Mitglied
- Beitritt
- 21.04.2011
- Beiträge
- 2
Die Entscheidung
Die Entscheidung
»Leben ist das, was man daraus macht. «Ein Zitat, das ich vor Jahren einmal gelesen habe. Ich mag mich vielleicht nicht an den Tag oder den Grund erinnern, doch ist mir dieser Satz im Gedächtnis geblieben. Damals jung und naiv, wie ich war, habe ich nie über die Bedeutung dieser paar Worte gerätselt.
Man kann es traurig nennen, dass ich erst jetzt, wo ich nur wenige Tage davor stehe, mein Leben und all seine Vorzüge zu verlieren, verstanden habe, was es aussagt.
Zu sehr konzentrierte ich mich auf meine Ängste, die Furcht und all ihre Folgen. So war es mir unmöglich, den wahren Ursprung meiner Angst auszumachen.
Vielleicht mögt ihr diese Worte nur sehr schwer begreifen, vielleicht aber habt ihr eine Vorstellung davon, was ich euch gleich erzählen werde. Wie immer, ich hoffe, dass es einem jeden möglich sein wird, mein Befinden und auch meine Taten annähernd zu verstehen. Wo ich es selbst doch noch nicht verstanden habe. Doch erst müsst ihr meiner Geschichte lauschen.
Alles begann an einem eiskalten Novembermorgen vor vielen Jahren. Auf den nassen Straßen hatte sich Eis gebildet und trotz der, durch den Reif weiß schimmernde Landschaft, war noch keine Flocke Schnee gefallen. Ich war damals genau achtzehn Jahre alt, ein wenig leichtsinnig und manch einer könnte sagen, ich war süchtig nach der Gefahr.
»Lilith?« Kates Stimme schallte über den Platz. Ein paar einzelne Menschen wandten sich um und sahen sie an, doch sie schien sich nicht daran zu stören. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie auf ihre Freundin zulief. Der Wind peitschte ihre strohblonden Haare in ihr Gesicht und ließ sie aus der Entfernung sehr kindlich erscheinen. Natürlich wusste Lilith, dass Kate das keineswegs war.
Für sie gehörte Kate zu den stärksten, tapfersten Frauen, denen sie jemals begegnen durfte.
»Hey Lilith endlich. Ich habe dich gesucht. Wo bist du gewesen? Wir haben über eine Stunde auf dich gewartet. «Kate zog ihre Augenbrauen in die höhne und erneut lag etwas Kindliches an ihrer Geste. Etwas das in Lilith Schuldgefühle auslöste.
Sie war sicher, dass ihre Freundin auf eine Antwort wartete, dabei hoffte sie, diese ihr nicht geben zu müssen. Natürlich hätte sie einfach lügen können, sagen sie habe sich nicht gut gefühlt, oder sie habe einen wichtigen Termin gehabt, aber es fiel ihr mit der Zeit immer schwerer ihre Freundin anzulügen. Wo sie doch mehr als nur eine Schwester für sie geworden war.
»Hast du nicht gewusst, dass wir uns treffen wollten? «, versuchte Kate es erneut. Es schmerzte Lilith wie stark sie sich bemühte eine Ausrede zu finden. Gerade da sie wusste, es würde keine geben. Nicht für das, was sie getan hatte. Nicht für das, was sie im Begriff war zu tun.
Natürlich hatte Lilith von dem Treffen gewusst. Klar, schon vor Tagen hatten sie darüber gesprochen. Es war unmöglich, dass sie das überhört haben könnte. Es war ihnen wichtig gewesen.
Sie, damit beschreiben sie ihre kleine Gruppe. Jonas, Max, Kate und Lilith. Seit Kindestagen waren die vier guten Freunde, doch zu etwas Einzigartigem wurde ihre Freundschaft erst in den letzten Jahren.
Um genau zu sein, war es nur ein einziger Tag, der ihre Beziehung grundlegend verändert hatte. Am 13. Juli 1999 begangen die Vier gemeinsam eine Straftat. Nichts Großes, doch damals schien es weltbewegend. Sie brachen in die Wohnung eines Mitschülers ein. Diese Tat war auf eine lange Geschichte, Intrigen und Betrügereien aufgebaut, die Lilith bis zum heutigen Tag nie wirklich verstanden hatte. Dem Einzigen, dem sie sich 1999 sicher gewesen war, war die Tatsache, dass dieser Junge etwas besaß, das für die Freunde einen enormen Wert gehabt hatte.
So hatten sie etwas getan, was erhebliche Folgen mit sich gebracht hatte- Sie hatten beschlossen, es sich einfach zu nehmen.
Ganz zum Entsetzen einiger Polizisten hatte dieses Verbrechen mehr positive als negative Folgen. Da sie vorsichtig gewesen waren, hatten sie das Glück, dass der Einbruch niemals aufgeklärt und der Täter niemals identifiziert wurde.
Der Fall war klein gewesen, so hatte ihn die örtliche Polizei nach nur wenigen Tagen fallen gelassen. Doch dieser winzig kleine Trubel reichte schon völlig aus, um das Erlebnis unvergesslich zu machen. Unvergesslich und erfolgreich.
Jung, wie sie damals waren, wollten sie sich nicht auf diesem einen Erfolg ausruhen. Ein wenig machten sie es dem Spaß zuliebe, doch fanden sie auch bald Gefallen daran, ihre eigenen Grenzen auszutesten.
Der Glaube unfassbar zu sein, spornte die Freunde zu weiteren Dingen an. Dinge, die sie besser gelassen hätten.
Aus netten Jugendlichen wurde innerhalb eines Monats eine kleine Gruppe Krimineller, wenn man es derart sagen mochte. Aus Diebstahl wurde Einbruch, aus kleinen Betrügereien machte die Zeit weitaus größere. Sie wurden besser, schlauer und schneller.
Jetzt, 9 Jahre später war nichts mehr so, wie es einmal war. Hätte sie nicht mit den Folgen ihrer Taten zu kämpfen, wäre Lilith noch begeistert, wie gut sie waren, wie gut sie sind.
Man könnte glauben ihre Taten hätten irgendwann - spätestens nach dem College - aufgehört, doch daran hatten die Vier niemals gedacht. Zu viel Gewinn brachte ihnen diese Art von Nebenverdienst. Ihre Studiengebühr bezahlte sich schnell ab, sie hatten genug Geld, um erster Klasse zu leben.
Sie waren stets unauffällig gewesen. Natürlich, man hatte all die Delikte, die sie begangen hatten, bemerkt, doch wie durch ein Wunder, hatte nicht eine Spur zu ihnen geführt.
So bot sich ihnen eine Möglichkeit, von der nicht jeder Dieb träumen konnte. Sie schafften es, sich neben diesem Job ein Leben aufzubauen.
Jonas heiratete mit 21 Jahren, nur ein Jahr später wurde seine Frau schwanger - nichtsahnend, woher ihr Mann das Geld für das teurere Auto und das große Haus nahm.
Auch Max hatte es geschafft, er hatte schon vor langem um die Hand seiner Freundin angehalten. Doch bis zum heutigen Tag hatten die beiden nicht geheiratet. Insgeheim glaubte Lilith, sie blieben nur zusammen um sich einen gewissen Vorteil aus dem anderen zu ziehen. Max war vermögend und seine Lebensgefährtin, sie war ziemlich hübsch.
Ja, selbst sie, Lilith, hatte es geschafft und sich ihr eigenes, kleines Leben eingerichtet. Als letzte von ihnen.
Paul - bei dem bloßen Gedanken an seinen Namen musste sie lächeln. Vor gut einem Jahr hatte sie ihn kennengelernt. Es war als hätte sie ihr Leben lang auf ihn gewartet. Seine Großzügigkeit, seine Gutherzigkeit. All die Eigenschaften, die sie an ihm liebte und doch konnte sie ihm ihr Geheimnis nicht erzählen. Sie brachte es nicht übers Herz ihm zu sagen, wer sie wirklich war, mit wem er seine Zeit verbrachte.
Obwohl ihr Paul alles bedeutete, war sie sich stets sicher gewesen ihre Beziehung konnte nicht von Dauer sein. Nicht bei ihrem Job. Vielleicht, glaubte sie, würde es bei Jonas und sogar bei Max funktionieren, doch sie, da war sie sich sicher, war nicht dazu geboren, ein Doppelleben dieser Art zu führen.
Ihre Überzeugungen jedoch verblassten an dem Tag, an dem ihr ihr Frauenarzt mitteilte, sie sei schwanger. Von diesem Moment an schien nichts mehr anderes wichtig zu sein, nichts schien mehr eine Bedeutung zu haben.
Diese Tatsache, die Tatsache, dass sie ein Kind bekommen würde, das sie eine Familie haben würde, war der Grund für ihre spätere Entscheidung.
Eine Entscheidung die sie aus reiner Selbstsucht getroffen hatte.
Der letzte Einbruch, den die Gruppe durchgezogen hatte, ein Einbruch in ein kleines Museum drei Stunden entfernt, sollte eigentlich ziemlich einfach werden. Die Selbstsicherheit, die die Vier im Laufe der Jahre entwickelt hatten, die Schnelligkeit, all das sprach für sich. Und doch verlief nichts wie geplant. Vielleicht waren sie unkonzentriert gewesen, vielleicht hatten sie sich auf ihrem Erfolg zu sehr ausgeruht, doch bei diesem Einbruch machten sie Fehler. Fehler mit Folgen.
Die Polizei war fähig Spuren zu finden und sie verfolgten diese Spuren zurück zu Lilith.
Eines Nachts standen sie vor ihrer Tür. Es war drei Tage, nachdem sie von der Schwangerschaft erfahren hatte. Paul arbeitete länger und so wurde nur sie aus dem Schlaf gerissen.
Sie nahmen sie mit in ihr Büro und stellten ihr Fragen bis früh in den nächsten Morgen. Lilith musste feststellen, dass sie ihren Job nicht ganz so schlecht beherrschten, wie sie zuerst geglaubt hatte, denn sie hatten einige Dinge zusammengetragen, die sie zu ihnen führten.
Am Anfang des Verhörs hatte Lilith geglaubt auch die anderen würden befragt werden, doch dies stellte sich schnell als falsch heraus.
Denn was die Polizei wollte, das waren nicht viele Aussagen die die Tat abstritten, sie wollten die Einbrecher für ihre Taten bestrafen. Und da sie zu diesem Zeitpunkt nur Beweise für Liliths Einbruch in das Museum hatten, boten sie ihr einen Deal.
Einen Deal der sie dazu zwang ihre Freunde zu verraten, sie zu betrügen und sie zu verletzen, dafür aber- versprach man ihr- sollte sie der Tat nicht belangt werden.
Zuerst weigerte sich Lilith, doch als sie an das kleine Wesen dachte, das in ihrem Bauch heranwuchs, wie sie sich vorstellte das man es ihr nach der Geburt wegnehmen würde, da traf sie die Entscheidung. Nur um sich selbst zu retten.
Die darauffolgenden Wochen gehörten zu den schrecklichsten ihres Lebens. Sie pendelte zwischen ihrem Leben mit Paul, ihrem Job und der Polizei hin und her. Sie war gezwungen ihre Freunde auszuspionieren, Wanzen zu installieren und trotzdem normal zu tun.
Es war kaum zu schaffen, doch sie redete sich wieder und wieder ein es sei das Beste. Das Beste für sie, ihr ungeborenes Baby und Paul. Ihre Familie.
Was sie nicht wusste, die Polizei kam durch die Wanzen und ihre Berichte hinter mehr als nur ein Verbrechen. Die geringen Strafen die man ihren Freunden versprochen hatte wurden länger und länger. Lilith fühlte sich schlechter und schlechter.
Dann endlich, am gestriegen Nachmittag, sollte das Ganze zu einem Ende kommen. Ihre Freunde trafen sich zu einer Besprechung. Sie wollten den nächsten Einbruch planen. Die Polizei hörte sie ab und bekam die noch fehlenden Informationen. Lilith tauchte bei diesem Treffen nicht auf, es war ihr unmöglich mitzubekommen, wie sie ihre besten Freunde verriet.
Nun, als Kate vor ihr stand, sie ansah und lächelte, fiel es Lilith schwer nicht in Tränen auszubrechen. Sie wusste, es konnte jeden Moment so weit sein. Sie würden kommen und sie würden sie verhaften.
Kate war stets die Wichtigste ihre Freunde gewesen, der, der sie am meisten vertrauen konnte. Sie war als Einzige von ihnen noch alleinstehend. Der Job war stets das Wichtigste gewesen.
Kate hatte auf ein Leben verzichtet, für etwas, was Lilith ihr im Begriff war zu nehmen. Wie sollte sie sich das jemals verzeihen?
Ungewollte stiegen Lilith doch Tränen in die Augen. Ihre Freundin sah sie an. »Lilith, du weinst. «
»Es tut mir leid, Kate«, flüsterte diese fast lautlos, doch Kate schien sie zu verstehen.
»Was tut dir leid? «Sie legte ihre Hand auf Lilith Schulter hob ihren Arm, als wollte sie sie umarmen. Ihr Blick war voll Mittgefühl. Lilith schüttelte nur den Kopf und wich zurück.
»Was ist? «, fragte Kate verwirrt.
»Du wirst mir das nie verzeihen «, flüsterte Lilith, »niemals. « Über Kates Schulter hatte sie die Polizisten entdeckt. In langsamen Schritt kamen sie auf die beiden zu. Sie lächelten, es schien als würde sie die Tatsache das Lilith ihre beste Freundin verraten musste erfreuen. Wie sehr sie sie hasste. Wie sehr sie sie doch verabscheute. Wie konnten sie ihr das nur antun?
»Ich versteh nicht? « Kate lächelte aufmunternd. In diesem Moment kamen die beiden bei ihnen an. Langsam und gemächlich, als hätten sie alle Zeit der Welt. Der Mann, alt und grau mit dieser runden Brille, die Frau mit streng zurückgekämmten Haaren. Sie drängten sich zwischen die beiden Mädchen und zogen Kate die Arme auf den Rücken. Der Alte erklärte ihr ihre Rechte, doch Kate schien all das nicht mitzubekommen. Verletzt sah sie Lilith an. Auch ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wie Perlen rollten sie über ihre Wangen, tropften von ihrem Kinn auf den eiskalten Asphalt.
Das einzige Wort das sie flüsterte, als die beiden sie von ihr wegzogen war: »Warum? «
Lilith blieb zurück. Allein auf dem großen Platz. Weinend. Angestarrt von Fußgängern, Leuten in Cafés. Sie fiel auf die Knie, so schlecht wurde ihr. Die Welt um sie herum verschwand, begann sich zu drehen. Sie schien das Bewusstsein zu verlieren.
Und dort, weinend auf dem kalten Boden, allein, wurde sich Lilith zum ersten Mal wirklich bewusst darüber, was sie getan hatte.
Noch heute kann ich ihre Augen sehen, ihre Stimme hören. Ich erinnere mich genau an diesem Moment mit all seinen Einzelheiten. Die Kälte, die Angst und die Trauer. Manchmal schließe ich die Augen, lege mich zurück und denke an diesen Moment. Dann ist es, als wäre ich wirklich dort. Ich sehe die ganze Handlung noch einmal, durchlebe alles erneut. Und wieder fühle ich mich schrecklich, von neuem beginne ich, zu weinen. Noch einmal scheint mein Herz zu bluten.
Und obwohl diese Gedanken mir innerlich schreckliche Schmerzen bereiten, halte ich an ihnen fest, wie ein Ertrinkender an der Luft, die er niemals mehr haben kann. Ich tue dies, um die Schmerzen nicht zu vergessen. Nichts in meinem Leben habe ich nur annähernd so schmerzhaft empfunden. Nichts war zu vergleichen mit dem Verrat, den ich begangen habe.
Man könnte meinen ich sei masochistisch und vielleicht liegt man dort nicht einmal so falsch. Ich tat mir das an, um nicht zu vergessen, denn ich habe Angst, dass ich, wenn ich nur eine Einzelheit vergesse, dies meine Tat verharmlosen könnte. Selbst wenn das dann nur meine Ansicht war. Das dürfte niemals passieren. Für immer will ich mir bewusst darüber sein, was ich getan hatte.
Und das war ich auch. Mein Leben lang. Als meine Tochter geboren wurde, ich heiratete und auch als ich weg aus meinem Zuhause in eine andere Stadt zog. Ich vergaß nie. Nie das meine Freunde verurteilt wurden, nie das sie ins Gefängnis mussten, nie das wir uns selbst nach dem Ende ihrer Strafe nicht wieder gesehen hatten.
Eine Entschuldigung wäre nötig gewesen, nur ein paar Worte. Mein Leben lang habe ich diese Worte gesucht und jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr sie wenigstens aufzuschreiben.
Es sind viele Jahre vergangen. Ich habe meine Tochter zur Schule gehen sehen, ich habe sie großgezogen. Ich habe ihr geholfen, die erste Wohnung einzurichten. Ich habe sie zum Arzt begleitet, als sich ihr Schwangerschaftstest rosa färbte. Mein Enkelkind habe ich im Arm gehalten. Ich habe Weihnachten, Geburtstage und Beerdigungen besucht. In bin in ferne Länder gereist, habe Freundschaften geschlossen. Ich habe ein gutes Leben gelebt. Ich müsste glücklich sein. Doch das bin ich nicht, nicht vollkommen. Es ist als würde ein Teil fehlen, einen Teil, den ich schon vor vielen Jahren verloren habe.
Ich weiß, meine Tage sind gezählt, doch ich trauere nicht. Ich wusste dies würde kommen, doch habe ich mich nicht wirklich darauf vorbereitet. Mir wurde die Zeit genommen und nun liege ich hier, habe all die Sätze in meinem Kopf und ich kann sie nicht einmal aussprechen. Nichts schmerzt annähernd stark wie das. Ich wünschte ich könnte die Zeit zurückdrehen. Nur ein klein wenig, ein paar Monate.
Nur um genügend von ihr zu haben, dass ich diese Worte wenigstens einmal hätte sprechen können.