurt? Himmel, ich werde endlich Katrins Wunschtraum erfüllen, mit ihr nach Hinterfultigen ziehen und dort den kleinen Buchladen des Schwiegervaters übernehmen. Ich greife nach dem Handy und wähle Katrins Nummer. Während die Verbindung aufgebaut wird, betrachte ich ihr lachendes Gesicht im Silberrahmen. Dieses Mal sollte mein Anruf gegen Abend sie nicht enttäuschen.
"Hast du getrunken?", schnarrt es aus dem Lautsprecher.
Ich blicke kurz auf die Kaffeetasse und verneine energisch.
"Du willst also Balmer & Borer verlassen. Das wievielte Mal wäre das dann?", höre ich Katrin ungläubig fragen.
"Hör zu, diesmal meine ich es wirklich ernst. Mein Entschluss steht fest."
Ein langes Seufzen und plötzlich fängt sie an zu schluchzen. Ich lasse ihr Zeit. Ein lauter Schneuzer prallt an mein Ohr, dann hat sie sich wieder gefangen.
"Und du bist dir wirklich sicher, dass du in diesen - wie nanntest du es: Zukunftslosen Trödelladen - investieren willst?"
"Stell den Schampus kalt, wir fangen noch mal ganz von vorne an", ignoriere ich ihre Frage und zerstreue damit auch rasch meine eigenen Zweifel. Es ist, als würde eine grosse Last von mir genommen. Plötzlich ist das einzig richtige in diesem Raum der silberne Rahmen mit den glücklichen Gesichtern darauf. Ja, ich werde Katrin zurückerobern und wenn ich in diesen Trödelladen investieren muss. Ich blende dabei aus, dass es vor allem um mich geht, habe ich doch die ewigen Streitereien wegen der Überstunden satt, es gibt keine gemeinsamen Abende mehr, keinen guten Sex, wenn überhaupt mal Sex. Das soll sich ab morgen ändern. Und heute will ich feiern, mit Katrin.
Ich schliesse die Türe hinter mir ab, die Bewegungsmelder im Gang lassen die Deckenbeleuchtung aufflackern. Fahles Neonlicht begleitet mich zum Fahrstuhl. Die meisten Angestellten sind bereits gegangen, aus einem Büro ist noch Tastaturgeklapper und gedämpftes Lachen zu hören, sicher die Herrenvögel Burgisser und Galli. Klar, diese Erbsenzähler haben gut Lachen, ihnen wird die Arbeit nicht ausgehen und dafür gibt's auch noch richtig Kohle. Wie die Heuschrecken sind sie über Balmer & Borer hereingeflogen, haben das Klima vergiftet. Ich drücke den Liftknopf und ein weiteres rauhes Lachen ertönt. Ich denke an den leeren Schreibblock in meinem Büro und flüchte mich in die Liftkabine. Auf der Fahrt in die Tiefgarage überlege ich mir schon mal meine Kündigungsrede für morgen.
Ich verlasse den Lift und die kalte Einstellhallenluft schlägt mir entgegen.
"Mein Entschluss steht fest, Heinz." Meine Worte hallen zwischen den Säulen.
"Ich kann und will so nicht weitermachen. Ich kündige."
Kurz und schmerzlos, genau, ja nicht zu pathetisch, der Heinz Balmer soll gar nicht erst versuchen ...
Der Schmerz im Rücken überrascht, reisst mich aus meinen Gedanken. Jemand drückt mir von hinten ein dünnes Rohr gegen die Rippen.
"Ganz ruhig, Meissner, dann passiert ihnen nichts!"
"Huber? Aber was ..."
"Still, ich will, dass Sie mir zuhören."
Ein Stoss und ich stolpere nach vorne in die Tiefgaragenhalle. Als ich mich umdrehe, sehe ich direkt in den Lauf einer Armeepistole. Die Akte Huber taucht vor meinem inneren Auge auf, die Seite mit den Personalien, darin wird Huber als Gefreiter der Schweizer Armee geführt. Wieder ein Vorfall mit einer Dienstwaffe, was letzthin ja fast täglich in den Nachrichten zu hören ist. Was sind das nur für Zeiten.
"Machen Sie doch keinen Fehler, Huber."
"Wer macht denn hier die Fehler? Ich sicher nicht!" Er blickt sich hektisch um, doch sie sind die einzigen Besucher der Einstellhalle.
"Los, zu ihrem Auto." Kein unterwürfiges Rumdrucksen mehr, seine aufeinandergepressten Lippen, sein eindringlicher Blick zeigen Entschlossenheit. Ich schaute wieder nach vorne, betätigte den automatischen Funköffner. Im hinteren Teil der Halle blinken die Scheinwerfer einer Limousine mit Firmenlogo auf. Absurd, am besten lasse ich Huber noch ein paar Löcher reinschiessen. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Erst mal nachgeben, tu, was er sagt, so gewinnst du Zeit.
"Halt nein, wir gehen besser wieder nach oben!", krächzt Huber.
Ich stutze, anscheinend hat er keinen Plan, handelt instinktiv, mir dreht sich der Magen und mir wird kurz schwindlig. Ich stolpere zurück zum Lift. In der Kabine ist es nun stickig und heiss, der Duft von Angstschweiss breitet sich aus.
"Wissen Sie, dass ich einen Sohn hatte?"
"Steht in ihrer Akte, ja." Moment mal, warum hatte?
"Steht da auch, dass er abhängig war?"
"Ich weiss wirklich nicht ..."
"Und steht da auch, dass ich seit einem Jahr meine Frau jeden Mittwoch in der Psychiatrie besuche?"
"Nein, Herr Huber, das ist Privatsache und geht ..."
"Scheisse ist das, ganz grosse Scheisse. Wie soll ich denn ohne Job meine Frau unterstützen? Die Krankenkasse zahlt schon lange nicht mehr, und für die IV-Rente reicht anscheinend ein Selbstmordversuch noch nicht aus. Und wer stellt heute einen alten Sack wie mich noch ein?"
Ein Ruck und die Fahrstuhltür schiebt sich zur Seite. In der Türöffnung taucht wie ein genialer Regieeinfall Burgissers gedrungene Gestalt auf.
"Oha, die Herren Meissner und Huber. So spät noch unterwegs?"
Sein aufgesetztes Grinsen fällt in sich zusammen, als er Hubers Pistole sieht.
"Was wollen Sie denn mit der Waffe, Huber? Das ist doch wohl nicht ihr Ernst."
'Nicht jetzt Burgisser', denke ich, 'spiel jetzt nur nicht den Helden.'
"Los, nach vorne, alle beide."
Huber gab mir einen Stoss und ich prallte mit Burgisser zusammen.
"Machen Sie, was er sagt, das ist im Moment das Beste für alle."
Burgisser erkennt erstaunlich schnell den Ernst der Lage und wir marschieren beide los. Aus Gallis Büro sind immer noch die klappernden Tastaturgeräusche zu hören.
"Los, da rein", zischt Huber und fuchtelt mit der Pistole. Die Geräusche verstummen.
Ich öffne die Türe und blicke in das Gesicht eines verdutzten Mittvierzigers, wirres, schütteres Haar, spitzes Kinn, fliehende Stirn. Galli sitzt hinter seinem Laptop und blickt uns verdutzt an, als seien wir die drei Weisen aus dem Morgenland. Nur bringen wir leider keine teuren Geschenke, sondern wir haben den Tod im Schlepptau.
Huber stösst uns in den Raum und schliesst die Tür hinter sich ab.
"Huber? Was soll denn das Theater?", Galli ist aufgesprungen und klappt in Ermangelung an Handlungsspielraum seinen Laptop zu.
"Ruhe - auf den Boden, alle drei, los!"
Wir setzen uns sofort hin und drücken uns zwischen einen ziemlich verstaubten Gummibaum und einen modernen Laserdruckerturm an die Wand.
"Und was jetzt, Huber? Wollen Sie uns etwa alle drei erschiessen?"
"Ruhe, ich muss nachdenken." Er läuft hin und her, sein Gesicht nimmt zunehmend die Farbe des Gummibaumes an, ich befürchte, so hält er nicht lange durch. Und das beängstigt mich enorm.
Ich denke plötzlich an Katrin, noch könnte ich im Stau stecken, oder ich machte vielleicht ein paar Besorgungen für unsere kleine Feier, aber bald wird sie unruhig werden. Habe ich sie doch schon so oft versetzt, spät abends dann nur einen Zettel vorgefunden: "Bin bei Mama, Essen ist in der Tonne, Mikrowelle ist ja eh IMMER NOCH kaputt."
"Was wollen Sie denn damit erreichen?", fragt Burgisser leise.
"Brauchen Sie Geld? Für Ihre Frau?" Etwas Dämlicheres hätte mir nicht einfallen können.
Huber blickt mich sogleich strafend an und richtete den Lauf langsam auf meinen Kopf.
"Das holt meinen Sohn auch nicht mehr zurück, Meissner. Ihr wisst ja gar nicht, was ihr mir angetan habt!"
Seine Hand zittert, und in dem Moment scheint etwas in Huber zu zerbrechen, ich sehe in das schwarze Mündungsloch und meine Blase gibt nach. Ich schliesse die Augen, lieber Gott, lass es schnell vorbei gehen, vielleicht werde ich ja vorher ohnmächtig.
Der Knall zerreisst die Luft, prallt von den Wänden ab und schlägt schmerzhaft auf mein Trommelfell. Ein spitzer Schrei erfüllt den Raum. Burgisser stöhnt, dann kippt Huber wie ein nasser Sack auf Gallis Schreibtisch. Unnatürlich gekrümmt rutscht er seitlich weg, reisst Laptop, Akten und Telefon mit sich auf den grauen Linoleumboden. Ein holzgerahmtes Foto landet in meinem Schoss, darauf grinst mich Galli mit vollem Haar an, wie er seine Hände besitzergreifend auf die Schultern zweier Teenager mit Fussballtrikots drückt. Ich fühle die erkaltende Nässe zwischen meinen Beinen, spüre etwas Warmes auf meiner linken Wange und sehe die klaffende Wunde auf Hubers Hinterkopf. Dann kotze ich in den Gummibaumkübel.
Nachdem die Beamten meine Aussage endlich in ihrem Computer speichern konnten und ich der Frau vom psychologischen Dienst versichert habe, dass ich alleine klar komme, fahre ich um drei Uhr morgens nach Hause. Im Taxi fällt mir ein, dass ich in all der Aufregung vergessen habe, Katrin anzurufen. So wirkt die Wohnung peinlich aufgeräumt und an der defekten Mikrowelle klebt ein gelber Zettel:
"Ich will nicht mehr, mach's gut!"