Die Enkel des Chaos
Endlos kreist die Drehtür. Verschluckt einzelne Körper, spuckt andere wieder aus. Der steinerne Gehweg ein Laufsteg menschlicher Verzweiflung, Reizbarkeit, Erleichterung, Ratlosigkeit, Hast und Müdigkeit. Kaum jemand ist freiwillig hier. Alle wollen so schnell wie möglich wieder weg. Wie man hier landet? Schlampiges Timing im kosmischen Chaos. Die Notaufnahme ist ihr Sammelbecken, das Krankenhaus ihre Herberge.
„Was ist dir passiert?“
Ihre piepsige Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Mit großen Kulleraugen hat sie mich ins Visier genommen. Aufgeregt wippt ihr kleiner Körper auf und ab, wartet ungeduldig auf eine Antwort. Der zierliche Zeigefinger ist stur auf meinen Gips gerichtet.
„Fahrradunfall“, antworte ich ihr.
So lässt sich die leidige Kette der vergangenen Ereignisse simpel summieren. Der dahinter verborgenen Komplexität wird die Antwort jedoch nicht gerecht.
„Emilie“, brüllt eine genervte Stimme. Sekunden später verschwindet das kleine Mädchen mit ihrer Mutter in der Drehtür und lässt mich mit der Frage zurück: Was ist mir passiert?
Streng genommen müsste ich mit den ultimativen Anfangsbedingungen beginnen. Der Augenblick als sich Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff und Co. planlos auf den Weg begaben, das Leben zu erschaffen. Durcheinander, brutales Klima, natürliche Experimente, erzwungene Zufallsorganisation des Chaos. Die Zeit als gnadenloser Richter, als es noch keine Organigramme oder Horoskope gab. Einfacher physikalischer Gesetze zum Trotz, vervielfältigten sich einfache Systeme bis zur komplexen Unvorhersehbarkeit. Was davon zurückblieb, kann momentan auf der Erde bestaunt werden. Die Welt ist das Produkt einer zufälligen Zusammensetzung verschiedener Atome, die sich im Lauf der Geschichte gegen andere Zusammensetzungen durchgesetzt hat. So entstand einst das Leben und so verhält es sich bis heute.
Der Mensch bildet dabei keine Ausnahme. Auch wenn wir uns alle für etwas ganz besonderes halten. Wie mit einem Herzschlag senden wir ständig Impulse in das kanalisierte Chaos. Wir bewegen uns, handeln, interagieren in einem komplexen System, das wir nicht überschauen können. Jemand bindet sich die Schuhe und überlebt, ein Anderer zieht zu oft an der Zigarette und verunglückt Stunden später tödlich. Raum und Zeit gleichen Katz und Maus. Sie jagen sich oder sie vertragen sich. Von meiner Parkbank, eingerahmt von zwei Linden, habe ich einen exzellenten Ausblick auf ihr wildes Treiben. Im Minutentakt bringt der Krankenwagen ihre Opfer. Wir sind alle die Enkel des Chaos, das wir das Leben nennen.
Ich beginne einfach gestern Nacht, als ich in meinem kleinen Büro in der Innenstadt dem Feierabend entgegen arbeitete. Alle dreißig Sekunden schielte ich zur Uhr. Der lahmarschige Minutenzeiger schlich im Kreis dem Wochenende entgegen. Ich arbeitete als junger Architekt an einem Gebäudemodell eines wichtigen Großkunden. Bäume modellieren, Farben anpassen, Schatten nachzeichnen. Kinderkram, aber mehr traute mir mein Chef nicht zu. Nicht ganz zu Unrecht, wie ich anfügen muss. Zum Einen komme ich frisch von der Uni, zum Anderen hatte ich mich in den ersten Wochen nicht gerade von meiner beruflichen Sonnenseite gezeigt. Ich brachte einen beträchtlichen Teil meines Arbeitstages damit zu, Papierknöllchen aus gewisser Distanz in einen Mülleimer zu werfen. Oder wie ich es nenne: Zerstreuen durch Bürosport. Um ehrlich zu sein, kreisten meine Gedanken auf der Arbeit immer wieder um ein mögliches Ende meiner langjährigen Beziehung. Zuhause dagegen, konnte ich nur an die drohende Entlassung nach der Probezeit denken. Ich fühlte mich wie ein Gefangener zwischen zwei Welten, die sich gegenseitig abstießen und in deren Mitte ich zerrissen wurde.
Meine Beziehung zu Kerstin endete eigentlich schon seit Monaten. Die zärtlichen Gesten wurden seltener, die Worte karger, die Blicke kälter, die Stimmen lauter, der Sex kürzer. Das Fass füllte sich stetig und schien nur noch auf den letzten Tropfen zu warten. Eine Erklärung dafür hatten wir beide nicht. Wie andere Leute einen Regenschirm, verloren wir unsere Liebe und waren doch zu feige, die Suche aufzugeben. Was übrig blieb waren halbgare Schwüre, gebrochene Versprechungen, Automatismen und Zwangsoptimismus.
Unter leisem Klacken umrundete auch die letzte Minute tapfer die Uhr. Die achtzehnte Stunde des Freitags war damit komplett. Feierabend, Wochenende. Ich konnte gehen, ich sollte gehen, ich musste gehen und dennoch griff ich einen weiteren Baum und verpasste ihm den farblichen Glanz eines warmen Herbsttages. Danach griff ich noch einen Baum und noch einen weiteren. Obwohl ich heute nicht eine Minute zu spät sein durfte, zögerte ich, um nicht eine Sekunde zu früh zu erscheinen. Die vermeintlichen Schwiegereltern hatten sich zum Abendessen angekündigt.
Um 18:45 Uhr ließ sich mein Aufbruch nicht länger hinausschieben. Ich räumte meinen Schreibtisch auf, löschte alle Lichter und wartete auf den Fahrstuhl. Bing. Türen auf, Chef drin. Scheiße.
„Herr Pohlmann! Gut, dass ich sie noch erwische. Ist das Modell schon fertig?“
Beschämt blickte ich an seinem hochroten Kopf vorbei.
„Nein, Herr Dr. Bürklen, ich bringe es am Montag in ihr Büro. Es fehlen nur noch ein paar Handgriffe.“
„Oh!“, entfuhr es meinem Chef in hörbar schlechter Laune. „Das geht nicht, Pohlmann! Das muss heute noch fertig werden. Der Kunde hat gerade angerufen. Er muss kurzfristig am Montag auf Geschäftsreise nach China und will das Modell noch vorher begutachten.“
„Das wusste ich nicht.“
„Ja, macht ja nichts. Sie sind ja noch hier. Sonst hätte ich den Kunde wohlmöglich vertrösten müssen.“
Erleichtert griff er zum Handy.
„Alfred, ja, grüß dich. Du kannst morgen Vormittag vorbeikommen. Kein Problem. Gut, dann bis morgen.“
Das Handy wanderte wieder in sein feines Sakko.
„An die Arbeit, Pohlmann.“
„Ja, Herr Dr. Bürklen.“
Mit krummem Kreuz schlich ich in mein Büro zurück und rief Kerstin an.
„Martin? Bist du schon unterwegs?“
Im Hintergrund hörte ich ihre Mutter flüstern.
„Hör zu Kleines, ich werde es nicht rechtzeitig schaffen. Ich muss no...“, weiter kam ich gar nicht. Der verbale Orkan tobte bereits. Ich legte das Handy beiseite und ließ meine Stirn auf die Schreibtischplatte knallen. Wir hatten den letzten Tropfen gefunden. Raus gepresst, aus dem kümmerlichen Rest unserer Beziehung. „Mistkerl“, war das erste Wort, das ich aus dem wilden Geschrei identifizieren konnte und am Ende schallte ein deutliches „Fick dich!“ durch die vier Wände. Freizeichen.
Wie therapeutisch stumpfe Arbeit doch sein kann. Ich bastelte die letzten Bäume, klebte sie ins Modell und zog fein säuberlich die Schatten nach. Nach knapp zwei Stunden war ich fertig. Vorsichtig balancierte ich das empfindliche Konstrukt in Richtung Chefbüro. Ein Bürosport zur falschen Zeit und ein Mülleimer am falschen Ort mündeten in einen falschen Schritt. Ich verlor die Balance, versuchte mich beim Sturz gedankenschnell und heldenhaft auf die Seite zu drehen, um wenigstens das Modell zu retten und landete doch unsanft auf meiner Arbeit. Wutentbrannt sprang ich auf und trat die restliche Statik aus dem Gebäudeentwurf. Ein entfesselter Urschrei donnerte durch das ganze Gebäude und verhallte ungehört. Entnervt schmiss ich die Reste des Modells auf den Schreibtisch meines Chefs und nahm die nächste Straßenbahn nach Hause.
Als ich die Haustür aufschloss, wurde ich nur von Stille und Dunkelheit empfangen. Ein paar Klamotten fehlten aus unserem Kleiderschrank. Ansonsten schien die Wohnung unverändert. Sogar das Essen stand noch auf dem Tisch. Gefüllte Paprika. Ich hasse gefühlte Paprika. Ich schob mir eine Pizza in den Ofen, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und versank mit meinem jämmerlichen Weltschmerz in den Untiefen der Wohnzimmercouch. Ich weiß nicht, wie lange ich dort verharrte und gedankenverloren an dem Pilsener nippte. Zumindest solange, bis der stinkende Qualm meiner verbrannten Pizza den Weg ins Wohnzimmer fand. Ich öffnete das zweite Bier und feuerte die steinharte Pizza vom Balkon aus wie einen Frisbee in die Nacht. Das ungewohnte Flugobjekt zerschellte knapp neben einem Fenster an der gegenüberliegenden Hauswand und die verkohlten Brocken regneten auf den Bürgersteig.
Ich war ein Aussätziger in meinem eigenen Leben. Ein billiges Schlachtopfer der Konfusion von Raum und Zeit. Eine schnöde Marionette ihres Chaos. Katz und Maus stritten sich wieder, ich konnte es deutlich spüren. Vom Balkon aus beobachtete ich die Lichter der vorbeifahrenden Autos, die Menschen auf dem Gehweg, die Schatten hinter den Gardinen. Wir alle müssen uns mit der Zufallsauswahl an Menschen arrangieren, die sich in die Nähe unseres Lebens verirrt haben. Für einen winzigen Augenblick in der Geschichte teilen wir ein gemeinsames Blickfeld. Streiten, lieben, lachen, hassen, verzeihen, verlassen. Warum hier? Warum jetzt? Wäre ich in einem anderen Jahrhundert glücklicher geworden? Oder als Japaner? Ich war dankbar, dass mein Handy mich von den nutzlosen Gedanken befreite. In der naiven Hoffnung, Kerstin hätte sich wieder beruhigt, drückte ich den grünen Knopf.
„Kerstin?“
„Nee, alter! Was´n los?“ Mein bester Kumpel Thomas brüllte in den Hörer.
„Was los ist? Sie ist gegangen, das ist los.“
Kein „Oh“, kein „Scheiße“, kein „Fuck“. Er hätte wenigstens so tun können, als würde ihn diese Nachricht überraschen. Aber Thomas hatte bereits einen anderen Plan.
„Dann gehen wir heute Abend steil, hombre!“
„Lieber nicht“, seufzte ich.
„Was hält dich denn jetzt bitte noch zu Hause?“
„Keine Ahnung. Die gewaltige Fußfessel aus Selbstmitleid, vielleicht?“
„Bullshit“, donnerte er. „Außerdem, war das keine Frage, sondern eine Feststellung.“ Dann legte er auf.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Thomas wie ein Besessener an meine Wohnungstür hämmerte. Ich war wild entschlossen, ihn zu ignorieren.
„Mach die Tür auf! Ich werde nicht aufhören, bis du endlich diese Scheiß Tür öffnest“, brüllte er.
Der Krach war unerträglich.
„Langsam werden deine Nachbarn sauer, Martin. Ich glaube, die rufen gleich die Bullen. Tu dir das nicht an. Komm schon. Ich werde den Beamten erzählen, dass du vorhast, dich umzubringen, damit sie deine Tür eintreten. Du weißt, dass ich das mache, also öffne die verdammte Tür.“
Was sollte ich sagen? Seine Starrköpfigkeit ist legendär. Ich fügte mich und ließ ihn rein. Wortlos ging er an mir vorbei ins Schlafzimmer und wühlte in meinem Kleiderschrank.
„Alkohol ist keine Lösung, Tom“, dozierte ich altklug und lief ihm hinterher.
„Wer quatscht denn hier von Lösung? Das sind Schmerztabletten auch nicht, aber sie helfen die Zeit zu überbrücken bis eine Lösung gefunden ist. Naja, oder eine Heilung von ganz alleine einsetzt.“
Er schmiss mir ein schwarzes Hemd und eine Jeans zu. Sein Blick strotzte nur so vor Sturheit.
„Zwing mich nicht, dich anzuziehen! Ich werde es tun!“
Bereits zwanzig Minuten später standen wir an der Bar des Clubs. Es war kaum was los. Der Barkeeper schenkte uns seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Leider.
„Zwei Bier, zwei Wodka“, war der meistgesprochene Satz von Thomas an diesem Abend. Der Laden füllte sich langsam, aber stetig. Die grässlichen Elektrostücke waren kaum voneinander zu unterscheiden und vermischten sich zu einem schrillen Brei. Ich weiß nicht mehr, wie viel ich trank. Liegt in der Natur der Sache. Viel jedenfalls. Zu viel. Doch es kam die Zeit, in der sich die Welt wirklich etwas leichter anfühlte. Ich tanzte sogar unbeholfen mit ein paar Frauen. Eine Zeitlang bildete ich mir tatsächlich ein, frei und abenteuerlustig zu sein. Diese Phase hielt an, bis ich ungestüm aufs Klo rannte und die verdreckte Kloschüssel vollkotzte.
Man kann sich nicht aussuchen, wie einen die Erleuchtung trifft. Newton musste von einem heimtückischen Apfel attackiert werden, ich ein halbes Kilo Körpergewicht verlieren. Doch als ich verschwommen auf meinen ehemaligen Mageninhalt starrte, bildete ich mir ein, auf einmal alles glasklar zu sehen. Ich gehörte nicht hierher, ich gehörte an ihre Seite, ich musste Kerstin zurückgewinnen. Ich verließ den Club so schnell ich konnte und rannte wie ein Irrer durch die dunklen Straßen. Ich hatte keinen blassen Dunst, wohin ich überhaupt rannte. Dennoch war ich überzeugt, mich ihr zu nähern, wie durch einen inneren Kompass. An einer Hausecke lehnte ein altes Fahrrad ohne Schloss. Ein Geschenk des Chaos. Ich trat in die Pedale, bis meine Beine brannten. Der Lance Armstrong des Bürgersteigs, bewaffnet mit der unendlichen Motivation eines Betrunkenen. „Ich werde dich finden“, war das letzte, was mir durch den Kopf ging, bevor ich den schwarzen Mercedes aus der Auffahrt kommen sah. „It's gettin' dark, too dark to see. I feel like I'm knockin' on heaven's door.” Ob Bob Dylan auch einen Fahrradunfall hatte?
Geistesgegenwärtig gab ich Kerstins Handynummer an, als mich irgendwas in Weiß fragte, ob jemand benachrichtigt werden sollte. Sie hat mich tatsächlich im Krankenhaus besucht. Jammerschade, dass ich noch nicht bei Bewusstsein war. Aber sie hinterließ mir eine kurze Notiz auf meinem Gips: „ES IST AUS!“ Ich weiß nicht, was ich ihr gesagt hätte, wenn ich wach gewesen wäre. Besser als die Version, die ihr die Ärzte geben konnten, wäre es aber allemal gewesen. Im Suff mit einem geklauten Fahrrad gegen einen Mercedes gerast. Na super. Ich schätze die Entscheidung, mich zu verlassen, fühlte sich danach etwas leichter an. Woher solltest du auch wissen, dass ich zu dir unterwegs war. Wenn auch nicht unbedingt streckentechnisch, so doch wenigstens in Gedanken. Ich wette, mein Chef hat den ganzen Morgen versucht, mich anzurufen. Nur gut, dass mein Handy in der Jacke ist, die ich achtlos und übermotiviert im Club zurückließ.
Die Sonne geht langsam hinter dem Krankenhaus unter.
„Das kosmische Chaos kann auch Schönes hervorbringen“, sage ich zu der entzückenden Frau, die sich vor einer Sekunde neben mich setzte. Nervös bläst sie den Rauch ihrer Zigarette in den rötlichen Abendhimmel. Sie sieht nicht verletzt aus, vermutlich eine Besucherin. Ich frage mich, über welchen irren Zufallspfad sie hierher gewandert ist. Wem sie auf den Gips gekritzelt hat.
„Was ist passiert?“, sagt sie plötzlich und blickt in Richtung meines gebrochenen Armes. An die Frage werde ich mich wohl gewöhnen müssen. Ich begnüge mich wieder mit der extremen Kurzfassung: „Fahrradunfall.“
„Nein, ich meinte die Verzierung auf ihrem Gips.“
„Ach das. Naja, was immer passiert. Raum und Zeit vertrugen sich nicht.“
„Aha.“ Sie hat keine Ahnung, was ich meine, lächelt aber und bietet mir eine Zigarette an. Ich greife beherzt zu und lasse mir Feuer geben. Stillschweigend betrachten wir eine Weile den Sonnenuntergang. Ohne den Blick vom makellosen Himmel zu nehmen, wendet sie das Wort an mich: „Haben sie eine Ahnung, wie unwahrscheinlich es ist, dass wir beide genau an diesem Tag zusammen auf dieser Bank sitzen und den Sonnenuntergang genießen?“
Manchmal, und wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick, vertragen sie sich eben doch.