Die Endgültigkeit
Ich starre auf das Gesicht im Spiegel. Ein Gesicht, das ich so gut kenne, aber das sich in letzter Zeit sehr verändert hat. Jedoch nicht zum Guten.
Die Haut ist blasser geworden, ganz langsam nimmt sie die Farbe von Asche an. Auch sind die Konturen des Schädels nun viel sichtbarer als noch vor ein paar Wochen, doch das passierte nicht nur in meinem Gesicht, ich bin ein bisschen kleiner geworden und habe kein Gramm Fett mehr an meinem Körper.
Was auch dazu führt, dass meine Augen nun größer erscheinen. Die Lider sind erschlafft und ein grauer Schatten liegt über den Pupillen, die beinahe schon ihre braune Farbe verloren haben.
Mein Blick wandert weiter nach oben und ich betrachte meine Glatze, die an einem 20-Jährigen Jungen wie mir etwas abstrakt aussieht und mir ungewollt ein etwas aggressiveres Aussehen verleiht.
Als mein Blick sich wieder meinen Augen zuwendet, bemerke ich, wie blutunterlaufen sie sind.
Das kommt daher, dass ich nicht mehr Schlafe. Nicht weil ich es nicht könnte, nein, wenn ich wollte könnte ich vom späten Nachmittag bis zum Mittag des nächsten Tages schlafen. Ich schlafe nicht mehr, weil ich keine Zeit mehr habe.
Mein Seufzer lässt die Katze aufblicken, die es sich hinter mir in einem kleinen Korb am Boden gemütlich gemacht hat.
Ich bedecke meinen haarlosen Schädel mit einer Mütze und laufe aus dem Zimmer.
Ich laufe. Weil ich keine Zeit mehr habe.
Zwei Monate zuvor war ich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich war ruhig gewesen, als ich im Büro des Arztes gebeten wurde. Und ich war auch ruhig gewesen, als er mir sagte, dass meine Kopfschmerzen keine gewöhnlichen Kopfschmerzen waren.
Ich weiß bis heute nicht, warum mich das so wenig überraschte, warum nicht einmal meine Finger zitterten als ich den Zettel mit der Diagnose und das Rezept für die acht verschiedenen Medikamente, die ich täglich einnehmen muss, entgegennahm.
Ein Tumor. Ungefähr so groß wie eine Walnuss, direkt in meinem Gehirn.
Ob ich manchmal Ohnmachtsanfälle hätte, fragte er mich.
Manchmal.
Und ob ich manchmal das Gefühl hätte, meine Motorik würde nicht so funktionieren, wie ich das wollte?
Manchmal, sage ich wieder.
Habe ich zu diesem Zeitpunkt wirklich verstanden, was der Arzt mir da gesagt hat? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich habe ich es erst verstanden, als ich die Tür öffnen wollte und mich noch einmal umdrehte, dem Arzt in das Gesicht blickte und ihn Fragte: Wie viel Zeit bleibt mir noch?
Nun laufe ich.
Jede Sekunde will ich noch auskosten, jeden Augenblick mit den Menschen verbringen, die mir wichtig sind.
Den wenigsten habe ich erzählt, was los ist.
Die Sonne ist gerade untergegangen und der letzte rote Schimmer am Himmel verursacht dieses wundervolle Dämmerlicht, diesen Moment, wenn der Tag vorüber ist, aber die Nacht noch nicht begonnen hat.
Und ich laufe den Orten hinterher, die ich noch besuchen will, den Menschen, die ich noch treffen wollte und den Liedern, die ich noch hören will.
Als ich am Ende der Straße ankomme, merke ich, wie mir die Tränen über das Gesicht laufen.
Ich hatte nicht geweint, als ich es erfahren hatte, ich war stark geblieben. Umso mehr überrascht es mich, dass es hier und jetzt passiert.
Und ich lasse die Tränen laufen, vielleicht habe ich sie schon zu lange zurückgehalten.
Plötzlich muss ich lächeln, wenn ich an das Bild denke, das ich gerade abgebe: Ein sterbender weinender Junge läuft im schwachen Dämmerlicht des sterbenden Tages durch die Straße, während über ihm die Vögel noch singen.
Ich laufe weiter, mir unbekannte Straßen und Wege entlang, achte nicht darauf, wohin mich meine Füße tragen. Auch denke ich nicht daran, wohin ich laufe. Ich laufe dahin, wo es mir gefällt. Um den Weg zurück kümmere ich mich nicht. Denn ich muss nicht zurückkehren.
Ich bleibe stehen. Irgendetwas ist anders. Aber was?
Hoch oben über der Stadt auf einem Hügel stehe ich, ein paar Bäume säumen den schmalen Weg, der mich noch zu so vielen unbekannten Orten, Menschen und Liedern hätte führen sollen.
Der Mond erscheint riesig und mit einer gewaltigen Leuchtkraft, wie ich es noch nicht gesehen habe.
Ich hätte nicht stehenbleiben sollen. Ich habe das Gefühl, durch das Laufen habe ich mein Herz am Leben erhalten, durch das Laufen habe ich es bis jetzt daran gehindert, immer weiter zu arbeiten und das Blut durch meine Venen zu pumpen.
Jetzt stehe ich hier, betrachte den Mond. Und komischerweise weiß ich, das jetzt das Ende gekommen ist.
Es ist, als wäre ich seit meiner Diagnose auf diesen Punkt hingerannt um hier und jetzt den Tod zu empfangen.
Seltsamerweise ist die Angst davor verschwunden.
Ich setze mich an den Rand des Weges in das Gras und betrachte weiter den Mond. Mittlerweile hat der Himmel seine Farbe zu einem sehr dunklen Blau geändert und wo man vor ein paar Minuten noch helle Schlieren erkennen konnte, herrscht jetzt vollkommene Finsternis.
Wie lange ich wohl warten muss, bis es geschieht?
Wohl nicht mehr allzu lange, dessen bin ich mir sicher. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln.
Plötzlich spüre ich, wie mein Puls langsamer wird.
Es hat begonnen.
Endgültig.