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Die Blüten des jungen Poeten
„Was zieht dich an der Bühne so an?“
Sie standen etwas abseits eines Holzpodests; umgeben von im Halbkreis aufgestellten Stühlen. Hendriks Blick hing kurz an dem Mikrofon, dann schaute er wieder Luisa an und antwortete: „In der Kunst ist alles möglich, dir sind keine Grenzen auferlegt. Ich liebe diese Freiheit.“
„Hast du nicht manchmal Angst, dass das alles nur Show ist?“
Hendrik fiel Luisas Tonfall auf, distanziert, vorsichtig und doch interessiert.
„Die Show ist eine Sache. Deswegen mache ich es nicht.“
„Warum dann?“
„Wegen meines Opas. Hat mir damals Rilke vorgetragen, konnte nicht genug bekommen; als er starb, vermachte er mir seine Bücher. Ich hab dann selbst Texte geschrieben und eine Freundin hat mich zum ersten Slam mitgenommen. Und ich hab mich mit ihm verbunden gefühlt. So war das.“
„Rilke?“, fragte sie.
Er antwortete lachend: „War ein Dichter und ich sag dir, seine Lyrik ist wunderschön, berührend und magisch.“
An ihnen gingen einige Jugendliche mit Cocktailgläsern vorbei. Hendrik schwieg und schaute Luisa an; ihr ovales Gesicht und die kleinen blau-grünen Augen zogen ihn an.
„Hast du es dir überlegt?“, fragte er nach einer Weile.
Luisas Nasenflügel bebten, als sie antwortete: „Ich kann nicht. Es ist alles viel komplizierter, als ich bisher zugegeben hab.“
„Willst du es mir sagen? Du weißt, wie ich empfinde.“
„Ich hab schon auch Gefühle für dich. Es ist nur, mein Ex … ich …“
„Alles okay?“, fragte er besorgt, als sie anfing zu schluchzen. „Du weißt, dass ich für dich da bin. Hey, komm her.“
Hendrik wunderte es nicht, dass sie die Umarmung ablehnte; bislang schreckte sie vor jeglicher Berührung zurück.
„Es tut mir leid, ich … erinnerst du dich an die Rosen vom letzten Mal?“, fragte sie und Hendrik nickte.
Sie schien regelmäßiger zu atmen, sammelte sich und brachte hervor: „Ich hatte einen aggressiven Partner, in den guten Zeiten gab es immer Rosen. Habe Angst, erneut in einem Albtraum aufzuwachen. Du bist anders, aber ich kann nicht sofort lieben. Da ist diese Angst, ich kann das rational nicht sagen, immer denkt da eine Stimme: Was, wenn alte Wunden wieder aufgehn? Habe lange Therapie gebraucht, um wieder normal zu leben.“
„Er hat dich geschlagen?“
Sie schüttelte den Kopf: „Nein, so nicht. Er war ein Narzisst und hat mich manipuliert, mich von ihm abhängig gemacht. Es war die Hölle.“
„Was ist genau passiert?“
„Anfangs liebte ich jede Sekunde, er war mein größter Fan und hat mir zugehört. Aber in Wirklichkeit hat er nur meine Schwachstellen gesucht. Mein Problem war diese Unsicherheit, was meinen Körper angeht. Habe mich immer zu dick gefühlt, nicht attraktiv genug. Das hat er genutzt: Bekam ich erst noch Komplimente, machte er mich runter, wenn ich nicht seinem Bild entsprach. Er konnte nicht ertragen, wenn ich mehr Aufmerksamkeit bekam, erfolgreicher war. Als ich mich für ein Stipendium beworben hab, hat er der Organisation Lügen über mich erzählt. Am Ende wurde ich nicht genommen und er stritt alles ab, obwohl ich ihn auf frischer Tat ertappte. Das Ende der Beziehung war grausam.“
„Und jetzt hast du Angst, dass das wieder passieren könnte?“
„Versteh mich nicht falsch. Es ist nicht rational.“
Nach einer kurzen Pause sagte Hendrik: „Erinnerst du dich, wie ich dir von Rilke erzählt hab?“
Sie nickte.
„Mit siebzehn starb mein Onkel und ich hatte schlimme Angst vor Unfällen. Manchmal habe ich das heute noch. Das ist auch nicht rational. Was ich sagen will: Ich kann dich verstehen. Es gibt Wunden, die heilen nie ganz.“ Hendrik fühlte den alten Schmerz hochkommen: Immer wenn er daran dachte, wurde alles eng in ihm und seine Bewegungen beschleunigten sich unnatürlich. Auch jetzt fuhr er sich mehrfach durch die Haare.
„Weißt du, was mein Opa damals gemacht hat, um mir zu helfen?“
Luisa schüttelte den Kopf, schaute ihn jedoch aufmerksam an.
„Opa hat mir in all dem Schmerz ein Rilke Gedicht vorgelesen; ich trage das bis heute in mir. Willst du es hören?“
„Gern.“
„Findest du das nicht peinlich?“, fragte Hendrik und senkte seine Stimme.
„Nein, nein. Ich will hören, was er gesagt hat. Vielleicht hilft es ja auch mir.“
Hendrik nickte und atmete tief ein. Seine Stimme war ein leises, aber eindringliches Flüstern, als er rezitierte:
„Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen,
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.“
Luisa war ruhiger geworden, als sie sagte: „Es ist wunderschön, aber wie hat dir das geholfen? Es ist doch nur ein Gedicht.“
Hendrik antwortete: „Ich hab als kleiner Junge gedacht, dass alles verloren sei und das Gedicht hat mich an zwei Dinge erinnert: Das Leben findet in der Gegenwart statt und ich darf darauf vertrauen. Luisa, nicht alle Männer sind so wie dein Ex. Versprochen.“
„Ich habe Angst. Ich brauche Zeit.“
„Ich bin für dich da, egal wie lang du brauchst.“
Er legte seine Hand in ihre und sie ließ es geschehen.
- Quellenangaben
- http://rainer-maria-rilke.de/020015daslebenverstehen.html