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Die Brache am Bach
„Szía, Tamás bácsi“, ruft die Postbotin. Sie ist etwas jünger als ich, steht also kurz vor der Rente.
„Ah, Marikka néni!“, freue ich mich. Sie ist wirklich eine gute Seele. „Wieder mehr Werbung als was G’scheits?“
„Sieht ganz so aus – leider“, bedauert sie. Sie winkt noch mal, als sie über die kleine Brücke geht.
Der Bach trennt unser Grundstück von der Brache nebenan. Malerisch fließt er dahin unter dicken Weiden, ein Idyll wie auf einem Ölgemälde. Einen tollen Ausblick hat man von hier – Wälder, Felder und Seen bis zum Horizont.
Auch die Brache war uns willkommen.
Wir freuten uns über diese Wildnis, denn wo keine Nachbarn, dort keine Kinder, kein Radau, keine Techno-Musik – wohltuende Ruhe eben. Wir wollten dieses Stück Land kaufen, es gehörte der Gemeinde. Leider war Unternehmer Miklos schneller und wir hatten das Nachsehen.
Seitdem gefällt uns die Brache nicht mehr so gut. Schwere Transporter kippen ihre Ladung ab. Bauschutt. Doch verrät beißender Geruch, dass man sich hier auch heikler Dinge entledigt. Eine Anzeige wäre bedauernswerte Naivität; wir leben schon länger im Land.
Der Gedanke, neben einer wilden Deponie zu wohnen, ist nicht anheimelnd.
Beinahe täglich verändert sie sich, wie ein schneller Wechsel der Jahreszeiten. Grünüberwuchertes wird winterweiß durch zertrümmerte Kalksteine, herbstrot und bunt durch Terrazzoböden und Fassadenbruch. Dazwischen Betonplatten abgerissener Brücken, wild übereinandergetürmt mit Hohlräumen für Fuchs, Dachs und Co.
Bald darauf ruiniert Miklos auch den Bach. Genial deklariert als förderungswürdiger Katastrophenschutz lässt er, gedeckt durch seine Duzfreunde in der Verwaltung, das Bachbett begradigen und mit Betonplatten auskleiden. Jetzt fließt der Bach doppelt so schnell – im Wettlauf mit dem Geld aus Brüssel.
Ein paar der gigantischen Akazien, Erlen und Weiden auf der anderen Seite müssten dem neuen schnurgeraden Bachverlauf weichen, aber sie fällen alle. Einer der Bachretter ist Holzhändler.
Mitte Herbst wird es dann richtig laut. Ein Bulldozer planiert das Gelände, es scheppert und poltert. Nach zwei Tagen ist eine fast ebene Fläche entstanden. Wir erkennen unser Nachbargrundstück nicht wieder. Ein kahles Feld neben einem Betonkanal. Ein großes Plakat verkündet nun: ‚Eladó – for sale’.
Wir haben kein Interesse mehr.
An einem verhangenen Novembertag gehe ich mit dem Hund an der Brache entlang. Am Vortag ist schon etwas Schnee gefallen und der mildert den tristen Anblick. Neben mir knirschen Reifen. Ah, das neue Modell von Range Rover. Hätte ich hier nicht erwartet.
„Tach, junger Mann“, sagt ein fülliges Gesicht mit Vollbart, „ist das Ormandi utca 12?“ Nach einem Hustenanfall fügt er einlenkend hinzu: „Steht ja nichts dran“ und raunzt seine Begleiterin an: „Tausendmal hab ich dir schon gesagt, du sollst im Auto nicht rauchen!“
Ungeachtet dessen verbessere ich ihn: „Mit dem ‚jungen Mann’ vertun Sie sich bisschen, aber die Adresse stimmt.“
„Okay. Dann woll’n wir mal.“
Danke sagt er nicht. Die dünne Frau mit Kajalaugen und Zigarillo steigt ebenfalls aus. Sie schaut an mir vorbei und beide gehen auf das Gelände.
- - -
Der Dezember ist ungewöhnlich mild. Das ‚Zu verkaufen’-Schild ist verschwunden und nebenan werden Gräben ausgebaggert, das Fundament gegossen, Rohre verlegt, ein Zaun errichtet. Oft fährt das Traumauto vor. Gehe ich zufällig mit dem Hund vorbei, nehmen die beiden von mir keine Kenntnis, höchstens dass er mal müde die Hand hebt, was ich durch leichtes Kopfnicken erwidere.
Nur einmal spricht er mich noch an: „Ich glaube, wir sind – oder wir werden Nachbarn. Dann sehen wir uns zur Einweihungsparty?“
Der hat ein Tempo drauf! Bin überrumpelt. „Eh ja, wenn Sie meinen – das geht ja recht zügig mit Ihrer Bauerei. Allerdings sehe ich die Betonplatte mit gemischten Gef...“ „Ach was“, unterbricht er mich, „alles bestes Material, Portlandzement vom Feinsten. Keller war gestern.“
„Nein, was ich sagen will, ist ...“
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen, das wird ein ganz großes Ding, mit Wellness, Infinity Pool und solchen Sachen.“
Ich behalte meine Bedenken wegen der Hohlräume für mich und sage zurückhaltend: „Wir bringen auch Brot und Salz mit.“ Aber das hört er nicht mehr, er hilft der dünnen Frau beim Entzünden ihres Zigarillos.
Bald schlägt das Wetter um und Väterchen Frost übernimmt das Kommando.
Wir feiern wundervolle weiße Weihnachten, sind zu Sylvester eingeladen und freuen uns auf den Frühling.
Der allerdings bringt mächtigen Baulärm mit sich. Sägen, Betonmischer, Presslufthämmer. Für Aggi und mich keine Katastrophe, es ist noch zu kalt, um sich draußen aufzuhalten.
Ab Mai wird es auf der Baustelle leiser, es sei denn, der athletische Zimmermann dreht sein Autoradio bis zum Anschlag auf, bei geöffneten Türen.
Die Dachdecker verrichten ihre schwierige Arbeit, das Haus bekommt Kuppeln und einen Wachtturm wie aus der Tudor-Zeit, mit Schießscharten. Aggi und ich beginnen mit den Gartenarbeiten.
Der Bau nimmt Monat für Monat monströsere Züge an. Marmorne Bäder werden eingebaut, Profi-Küche, Spielsalon, Heimkino, Grillstation, zwei Typen Sauna, Gästesuiten in der oberen Etage.
Nein, ich habe nicht spioniert – das alles hat mir der Bauherr beim zufälligen Überschneiden unserer Wege mit Genugtuung aufgezählt.
Mit scheinbarem Interesse höre ich zu. Höflich zu sein fällt mir nicht schwer – meine Einwände kämen sowieso zu spät.
Im August steckt eine goldumrandete Einladung zur ‚Housewarming-Party’ im Briefkasten.
Tja, da kommen wir wohl nicht drumherum. Erste Frage: Welche Garderobe? Mit deutscher Lässigkeit würden wir den Gastgeber verletzen. Bei großem Auftritt tragen die Ungarn Gala, also finde ich tatsächlich die letzte Krawatte. Aggi trägt Kostüm. Aber wir wollen eh nicht lange bleiben.
Viktor – jetzt wissen wir, wie der neue Nachbar mit Vornamen heißt – steht am Eingang, die Palinkaflasche in der Hand. Die dünne Frau hält den Eintretenden ein Tablett mit Gläsern entgegen und jeder wird erst einmal ‚angewärmt’. Das gönnerhafte Grinsen Viktors will nicht zum abwesenden Blick der schwarzen Augen an seiner Seite passen, nur die Grimassen derer, die harten Schnaps nicht mögen, lockern die Atmosphäre. Im Hausinneren dagegen sorgen fünf Musikanten für heiteres Klima; zwei Geigen, Bass, Zymbal und Gitarre vollbringen Wunderbares. ‚Schwarze Augen’, ‚Heiße Küsse’, ‚Ein zerbrochenes Herz’, ‚Komm mit nach Varasdin, solange noch die Rosen blühn’. Diese Musik, ein großzügig eingeschenkter Palinka im Bauch – mir ist nach Tanzen zumute.
Aggi leider nicht.
Es ist wohl der Pomp, der sie erschlägt. Zu viel Gold, orientalische Bögen, Bordüren, Kapitellchen, weiße Säulen. Beide Kamine sind befeuert, was im August unüblich, aber beeindruckend ist.
Wir staunen über die Menge geladener Gäste – das könnten gut und gerne hundert sein. „Hundertfünfzig“, sagt Aggi. Na, wenn schon. Eine ungarische Feier unter hundert Personen ist ohnehin eine Peinlichkeit.
Die letzten haben ins Haus gefunden. Viktor setzt ein anderes Gesicht auf, angelt sich das Mikrofon und heißt uns alle willkommen. Ein guter Redner ist er, obschon von einem ‚bescheidenen Haus’ zu sprechen ein Raunen hervorruft.
Der Primas unterstreicht jeden markanten Satz des Gastgebers mit einem Tusch – wir fühlen uns an Karneval erinnert. Doch wir sind um neutrale Gesichter bemüht.
Viktor spricht und spricht. Vor dem Büffet im Salon würde er seinen lieben Gästen gern noch schnell das Haus zeigen. Er geht schon voran und eine unendlich lange Schlange folgt ihm. Ich umfasse die immer noch vorhandene Taille meiner Frau und wir schaudern gemeinsam beim Anblick der gigantischen Gestecke aus Kunstblumen und ihren echten Vorbildern. Solche pompösen Vasen in Silber und Gold haben wir allerdings noch nie gesehen. Im Schwimmbad wechselt die Unterwasserbeleuchtung fortwährend zwischen Blau, Grün und Rot.
Wir staunen über barocke Stuckdecken, reich geschmückte Kamine, Kronleuchter und Lüster.
Die Karawane der Geladenen zieht in die Beletage; Rufe, eher Schreie der Bewunderung hallen durch die ausgedehnten Räumlichkeiten.
Wir haben schon manche Schlossbesichtigung hinter uns gebracht, doch was hier an skurrilen Möbeln, Gardinen und Vorhängen zur Schau gestellt wird, strapaziert unser Aufnahmevermögen. Aggi schaut mich an. Ich habe verstanden, es reicht.
Aber das Büffet? Wenigstens anschauen.
Uns gehen tatsächlich die Augen über. Wir sollten zumindest probieren. Ich nehme von Wildschweinspastete und Hirschschinken, meine Frau Zander in Krebsgelee. Viktors schwere Hand legt sich auf meine Schulter. Er habe die Sachen von Budapest kommen lassen, hier in der Provinz könnten sie nur Krautwickel und gebackene Leber, unzumutbar für einen solchen Anlass. Und wir sollten noch Wein haben! Ist die beste Cuvée seiner Kellerei in Villany – für heute gerade richtig.
Wir finden Wortes des Lobes und des Dankes, der Primas feuert seine Mannen an und es wird getanzt auf Teufel komm raus. Die Musiker geben sich alle Mühe, den Gästen kräftig einzuheizen.
Dann unterbricht der Hausherr das wilde Tanzen mit heftigen Armbewegungen. Ja, was er noch sagen wollte: Primas Jancsi spielt noch eine Mazurka und dann bittet er die verehrten Anwesenden vors Haus wegen des Feuerwerks. Die Gäste sind begeistert, applaudieren, die Damen stoßen spitze Schreie aus. Dann wirbeln alle wieder durcheinander und werden immer ausgelassener.
Na gut, schauen wir uns das Feuerwerk noch an. Ist ja auch höflicher, noch etwas zu bleiben. Ich umfasse meine Frau wie in alten Zeiten und wir schwofen und stampfen zur Mazurka mit den Füßen, im Rhythmus mit den anderen. So erleben wir einen ganz vergnüglichen Abend, an einigen Stellen können wir sogar mitsingen. Plötzlich rieselt feiner Schnee von der Decke, sehr schön im hellen Licht. Ein Gag des Hausherrn? Alle sehen ihn erwartungsvoll an, doch der schaut mit offenem Mund nach oben. Ein hohes sirrendes Geräusch kommt auf, schwillt an bis zur Unerträglichkeit und dann erschüttert ein gigantischer Knall das ganze Haus. Explosion? Erdbeben? Wir sind betäubt, versuchen das Gleichgewicht zu halten. Überall steigen Staubsäulen auf, Stuckteile fallen auf die Köpfe. Wie hypnotisiert starren alle auf den riesigen Kronleuchter. Der Strahl einer gebrochenen Wasserleitung lässt dessen tausend Kristalle wie einen Regenbogen erstrahlen. Im Mazurka-Takt sackt er Meter für Meter nach unten, verliert dann vollends den Halt, kracht auf das Parkett und dreht sich in einer Wolke glitzernder Splitter einmal um die eigene Achse.
Mitten durch das Haus hat sich ein breiter Riss gebildet. Beide Haushälften haben Schieflage. Wie bei einem Schiffsunglück versuchen die Gäste hektisch, den Havaristen zu verlassen. Die Prunktreppe ist nicht mehr breit genug, dafür ist sie jetzt steiler. Als Fluchtweg nicht zu gebrauchen. Alles ist schräg – Boden, Wände, Decke.
Aus einem Kamin schlittern glühende Bohlen über die Tanzfläche und setzen die Vorhänge in Brand. Schnell brennt die ganze Fensterfront, die dicken, wertvollen Gewebe sind ergiebiges Flammenfutter. Durch die große Hitze bersten die Scheiben, es klingt wie Schüsse und steigert die Panik. Die zwischen den Fenstern stehenden Polstermöbel beginnen zu glühen und brennen bald lichterloh. Wie durch göttliche Fügung dient das Riesenloch, das der abstürzende Kronleuchter in die Decke gerissen hat, als exzellenter Rauchabzug, zumal der Tudor-Wachturm darüber wie ein Schlot wirkt. Vielleicht wären wir alle ohne diesen Trick der Vorsehung an Rauchvergiftung zugrunde gegangen.
Während auf der Beletage die Sirenen der Alarmanlage losheulen, strömt das Wasser aus den Sprinklern auf die schockierten Gäste.
„Ein Feuerwerk braucht es nicht mehr“, sage ich zu meiner Frau und streife ihr schützend mein Jacket über den Kopf. Doch das ist schon so patschnass wie ihre Frisur. Dann soll es wenigstens eine ritterliche Geste sein.
Viktor ist es gelungen, die Sprinkleranlage abzustellen. Unter anderen Vorzeichen, vielleicht bei einer Bademodenschau, wäre das im August ein Ulk gewesen. Heute Abend sehen es die Gäste anders. Fluchend und beleidigende Worte hinterlassend, quetschen sie sich über die schmale Kellertreppe ins Freie. Was dieser reiche Fatzke sich einbildet. Baut einen Palast aus Pappmaché. Da wären sie besser zu Hause geblieben.
Inzwischen ist alles Brennbare zu Asche geworden, die Hälfte der Gäste hat es schon nach draußen geschafft.
Auf unerklärliche Weise kehrt im Haus eine neue Normalität ein. Es hat keinen Zweck, sich am Notausgang zu drängeln, wenn das Buffet trotz Wasserschäden noch manche Leckerei bereithält. An den schrägen Boden hat man sich schnell gewöhnt, und nicht alles ist vom Tisch gerutscht.
Ich schau noch mal nach dem Hirschschinken, der war sehr gut, für Aggi ergattere ich Gänseleber in Blätterteig. Den aufgeweichten Teig ignorieren wir, die Gänseleber ist köstlich.
Einen Schluck Wein sollten wir noch haben. Ich geh zum großen Fass mit Viktors Initialien. Er steht daneben, in einer Hand das Glas, in der anderen den Revolver. Viktor prostet mir zu, stürzt den Wein hinunter und drückt ab – eine Sekunde, bevor ich ihm in den Arm fallen konnte. Die Kugel fliegt ihm durch beide Ohren, prallt auf Granit und durchschlägt mir die Zähne.
Meine Beine knicken ein, ich schmecke Metall und warmes Blut. Das Licht lässt nach. Die dünne Frau beugt sich über mich. Ihre Augen sind noch schwärzer geworden. Und sie werden immer größer.
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Heute habe ich mein erstes Steak gegessen. Nicht das erste Steak meines Lebens, sonders mein erstes mit den neuen Zähnen, meinen vierten sozusagen. Der Tatort gegenüber liegt im Sonnenglast und es ist himmlisch still.
Nach Viktors Tod wurde der Palast geplündert. Nicht von dunklen Gestalten bei Nacht und Nebel, sondern nach Miklos’ Masterplan. Er hatte es geschafft, das verunglückte Prachtgebäude in seinen Besitz zu bringen und alles perfekt organisiert: ausreichend Paletten und Container, genügend billige Arbeiter mit dem etwas dunkleren Teint. Dann wurde alles abtransportiert, beginnend bei den Keramikschindeln und Dachrinnen über Türen, Treppen und Badewannen, bis zur letzten Schraube. Den Transport der vergoldeten Armaturen hatte er, glaube ich, selbst übernommen.
Sein Jaguar stand am Weg, als ich mit dem Hund vorbeiging. Aus dem Fensterspalt tänzelten blaue Spiralen und Bänder. Ein Blitz fuhr durch meinen Kopf: Das sind die Zigarillos! Unverkennbar. Sehen konnte ich leider nichts, die Scheiben waren abgedunkelt. Aber ich tat so und habe ihr zugewinkt.
Das aus dem Lot gekippte Mauerwerk wurde mit dem bewährten Bulldozer übers Gelände verteilt und wir hätten uns nicht gewundert, wenn abermals ein Schild darauf hinwiese, dass hier ein schöner Bauplatz zum Verkauf ansteht. Der Blick ins Land ist grandios.
Die Spaziergänge mit dem Hund sind weniger geworden. Er hat’s wie ich mit der Hüfte. Ich habe einen Steg gebaut, die Brache genügt uns als neues Revier.
Von der alten Geschichte ist nichts mehr zu sehen. Alles grünt, sprießt und gedeiht.
Die letzten Sommer waren heiß, die Gluthitze lud sich oft zu Gewittern auf und es gab den notwendigen Regen.
So entstand ein ausgedehntes Akazienwäldchen, in dem wir gern unsere Runden drehen.
Besonders zur Blütezeit. Da duftet es nach Honig.