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Die dargebotene Hand

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29.01.2010
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Die dargebotene Hand

Letzte Abnäher waren noch vorzunehmen.
«Also wir liefern das Brautkleid übermorgen an Ihre Adresse.» Die Angestellte des Geschäfts reichte der Kundin die Hand. «Auf Wiedersehen, Frau Engelin.»
Obwohl im sechsten Monat schwanger, hatte Stephanie Engelin sich für Weiss entschieden. Das Kleid kaschierte die Bauchwölbung geschickt. Sie dachte an Claus, dessen Rückkehr aus Boston auf morgen angesetzt war, wo er beruflich während sechs Monaten ein Projekt begleitete. Die Schwangerschaft war nicht geplant, eher einer Unachtsamkeit zuzuschreiben, doch sie freuten sich beide auf das Kind. Es gab den Ausschlag, ihrer Beziehung endlich einen familiären Rahmen zu verleihen. Die Hochzeit war auf nächste Woche angesetzt.
Mit Einkaufstaschen verschiedener Boutiquen der Zürcher Bahnhofstrasse beladen, kehrte Stephanie ins Parkhaus zurück. Der Nieselregen hatte den Einkaufsbummel etwas behindert, doch sie war mit ihrer Ausbeute zufrieden. Beschwingt vom Gefühl, mit dem Baby und Claus in einigen Tagen offiziell eine Familie zu sein, hatte sie erste Babywäsche und noch ein paar hübsche Dinge für sich erstanden.
Den Schirm und die Einkaufstaschen in der einen Hand kramte sie umständlich in der Handtasche nach dem Autoschlüssel.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Vor ihr stand eine junge Frau, die linke Hand ausgestreckt, um ihr das Gepäck zu halten. Stephanie stutzte einen Moment. Sympathisch wirkte das Gesicht nicht, in welches sie blickte. Ein knabenhaft anmutender Kurzhaarschnitt betonte das herbe daran noch. An sich fand sie es jedoch eine nette Geste. Seit man ihr die Schwangerschaft ansah, waren die Leute, denen sie begegnete, bemerkenswert zuvorkommend, besonders die Frauen. «Oh, danke.» Sie lächelte und reichte die Einkäufe in die dargebotene Hand. Es war für sie nun einfacher, nach dem Schlüssel zu suchen.
Die am Halsansatz eindringende Stahlklinge bewirkte, dass Stephanie keinen Laut von sich geben konnte. Schmerz und Schock blockierten ihr Denken. Als ihr die Frau mit heftigen Stössen das Messer in den gewölbten Bauch rammte, begriff Stephanie, was geschah, und ein entsetzlicher Gedanke an ihr Kind durchdrang sie. Dies verkraftete sie nicht mehr und verlor das Bewusstsein.

Svenja Hilfiker war bereits früh morgens auf, in der Nacht hatten Albträume sie gequält. An sich nichts Ungewöhnliches, die innere Unruhe war immer präsent, doch diesmal waren es ungeborene Kinder, sterbend oder bereits tot, die sie heimsuchten. Mit blutbefleckten Körpern rückten sie bedrängend an sie heran. Umgebendes Fruchtwasser gab ihnen ein schemenhaftes Aussehen. Eines streckte ihr sein Händchen entgegen, als wollte es sich an ihr festhalten. Für einen Moment nahm sie das Gesicht wahr, es war ihr eigenes Ebenbild. Sie hatte aufgeschrien, wodurch sie verwirrt erwachte. Es waren Föten, die ihren Schlaf durchkreuzten.
Sei dankbar, dass es dir erspart blieb, in diese verfluchte Welt zu kommen. Lass mich also gefälligst in Ruhe.
Nach langem hin und her Wälzen schlief sie wieder ein, in die Düsternis der Albträume zurückkehrend. Das Kleine mit ihrem Gesicht war wieder da, diesmal schrie es nach Nahrung. Als sie ihm den Mund zuhalten wollte, griff es in ihr Nachthemd, den Nippel der linken Brust zwischen seine Lippen pressend. Svenja wollte es entfernen, riss an ihm, doch es saugte sich wie ein Egel fest. Das Messer. Ich muss das Sprungmesser einsetzen, um das Gör loszuwerden. Wie wild stach sie damit auf den kleinen Körper ein, doch der liess nicht locker, biss vielmehr heftig zu. Der Schmerz, den es ihr zufügte, obwohl es noch keine Zähnchen hatte, erzeugte ihr ein ungeahntes Lustgefühl. Mit jedem Stich in seinen Körper reagierte es noch kräftiger, Svenja in einem Strudel lustvoller Empfindungen stürzend, bis sie zitternd und keuchend erwachte.
Sie mochte nicht an den Traum denken, schob die Gedanken beiseite, gerade weil er ihr ein bisher nie so intensiv gehegtes Lustgefühl vermittelte. Sie wollte keine solche Empfindung, nicht auf ihren Körper bezogen. Im Blutrausch, dem sie sich nun bereits zum zweiten Mal hingegeben hatte, war es anders. Da sie glaubte, andere Menschen seien in jeder Beziehung besser gestellt, entlud sich gebündelte Wut, unbändiger Hass, der seinen Tribut forderte. Diese Momente waren ekstatische Energieflüsse, wie wenn Protonen aufeinanderprallten und explodierten, das Universum sich neu formierte. Nachher fühlte sie sich jeweils erschöpft, jedoch durchdrungen von einem unsagbaren Gefühl seelischer Ausgeglichenheit, wie wenn die dunklen Mächte der Aggression und die damit verbundenen Abstürze in ihr endgültig überwunden wären.

Sie erinnerte sich an ihre erste Messerattacke, als sie vor längerer Zeit in einem Buchantiquariat die hochbetagte Ladeninhaberin niedergestochen hatte. Diese erwischte sie, als sie ein Buch klauen wollte. Deren keifendes Geschrei brachte sie derart in Rage, dass sie ihr Messer zückte und zustach. Dies war ihr selbst überraschend, doch die Befriedigung, welche sie hernach beherrschte, gaben ihr ein Gefühl der Entlastung von ihren seelischen Qualen sowie ihrer Bedeutungslosigkeit als Person. Sie hatte Macht, war anderen Überlegen.
Svenja plagte seit damals noch verstärkter die Angst, erwischt und eingesperrt zu werden. Doch die Polizei fand nicht heraus, wer die Täterin war, obwohl die Alte überlebt hatte.

Das Klacken der hohen Absätze war es gestern gewesen, das sie zur Raserei brachte, ihre Aggression ins unerträgliche aufstachelte. Sie beabsichtigte unter einem Auto einzuheizen, um durch eine Feuerbrunst etwas Entlastung ihrer nervlichen Anspannung zu finden. Bis anhin tat sie solches nur im Schutze der Nacht. Vor allem Inhalte von Abfallcontainern eigneten sich für ein Feuerchen, meist standen sie schnell in Vollbrand und das Risiko dabei erwischt zu werden, war äusserst gering. Gestern Vormittag, ihre Unruhe steigerte sich quälend, musste etwas passieren. Als sie am Parkhaus vorbeikam, fasste sie spontan den Entschluss. Die Polizeiwache auf der gegenüberliegenden Strassenseite hemmte sie nicht, gab ihr überraschend eher noch einen zusätzlichen Kick. Sie hatte sich eben für einen Wagen entschieden, das Zeitungspapier, welches sie aus einem Abfalleimer fischte, war noch nicht zerknüllt, als sie das blöde Klacken hörte. Immer lauter, näher kommend, klack, klack, klack, klack … In nächster Nähe verstummte es. Svenja hatte vorsichtig hinter dem Auto hervorgeblickt, die junge Frau stand am Wagen nebenan, wie auf dem Präsentierteller. Die Aggression war in ihr da schon explosiv gestaut. Was fällt dem blöden Modepüppchen ein, genau hierher zu kommen und mich zu stören. Unbemerkt war sie um den andern Wagen herumgegangen und auf sie zugetreten. Eine dieser stinkreichen Frauen, die an der Bahnhofstrasse einkaufen. Dann noch dieser dicke Bauch. Wie vorweisend, seht her, ich bin gebärfähig. Mit der rechten Hand hielt sie das Sprungmesser in der Jackentasche umklammert, einen Finger auf dem Druckknopf. Diese angemalte Larve, da sind viel mehr als nur die Wimpern nicht echt. Instinktiv erinnerte sie sich an ihre erste Bluttat, die Alte hatte geschrien als stecke sie am Spiess. Sie blickte auf den Halsansatz in der offenen Bluse. Hier muss ich ansetzen, direkt über dem obersten Knochen, damit sie nicht schreien kann. Als die Frau den Kopf leicht senkte, wusste Svenja, jetzt muss es sein.
Das Gefühl des Eindringens der Klinge gab ihr einen heftigen Schub, der Blutrausch hatte sie voll im Griff. Dies war unendlich erfüllender, als nur ein Feuerchen auflodern zu lassen. Die Schwangere begriff überhaupt nicht, was ihr geschah, versuchte nach Luft zu schnappen. Ein zu komisches Bild. Erst als ich ihren Bauch malträtierte, merkte sie wohl, dass sie dran ist, wie ein kurzes Aufblitzen in ihren Augen und der zum tonlosen Schrei geöffnete Mund zeigten. «Du dreckige Schlampe, du hast nichts Besseres verdient», doch diese sackte schon am Auto angelehnt zusammen, nicht mehr fähig abzuwehren oder sich festzuhalten. Der Tritt mit dem Schuh nutzte nichts, die war weggetreten. «Verdammt nochmal, du blöde Kuh, etwas mehr Leiden, hättest du schon zeigen können». Fluchend putzte sie das Messer am Mantel der am Boden liegenden leblosen Frau ab und entnahm der Handtasche das Bargeld.
Obwohl am späten Vormittag ein Kommen und Gehen im mehrstöckigen und komplexen Gebäude war, gelang es ihr, unbemerkt das Parkhaus Urania am oberen Ausgang zu verlassen. Als sie den steilen Weg zum Lindenhof hinaufstieg, um den Hügel zu überqueren und dahinter in den kleinen Gassen abzutauchen, blickte sie intuitiv zurück, hinüber zu den Amtshäusern, in der auch die Polizeihauptwache untergebracht war. Ihr Blick war hämisch. Sozusagen vor deren Tür habe ich sie ihnen serviert.
In ihrer Erinnerung spielte sie nochmals jeden Stich durch, den sie ausführte. Überwältigt von den Empfindungen daran erfasste sie Taumel, sie musste sich festhalten und hinsetzen.
Langsam erholte sie sich wieder, ihr Atem wurde gleichmässiger. Die aufgelebte Erinnerung war intensiv. Wenn dieses unerträgliche Spannungsgefühl auftritt, werde ich mich an diesen Akt erinnern, mich ableitend ergötzen. Dies wirkt viel besser, als die blöden Tabletten.
Schleichend, wie ein Dämon, trat die Angst auf, sie könnte erwischt werden, der hässliche Widerpart mit dem sie immer zu kämpfen hatte. Nervös nestelte sie in der Tischschublade, eine Pille des Beruhigungsmittels aus der Folie drückend.
Wenn sie eine Spur hätten, wären sie längst aufgetaucht. Die können nicht wissen, wer ich bin. Es war nicht geplant, … aber mir ein unerhörter Glücksmoment.
Die Zweifel der Angst erzeugten ihr einen Moment des Zitterns, doch gewann sie wieder die Kontrolle über sich, so wie sie es auch immer schaffte, die Albträume zu vergessen. Sie hasste ihre Träume genauso wie ihr Leben, in dem sie sich nie glücklich gefühlt hatte – ausser, wenn sie solche ekstatischen Erfahrungen machte.

Im „Karl dem Grossen“, einem Restaurant des karitativen Frauenvereins, setzte Svenja sich an einen Tisch. Hier trafen sich vorwiegend sozial Unterprivilegierte, die Preise waren günstig und man konnte stundenlang vor einer Tasse Kaffee verweilen, ohne hinausgeworfen zu werden. Die Boulevardzeitung «Blick» hatte sie von unterwegs mitgebracht. Der Text auf dem Plakataushang war ihr reisserisch entgegengesprungen: «Bestialischer Mord an Schwangerer im Parkhaus.» Sie hatte vermieden, bereits auf der Strasse den Artikel zu lesen, da sie befürchtete dadurch aufzufallen.
Schnell sog sie nun die Sätze ein, erfuhr, dass die Sechsundzwanzigjährige in einigen Tagen zu heiraten beabsichtigt hatte. Geschieht ihr recht, diesem Modepüppchen. Die Nutte hatte wohl einem reichen Mann das Kind untergejubelt, um sich künftig ein sorgenfreies Leben zu machen, so wie die aussah. Ihre Wut auf die Frau war wieder gegenwärtig. Sie musste sich zusammennehmen, in diesem Zustand nicht laut zu sprechen, wie sie es manchmal tat, wenn sie sich stark erregte.
Die Zeitung berichtete von einem schrecklichen Exzess, einem Blutrausch, in dem sich der Täter befunden haben musste. Der Beschreibung nach hatten die Journalisten die Tote selbst nicht gesehen, sondern stützten sich auf die Pressekonferenz der Polizei und Aussagen jener Person, die die Tote fand. Im Bericht war dies derart aufgebauscht, dass sie staunte, mit welcher Präzision, kaltblütig und grausam sie dabei vorgegangen sein sollte. Doch fand sie Gefallen an dieser noch fürchterlicheren Darstellung, als ihr es selbst bewusst geworden war. Mit den Empfindungen, die den Täter gemäss der Zeitung angeblich getrieben haben mussten, eine Schwangere abzustechen, konnte sie wenig anfangen. Die haben ja keine Ahnung, diese perversen Schweine. Gierig las sie weiter.
Es war meine Tat! Ich habe es in die Schlagzeilen der Medien geschafft. Ich bin berühmt! Sie ergötzte sich an dieser Vorstellung, lachte sogar laut auf. Erschrocken sah sie sich um, ob jemand aufmerksam geworden war, doch die andern Gäste sassen in Gespräche vertieft oder in sich gekehrt. Niemand beachtete sie. Man kannte, aber mied sie, da sie für ihre spontan auftretende Aggressivität und Ausfälligkeit bekannt war. Beruhigt las sie weiter, manchmal tief durchatmend, als ob sie eine schwere Arbeit leistete.
Man geht von einem Täter aus, niemand kommt auf die Idee, dass eine Frau genauso mutig und zupackend handeln kann. Den erneuten Reiz laut zu lachen, konnte sie sich gerade noch verkneifen. Sie fühlte sich zutiefst befriedigt. Wenn man mich nicht gesehen hat, niemand eine Beschreibung abgeben kann, wird man nie mehr auf mich kommen. Dieser Coup war genial und nicht zu vergleichen mit der Befriedigung, wenn ich einen betrunkenen Nachtschwärmer zusammenschlug und ausnahm. Die verfügten ohnehin meist nur noch über wenig Bargeld.
Ihre Angst, die stark und an den Nerven zerrend vorhanden war, als sie von Zuhause wegging, wurde durch die aufgetretene Anerkennung überdeckt, versetzte sie in euphorische Stimmung. Dies war der Kick, den ich brauchte, um in diesem verdammten Leben endlich frei atmen zu können. Dieses Gefühl wird es mir erlauben, mich künftig vollwertig zu erleben, mehr zu sein als die meisten andern. Ihre Hoffnung klammerte sich an diese Überheblichkeit, die ihr Inneres erfüllte.

Es erwies sich als Illusion, dass sie nun Ruhe finden könnte. Bereits nach einigen Wochen zeigte sich die Unruhe wieder stark, auf die sie mit aggressiven Ausbrüchen reagierte. Dumm war sie nicht, sie wusste, dass sie bis anhin mehr Glück als Verstand hatte, nie erwischt zu werden. Ich werde künftig noch vorsichtiger sein und mich nicht auf Situationen einlassen, bei denen mich jemand identifizieren oder festhalten kann.
Der Albtraum der letzten Nacht war heftig ausgefallen und knüpfte an jene Zeit an, bevor diese qualvolle Unrast und die darauf bauenden Aggressionen voll durchgebrochen waren.
Resigniert betrat sie das Klassenzimmer, sie war zu spät dran. Mit gesenktem Kopf schaute sie vorsichtig zum Lehrer hin, in seinem Gesicht zog eine Zornesröte auf. «Ach, bequemst du dich auch hierher. Du hast es ja nicht nötig, da du so gescheit bist. Oder was war es diesmal? Musstest du noch die Kühe auf die Weide treiben oder die Schweine füttern?» Die andern Schüler machten feixende Gesichter, es war für sie ein Gaudi, wenn der Lehrer einen Grund hatte, Svenja zu rügen.
Svenja wollte erklären, doch der Lehrer unterbrach sie barsch. «Sei still und setz dich, ich will deine faule Ausrede nicht hören.»
In der Pause stand Svenja wie gewohnt allein herum, die andern Jugendlichen mieden sie, hatten sie nie gemocht und behandelten sie als Bauerntölpel. Schon von ihrer Kleidung hob sie sich ab, Modisches hatte sie nie anzuziehen. Da flog ein Ball mit voller Wucht in ihr Gesicht, sodass sie stürzte. Die Jugendlichen johlten vor Freude, einige bespuckten sie, wie sie da am Boden lag mit Tränen in den Augen, das Gesicht abtastend. Ihr Gesicht begann aufzuschwellen, es musste unförmig sein, nur undeutlich nahm sie aus den verquollenen Augen die Umgebung war. Sie war umringt von höhnischen Gesichtern, die die Zähne bleckten und über sie lachten. «So wie du aussiehst, bist du gar kein Mädchen, warst auch nie eines, du gehörst in einen Käfig», schrie ihr Rosalie entgegen. Sie war die Schönste unter allen Mädchen, eine wohlgeformte junge Frau, kam aus gutem Haus und war bei allen beliebt. Die andern Jugendlichen nahmen Rosalies Schmähruf auf und riefen «du bist gar kein Mädchen, du bist gar kein Mädchen, geh zurück in deinen Käfig.» Ein Filmriss brach die grässliche Szene ab und sie erwachte. Unwillkürlich griff sie in ihr Gesicht, das sich völlig normal anfühlte, und tastete ihren Körper ab.
Sie stöhnte. Warum musste ich in diesem Körper geboren werden, warum ich?

Bei einem nächtlichen Streifzug, sie plante eine kleine Brandstiftung, an der sie ihre Aggression abbauen könnte, wurde sie von einem Mann angegangen, einem Ausländer, der gebrochen Deutsch sprach. Er hielt sie wohl für eine vom Drogenstrich und bot ihr unverblümt dreissig Franken für einen Fick ohne Kondom. Seine Worte lähmten ihre Anspannung, die nach einem Ausbruch verlangte. Ihre Gedanken jagten sich. Dieser alte, schleimige Typ, mich als Hure zu behandeln. Der wird dranglauben müssen. Sie mochte ihre Weiblichkeit selbst nicht, und dass ein Mann nach ihr gierte, war ihr ein Brechmittel. Ihren Hass der dabei aufkam fokussierte sie ganz auf ihn, ging aber nach einem kurzen Nicken wortlos mit. Im Gebüsch einer Parkanlage, seine Hose hatte er heruntergelassen, griff er nach ihrem Körper. Überrascht, dass sich ihre Brüste knabenhaft flach anfühlten, machte er eine Bemerkung. Da explodierte sie. Hemmungslos stach sie zu. Der Mann begann gellend zu schreien und wehrte sich heftig mit Faustschlägen, weshalb sie die Flucht ergriff. Beinah hätte sie dabei ihr Messer verloren.

Verflucht, verflucht, verflucht. Wieso habe ich mich auf dieses Ausländerschwein eingelassen und ihm nicht einfach eine geknallt. Es war sie einfach überkommen, er bot sich ihr als Opfer an. Ich hätte ihm zur Krönung den Schwanz abgeschnitten und ihm in den Mund gesteckt, dieser widerlich, geilen Sau.
Immer wieder schaute sie sich um, ob sie nicht verfolgt wurde, dabei war sie bereits in einem andern Stadtteil. Die Passanten jedoch, die hier unterwegs waren, schenkten ihr keine besondere Beachtung.

Deprimiert sass sie auf dem Küchenschemel, die Angst, man könnte ihr auf die Spur kommen, war allgegenwärtig. Kürzlich hatte sie gelesen, dass in der DNA-Analyse grosse Fortschritte erzielt wurden, die erlaubten, auch alte Fälle zu klären. Hierzu reichten auch geringfügige Spuren aus, was das auch immer bedeuten mochte. Ich blöde Kuh. Wäre er mir doch nur nicht in die Quere gekommen, so ist er selbst schuld. Künftig muss ich auf Menschenabschlachtungen verzichten, es ist zu gefährlich. Dabei ist es das Wirksamste, es besänftigt meine ständigen Qualen. … Falls ich es gar nicht mehr aushalte, muss halt mal ein Tier dranglauben, wobei dies nie das gleiche sein kann. Besser ist vielleicht doch, mich an die Feuerchen zu halten, es auflodern lassen. Der Anblick dieser zerstörerischen Kraft half mir bis anhin ja meistens, die Krise einigermassen durchzustehen. Erwischen lasse ich mich nicht. Nie! Da müssen die mich schon töten, aber vorher nehme ich dann ein paar dieser Dreckskerle mit.

Ab und zu loderte ein Feuer auf, reiner Vandalismus, ohne dass Menschenleben gefährdet wurden. Mit dieser Ersatzhandlung konnte sie ihre Befindlichkeit über Jahre steuern, bis ihre inneren Qualen die zerstörerischen Zwänge massiv intensivierten, die Anzeichen, dass eine gewaltige Eruption sich anbahnt.

Sie schlich wie ein geprügelter Hund der Seepromenade entlang, das Leiden sprach aus ihrem Gesicht. Der lieblose, graue Tag entsprach ganz ihrem seelischen Tief. Ihr Blick fiel auf die Schwäne, welche im Uferbereich schwammen und aufmerksam zu vorübergehenden Passanten sahen, ob ihnen jemand Brotstücke oder Salatblätter zuwerfen würde. Allzu gerne hätte sie einem von diesen den Hals durchgeschnitten, doch ab und zu begegneten ihr Passanten, die ihre Hunde ausführten. Ihre Gedanken kehrten zurück an die Tat im Parkhaus, damals vor sechs Jahren fühlte sie sich lange Zeit befreit. Schon sechs Jahre! In ihrem Kopf hämmerte die Erinnerung, ein Lustempfinden gierte in ihr, das Messer in der Jackentasche fest umklammernd. Ich brauche es, ich brauche es ganz dringend … Sie hätte Schreien mögen vor innerem Verlangen und Schmerz, stattdessen schaute sie nur böse auf die vereinzelten Personen, mehrheitlich Frauen, die ihr begegneten. Am liebsten würde ich einer von denen das Messer in den Bauch rammen, ein Stück Fleisch herausschneiden und es ihrem Hund zum Frass vorwerfen.
In den vergangenen Jahren hatte sie die blutdürstige Erinnerung an den Babybauch mehrfach belebt, dieses Hochgefühl in seiner vollen Entfaltung ausgekostet, doch es verflachte zunehmend, obwohl sie noch immer jedes Detail abrufen konnte. Das Verlangen, wieder einmal bei einem Menschen zuzustechen, seinen Schmerz zu spüren, ihn abserbeln zu sehen, bewegte vermehrt ihre Fantasie. Einen sanften Kick hatte sie sich schon bei nächtlichen Streifzügen in Parkanlagen geholt, wo sie nach potentiellen Opfern Ausschau hielt. Es waren jedoch meist Schwule und Strichjungen, die dort aufkreuzten, und die waren ihr zu gefährlich, da sie bewaffnet sein konnten. So blieb es bei fantasierten Attacken oder auch verbalen Ausfälligkeiten.
Stark deprimiert hob sie einen Stein auf, um ihn gegen die Schwäne an Ufernähe zu werfen, als sie in einiger Entfernung eine Frau sah, die auf ein Tor des Chinagartens zuschritt. Ihr Denken blockierte einen Moment, ihre Hand wurde schlaff und der Stein fiel zu Boden. Sie sah sich um. Nur vereinzelt konnte sie weit entfernt Passanten ausmachen, die jedoch zielstrebig in andere Richtungen gingen. Die Frau zögerte nicht, trat ein.
Das ist der ideale Ort, das Schicksal hat mich erhört! Die über zwei Meter hohe Mauer, welche die Parkanlage umgibt, gewährt mir den Schutz durch Unsichtbarkeit. Ein angenehmer Schauer durchwallte ihren Körper. Hoffentlich ist sonst niemand dort, ausser ihr. Vom bestialischen Instinkt geleitet schritt sie, sich ordentlich an den Weg haltend, auf die Anlage zu. Der Trieb in ihr hatte die Witterung des Wildes aufgenommen, keine Ablenkung zulassend.

Die Türe öffnete sich schwungvoll. Kurz erschreckte sie, es könnte Aufmerksamkeit erwecken. Doch anscheinend war sie mit der andern Frau allein im Gelände. Sie sah diese eben auf das kleine, offene pagodenartige Gebäude hinter dem Teich zugehen, das von hier halbwegs durch Gebüsche verdeckt war.
Svenja nahm erst den Weg zum grossen Gebäude, sich überzeugend, dass dort niemand drin war. Die Halle war leer. Niemand, der an diesem düsteren Vormittag hier lauschige Ruhe suchte. Ihre Anspannung wuchs, die Gewissheit, mit der Frau allein zu sein, schaltete jedes Gefühl von Angst aus. Langsam schlenderte sie um den Teich, dessen Wasserfläche ruhig und dunkel dalag.
Da, die Frau sass auf einer Bank mit Blick auf das Wasser, sie musste schon älter sein, grau melierte Haare aber modisch-leger gekleidet. Völlig unpassend für ihr Alter. Eine dieser emanzipierten Zicken, die sich für was Besseres halten.
«Es ist doch immer wieder schön in diesem kleinen Park zu verweilen», sagte die Frau, welche sich ihr zugewandt hatte, als sie ihr Kommen bemerkte. «Ich komme täglich einmal hierher, seit es ihn gibt. Es dünkt mich, der Ort sei mir bestimmt.»
Svenja schwieg, in ihr steigerte sich das Gefühl der Aggression immer stärker. Die Spannung fühlte sich schon zum Bersten an, welche sie nur in einem Blutrausch wirklich befriedigen könnte.
«Kommen Sie auch öfters hierher?», die Frau schaute Svenja erwartungsvoll lächelnd an.
«Manchmal», ihre Stimme erschien Svenja selbst unnatürlich rau, die Freundlichkeit der Frau irritierte sie, war ihr unangenehm. «Heute war es mir ein Verlangen!»
«Ja, so geht es mir auch. Diese Ruhe, die es hier ausstrahlt, gibt mir Kraft und Zufriedenheit. Ich weiss nicht, wie die Chinesen es fertigbringen, eine solche Harmonie einzig mit der Gestaltung eines Gartens zu erzeugen. Aber es wirkt.»
Svenja trat einen Schritt auf die Frau zu, ihr unverwandt ins Gesicht schauend. Diese selig grinsende Fratze, als ob sie alles Glück dieser Erde besässe. Mit schnellem Griff zog sie das Messer aus der Jackentasche, drückte auf den Knopf, der die Klinge hervorfederte, und stiess mit aller Kraft zu. Die Frau schaute verwundert, schwankte vom Schlag, den sie verspürt hatte, und schrie auf, was Svenja in rasende Wut versetzte. Immer wieder stiess sie zu, blindlings auf die Frau ein, als ob sie einen winselnden Mehlsack vor sich hätte. Langsam brach die Frau, die ihren Körper beim ersten Stich noch voll aufgerichtet hatte, um sich zu wehren, blutüberströmt zusammen. Svenja war nun völlig von Sinnen, immer wieder stiess sie das Messer in den am Boden liegenden, bereits toten Körper, ihr euphorisches Gefühl bis zum letzten Stoss auskostend. Durch den gewaltigen Kraftaufwand erschöpft, sank sie neben der Toten zu Boden, ungeachtet, dass sich da bereits eine Blutlache ausgebreitet hatte. Sie lag da, irgendwie verwundert, dass die Frau sich nicht mehr bewegte und schaute auf ihr Opfer. Das Gefühl einer Schwerelosigkeit vereinnahmte sie, ein inneres Jubilieren brach durch, der Druck, der sie gequält hatte, war völlig einer unendlichen Weite gewichen.

Hundegebell drang an ihr Ohr, was sie umgehend in Alarmstimmung versetzte. Es kam von draussen, jenseits der Mauer, doch vergegenwärtigte es ihr die Situation. Schnell sprang sie auf, das blutige Messer griffbereit in die Tasche steckend, sprang sie hinaus in den Garten. Kein Mensch war zu sehen, Hunde durften nicht in den Garten, das Gebell entfernte sich nun auch. Die begangene Tat in ihrem ganzen Ausmass wurde ihr bewusst. Ich habe es getan, wieder getan, endlich, endlich! Sie lachte wie irre. Das überflutende Gefühl in ihr war noch intensiver als damals. Dieses befreiende Gefühl, welches ich beim Eindringen der Klinge verspürte, kein Drogenrausch könnte es annähernd simulieren. Ihr Atem ging schwer, sie fühlte sich überwältigt von den auf sie einprasselnden Empfindungen, ein erneutes Lachen erfasste und schüttelte sie.
In der Ferne hörte sie eine Sirene. Es musste von der Strasse her kommen, gedämpft, aber unüberhörbar. Wie ein böser Dämon tauchte in ihr die Angst auf. Die Angst des wilden Tieres, dem die Jäger nachstellten, wenn sich das Blatt wendete. Verstecken konnte man sich hier nirgends im Garten. Sie zückte das Messer, die Klinge sprang hervor, sie würde kämpfen. Die Angst vermischte sich mit Aggression, die sie in sich selbst schürte, Hass gegen diese Widersacher.
Die Sirene eines Polizei- oder eines Krankenwagens, was es auch war, wurde leiser, entfernte sich. Die Angst in ihr bewahrte aber ihren Raum. Sie empfand es bedrohlich, wie die Welt sich wieder einmal gegen sie wandte. Verdammt, verdammt noch mal, warum darf ich diesen Moment nicht in Ruhe auskosten. Ihr kamen die Tränen des Selbstmitleids, sie war das Opfer, das man immer wieder drangsalierte. Die Welt ist gegen mich, wie sie es immer war.
Svenja bemerkte ihre blutigen Hände, dann ihre Kleider, sie war gezeichnet. Ein kurzer Moment der Panik wechselte schnell in Kalkül, sie musste sich waschen. Am Ufer des Teichs wusch sie sich erst die Hände, dann begann sie die Kleider, so gut wie möglich, mit Wasser abzuspülen. Auch im Gesicht und an den Haaren klebte Blut, bemerkte sie, als sie sich über ihre struppige Frisur strich. Schnell tauchte sie noch den Kopf ins Wasser, obwohl es kühl war. Mit dem Innenteil der Jacke trocknete sie sich ab. Ich muss schnellstens abhauen, bevor hier jemand auftaucht. Ihr Instinkt funktionierte wieder einwandfrei, wie eine Bestie die sich reaktiv den Gefahren der Umwelt stellt.
Noch einmal trat sie an den Pavillon heran, schaute auf das entseelte Wesen, welches in der Blutlache lag, den Anblick sich genussvoll und tief einprägend, ehe sie mit schnellen Schritten auf das Tor zuschritt. Erst einen Spalt öffnend, spähte sie hinaus. In näherer Umgebung war niemand zu sehen, schnell schlüpfte sie hinaus und schlich an der Mauer entlang um das Gelände herum und entfernte sich von der rückwärtigen Seite über die Wiese und zwischen Gebüschen durch zur Bellerivestrasse hin.
Sie vermeinte, die Blicke der Passanten zu fühlen, denen sie in den Quartierstrassen begegnete. Es war ihr klar, dass die fleckige und feuchte Kleidung auffiel, doch niemand sprach sie an. Auf das Äussere hatte sie nie Wert gelegt, doch jetzt erweckte sie gar den Eindruck, als ob sie im Freien nächtige. Die Passanten wichen ihr aus, anscheinend froh, wenn sie nicht von ihr um Geld angegangen wurden.

Am frühen Morgen sah sie durch das Fenster, dass der Zeitungsbote ihr Haus bediente. Schnell huschte sie die Treppen hinab, einem Nachbarn die Zeitung aus dem Briefkasten klauend. Leider war es nicht der «Blick», nur die konservative «Neue Zürcher Zeitung», doch auch in dieser prangte die «Bestialische Tat im Chinagarten» auf der Titelseite. Mit dreissig Messerstichen sei die Frau abgeschlachtet worden. Dreissig! Die Zahl führte ihr die Szene des immer wieder Zustossens vor Augen, die Empfindung des Eindringens der Klinge in den Körper, sie berauschte sich daran. Dann begann sie weiter zu lesen. Der Bericht war nüchtern, aber schonungslos gehalten, enthielt jedoch keinerlei Angaben darüber, ob die Polizei über Indizien verfügte. Klar hingegen war der Zeugenaufruf, man war der Meinung, der Täter habe nicht unbemerkt entkommen können.

Seit drei Tagen hatte sich Svenja nicht mehr aus dem Haus getraut. Es war etwas eingetreten, das sie so nicht erwartete, nicht nach diesem vollendeten Akt. Sie litt unter starken Stimmungsschwankungen, die die Pole zwischen euphorischer Ausgelassenheit und panischer Angst völlig ausreizten. Manisch achtete sie zeitweise auf alle Geräusche, die von der Strasse oder aus dem Haus zu hören waren, stürzte ans Fenster, hinabblickend, was sich da tat. Dann wieder verkroch sie sich ins Bett, die Decke über den Kopf und sich wie ein Fötus zusammenrollend. Handkehrum schwelgte sie wieder in der Erinnerung des Blutbades, versuchte sich jeden einzelnen Stich detailliert in Erinnerung zu rufen, das Entsetzen im Gesicht der Frau auskostend. Dieses Gefühl … sie fand selbst nicht die richtigen Worte dafür, liess sie genüsslich auf sich einwirken, ab und zu hell auflachend. Die Hochstimmung gab ihr mehrfach den Antrieb, das Haus zu verlassen, doch spätestens an der Haustüre unten kehrte sie jeweils wieder um, da die Angst sich wie ein schrilles Alarmsignal einschaltete. Die Ungewissheit, ob eine Spur zu ihr führen könnte, wucherte wie ein böses im Hintergrund lauerndes Untier in ihr. Es blieb ihr nur, in der kleinen Wohnung herumzutigern, wie eine Gefangene in einer Zelle. Dieser Zustand schürte ihre Unruhe enorm, die Phasen ihrer Befindlichkeit schwankten nervenaufreibend.

Der Teich des Chinagartens lag friedlich da, kein Kräuseln des Wassers durch einen Windhauch. Keine aufsteigende Luftblase, die von Fischen ausging. Stille, die den Geist des Ortes bestimmte.
Doch da, das Platschen eines aufschlagenden Tropfens, noch einer, alsbald wie ein kleiner Wasserfall, der einer Quelle im Pavillon zu entspringen schien. Die Farbe des Teichs änderte sich zunehmend, das Grünliche wandelte sich, nun blutrot leuchtend wie Lack. Ein beschauliches Bild, bis ein grollendes Untier sich aus dem Wasser erhob, begleitet von einem Beben und fürchterlichem Krach.
Svenja schreckte aus dem Traum auf, grelles Licht und Nebelschwaden umgaben sie, reaktionsschnell hatte sie das Messer in der Hand, welches unter dem Kissen lag. Da traf sie ein Schlag mit voller Wucht, der sie lähmte. Durch die brennenden und tränenden Augen nahm sie eine schwarze Maske unter Plexiglas wahr, aus der sich nur hart blickende Augen hervorhoben. Noch konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, wähnte sich in einem Albtraum, als sie aus dem Bett gerissen und zu Boden gedrückt wurde. Kühles Metall von Handschellen fixierten ihre Arme auf dem Rücken. Der Tobsuchtsanfall, in den sie verfiel, nutzte ihr nichts, sie war ein Spielball in den nicht zimperlichen Händen der vermummten Gestalten, ihnen wehrlos ausgeliefert. Da ihr Widerstand anhielt, sie sich nicht beruhigen und weder stehen noch gehen wollte, schleifte man sie erst und trug sie dann unter den Achselhöhlen gepackt die Treppe herunter.
Die Zelle im Kastenwagen war eng und kalt, nur eine schwache Notleuchte warf ein schummriges Licht durch das Gitternetz auf sie. Es dämmerte ihr, dass der gegenwärtige Horror die Wirklichkeit war, es kein Erwachen aus diesem Albtraum gab. Wie ein Häufchen Elend, einzig mit dem Nachthemd bekleidet, krümmte sie sich zusammen, die Knie an den Leib angezogen, das Gesicht darauf pressend. Die Fötusse aus dem Albtraum vor sechs Jahren kamen ihr in den Sinn, sie war nun eines von jenen, dem schrecklichen Geschehen wehrlos ausgeliefert.

 

Hallo Salem

Das ist mir jetzt äusserst peinlich, dass mir dein werter Kommentar, während voller zehn Tage, aus unerklärlichen Gründen durch die Latten gegangen war.
Altersbedingt herabhängende Hautlappen, die zeitweilig meine Augen bedecken, konnte ich nicht feststellen. Ich habe mich eben mit einem Bild von George Clooney vergleichend vor den Spiegel gestellt. Die Abweichungen halten sich in engen Grenzen. So kann ich es nur einem vorübergehenden Defizit in der Wahrnehmung zuschreiben, das sich meiner bemächtigte. Ich merke, der Horror nagt an mir.

Zunächst wollte ich die fehlende Vorgeschichte bezüglich ihrer Intention bemängeln, aber nach einiger Zeit nahm ich ihr Verhalten einfach an.

Das finde ich schön, dass du als Leser die Geduld hast, eine Darstellung einfach mal als gegeben anzunehmen und zu schauen, ob das fehlende Teil im Gesamtkontext sich dir doch noch erschliesst. Inzwischen habe ich noch einen Albtraum eingefügt, der verschlüsselt etwas über ihre körperliche und seelische Entwicklung während des Jugendalters aussagt. Dennoch denke ich damit, letztlich einen klaren Hinweis auf die fiktiv möglichen Auslöser ihrer Befindlichkeit geliefert zu haben.

Ich hoffte (besonders im Garten mit der alten Frau), dass sie sich irgendwie zum Guten wenden lässt, aber das hätte ich dir dann als unrealistisch angekreidet.

Ja, da liess mir die Realität überhaupt keinen Spielraum, dabei wäre der Ort doch prädestiniert gewesen, eine andere Wendung zu nehmen. He, he, dafür entging ich dem Kreidegriffel.

Faszinierend die Kälte, die du herüberbringst.

Ah, da bin ich froh, dass dies doch gelungen ist. Ich war mir nicht klar, ob ich es schaffen würde, diese mir erschreckenden Momente derart einzufangen.

Ich habe mir zwischendurch immer wieder etwas mehr Äußerlichkeiten gewünscht, um die Frau besser kennen- und verstehen zu lernen. Aber ich denke auch, dass gerade das Fehlen des äußeren Lebens das Grausame ausmacht.

Ich hoffte, die Konzentration auf ihre seelische Situation würde diesen Aspekt für den Leser es fühlbar werden lassen.

Dieser Sprung war für mich unendlich erschreckend. Du springst von einer harmlosen Situation ohne Vorwarnung in das Grauen! Ganz dickes Kompliment!

Oh, danke sehr. Ich hatte mich da in die Rolle des Opfers versetzt, ihr Empfinden nachvollziehend, was da unerwartet geschieht.

Fazit: Auch nicht explizit dargestelltes Grauen kann äußerst grauenvoll sein.

Deine Meinung ehrt mich. Da ich mich schwer tue, das Grauen in seinen Auswüchsen klar umrissen zu zeichnen, war es mir ein Experiment, ob dies in einer solchen Form gangbar sein kann.

Für deine Auseinandersetzung mit der Geschichte und die gezeigte Wertschätzung derselben, danke ich dir herzlich. Ich freue mich darüber sehr.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

hallo anakreon,

Toll von dir, dich mal völlig neu auszuprobieren!! Positiv fand ich, dass das Psychogramm der Frau sehr weit ausgelotet ist. Ein wenig erinnerte es mich an einen Roman, den ich vor Jahren von einer skandinavischen Krimiautorin gelesen hatte. Die ungewohnte Härte ergänzt dein sonstiges literarisches Programm ziemlich gut. Stilistisch gefällt mir manches gut, z.B. wie du ihre Wut beschreibst, die Szenerien sind vorstellbar und interessant. Manches ist mir zu gestelzt, da würde ich mich mothman und asterix anschließen. Das Thema Befriedigung durch Morden finde ich interessant, passt aber in dieser epischen Breite nicht zu dieser Geschichte. Es gibt einen französischen Film aus den achtzigern, der dies Thema schon einmal sehr interessant behandelt hat. Auch den Film "Töte mich". Da gibt es schon große Vergleichsmaßstäbe. Aber warum sollte man sich davon abhalten, alles hat es schon gegeben...
Das Ende war für mich etwas unklar. Den Ringschluss, die Wiederaufnahme des Fötenthemas hat mir formal gefallen.

hier sind noch weitere gedanken zu deiner geschichte:

Sie lächelte und reichte die Einkäufe in die dargebotene Hand. Es war für sie nun einfacher, nach dem Schlüssel zu suchen.
Die am Halsansatz eindringende Stahlklinge bewirkte, dass Stephanie keinen Laut von sich geben konnte. Schmerz und Schock blockierten ihr Denken. Als ihr die Frau mit heftigen Stössen das Messer in den gewölbten Bauch rammte, begriff Stephanie, was geschah, und ein entsetzlicher Gedanke an ihr Kind durchdrang sie. Dies verkraftete sie nicht mehr und verlor das Bewusstsein.
das messer am hals soll ja überraschend kommen, aber hier kommt es absurd (und damit unglaubwürdig) schnell. vielleicht baust du eine leerzeile ein, um die vorangeschrittene zeit zu kennzeichnen oder baust noch einen kleinen übergang ein.
Fötusse
>Föten
Doch die Polizei fand nicht heraus, wer die Täterin war, obwohl die Alte überlebte.
> überlebt hatte.
Schnell sog sie nun die Sätze ein, erfuhr, dass die Sechsundzwanzigjährige in einigen Tagen zu heiraten beabsichtigte.
> beabsichtigt hatte. Sie ist ja schon tot.

schöne grüße petdays

 

Hallo petdays

Schön, dass die dargebotene Hand dich als Leserin fassen und in den Stoff hineinziehen konnte.

Die ungewohnte Härte ergänzt dein sonstiges literarisches Programm ziemlich gut.

Ein zaghafter Versuch, auch Hardcore-Leser literarisch mal befriedigen zu können, wobei ich bemüht war, es diesen nicht als Kulttext schmackhaft zu machen. :shy:

Das Thema Befriedigung durch Morden finde ich interessant, passt aber in dieser epischen Breite nicht zu dieser Geschichte.

Es war in diesem Fall natürlich schwierig abzuschätzen, wie Leser die Befindlichkeit und Handlungen der Protagonistin annehmen werden, da ihre Taten nicht klassischen Lustmorden entsprechen. Ich verglich ihren Fall mit einer forensischen Studie des kantonalzürcherischen Amtes für Justizvollzug über schwere Gewalttaten von Frauen, die 2009 veröffentlicht wurde und 16 Täterinnenprofile aufzeigte. Ein Fazit daraus ist: „Tendenziell verletzen die Frauen ihre Opfer schwerer als die Männer – und die Opfer sind meist männlichen Geschlechts.“ Sie fällt aber insgesamt weitgehend aus dem untersuchten Rahmen mit Ausnahme der Brandstiftungen. Dass sie aus ihren Taten einen beschwichtigenden Gewinn zog, ist ein elementarer Teil, ohne den ihre Handlungen zu gewöhnlichen, sadistisch motivierten herabstilisiert wären. Dies wäre der Sache nicht gerecht geworden, hätte aber vielleicht manchen Lesern einen rasanteren Effekt geliefert.

Es gibt einen französischen Film aus den achtzigern, der dies Thema schon einmal sehr interessant behandelt hat. Auch den Film "Töte mich". Da gibt es schon große Vergleichsmaßstäbe. Aber warum sollte man sich davon abhalten, alles hat es schon gegeben...

Ich denke, jedes Motiv ist schon zigmal abgehandelt worden, deshalb orientiere ich mich nie an andern Vorlagen oder in welchen Formen analoger Stoff schon dargelegt wurde. Ich poche da energisch auf inhaltliche Eigenständigkeit meiner Darstellungen. Wenn jemand Vergleiche ziehen will, kann ich nur sagen: à la bonne heure!

das messer am hals soll ja überraschend kommen, aber hier kommt es absurd (und damit unglaubwürdig) schnell. vielleicht baust du eine leerzeile ein, um die vorangeschrittene zeit zu kennzeichnen oder baust noch einen kleinen übergang ein.

Hier kann ich deiner Interpretation absolut nicht folgen, da es eben keinen Bruch in der Wahrnehmung des Opfers gibt. Die Unmittelbarkeit des Geschehens ist hier ein tragendes Element, der Leser muss es abrupt mitfühlen, stehenden Fusses erwischt werden. Dies kann natürlich nur gelingen, wenn der Leser sich stilistisch nicht selbst einen Handlungswechsel aufzwingt, sondern es geschehen lässt.

Die drei weiteren Textänderungsvorschläge habe ich übernommen.

Für deine Auseinandersetzung mit der Geschichte und das kritische Hinterfragen des Ganzen, also kurz für Lob und Tadel, danke ich dir herzlich. Ich freute mich, diese Punkte nochmals zu bedenken.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

Ein guter, ein grausamer Text.
Da er so nah an der Wirklichkeit bleibt, kommt für mich das Grauen sehr gut rüber.
Teilweise blieb mir noch immer verborgen, was im Inneren sie so hetzte, aber das glaubhaft darzulegen, vermag wohl nur der Täter selbst.
Du bist dem Kern des Grauens damit recht nah gekommen.


Dieses Gefühl wird es mir erlauben, mich künftig vollwertig zu erleben, mehr zu sein als die meisten andern.
das klingt für mich etwas nach Fachbuch für Psychotherapie. Es würde nur passen, wenn sie schon Stunden hatte und mit einer solchen Aussage konfrontiert wurde.
Ach, bequemst du dich auch hierher. Du hast es ja nicht nötig, da du so gescheit bist. Oder was war es diesmal? Musstest du noch die Kühe auf die Weide treiben oder die Schweine füttern?»
Das sind zwei Aussagen, die sich für mich widersprechen. Entweder zieht die Lehrerin sie damit auf, dass sie sich zu klug fühlt, oder damit, dass sie eigenartige Ausreden erfindet.

Es waren jedoch meist Schwule und Strichjungen, die dort aufkreuzten, und die waren ihr zu gefährlich, da sie bewaffnet sein könnten
ich denke, hier ist konnten richtig

lg
Bernhard

 

Hallo Bernhard

Ein guter, ein grausamer Text.
Da er so nah an der Wirklichkeit bleibt, kommt für mich das Grauen sehr gut rüber.

Das freut mich sehr, dass es dich mit Grauen packte. :D Ich zweifelte beinah es zu schaffen, eine bluterstarrende Stimmung hervorzubringen. Selbst bin ich da etwas zimperlich, so stockt mir bei einem Film, in dem unerwartet etwas Erschreckendes passiert, schnell mal der Herzschlag.

Teilweise blieb mir noch immer verborgen, was im Inneren sie so hetzte, aber das glaubhaft darzulegen, vermag wohl nur der Täter selbst.

Auch wer es durchschaut und hässlich interpretiert, was skizzenhaft durchscheint, hat dann doch nur eine Aussensicht. Letztlich nachvollziehen, was es für sie selbst bedeutet und begleitet war von Kränkungen, kann, wie du richtig vermutest, letztlich nur die Täterin selbst.

Zitat:
Dieses Gefühl wird es mir erlauben, mich künftig vollwertig zu erleben, mehr zu sein als die meisten andern.

das klingt für mich etwas nach Fachbuch für Psychotherapie. Es würde nur passen, wenn sie schon Stunden hatte und mit einer solchen Aussage konfrontiert wurde.

In einem Fachbuch würdest du diese Aussage eher vergeblich suchen. Aber, dass sie in der Praxis als gesprochene Worte so oder ähnlich auftreten könnten, ist je nach Kontext nicht abwegig. Ich denke jedoch, dass die Prota. unabhängig davon zu solchen Gedanken in der Lage war. In der Antwort zum ersten Kommentar von Hanniball, der einen andern Gedanken von ihr hinterfragte, erwähnte ich: Es zeigt narzisstisch besetzte Emotionen, die die Prota. überkommen. Dies gilt auch hier. Ihr Leben war bestimmt von einer Art Ausnahmezustand, narzisstische Anteile halfen ihr dies durchzustehen und hatten nüchtern betrachtet, somit eine nützliche Funktion. Es sollte keineswegs den Eindruck nach klinischer Terminologie erwecken, was es meiner Meinung zwar nicht tut, aber ich werde mal darüber nachdenken, ob mir hierzu eine andere Darstellung für ihre Empfindung einfällt.

Zitat:
Ach, bequemst du dich auch hierher. Du hast es ja nicht nötig, da du so gescheit bist. Oder was war es diesmal? Musstest du noch die Kühe auf die Weide treiben oder die Schweine füttern?»

Das sind zwei Aussagen, die sich für mich widersprechen. Entweder zieht die Lehrerin sie damit auf, dass sie sich zu klug fühlt, oder damit, dass sie eigenartige Ausreden erfindet.

Es ist ein Albtraum, der ihre Empfindungen an diese Zeit fragmentarisch und symbolisiert wiedergibt. Auch wenn der Lehrer wohl eher nie derart grob zu ihr sprach, mag er doch einen zynischen Hang gehabt haben und sie vermisste seine Hilfe gegen erfahrene Ausgrenzungen. In ihrer Erinnerung war er also Doppelbödig. So beinhaltet das Wortspiel zwar vordergründig einen Widerspruch, der jedoch sinnbesetzt ist und diesen dadurch kompensiert. Man kann es dahingehend deuten: Der Pädagoge respektierte ihre schulische Leistung, diskriminierte sie aber da ihm an ihrer Eigenart oder ihrem Verhalten etwas missfiel.

ich denke, hier ist konnten richtig

Hm ja, so direkt gesehen, stimme ich dir zu.

Für die sorgfältige Auseinandersetzung mit der Geschichte, deine positive Einschätzung und deinen Kommentar danke ich dir herzlich. Meine Zwiespältigkeit, dieses Thema überhaupt aufgegriffen zu haben, verflüchtigt sich zusehends, da sich doch einiges an Zustimmung ansammelte.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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